1 000 Jahre christlich-jüdische Stadtgeschichte
In den dunklen Jahren der NS-Terrorherrschaft wurden im Holocaust sechs Millionen Juden systematisch verfolgt und brutal ermordet, ihre Synagogen niedergebrannt und ihre Gräber geschändet. So ist es ein Glücksfall, dass in Worms der älteste jüdische Friedhof in Europa bis heute überlebte. Und vom sogenannten Martin-Buber-Blick auf dem früheren Stadtwall inmitten des Friedhofs sieht man nicht nur mittelalterliche Grabsteine, sondern auch den Dom St. Peter: 1000 Jahre gemeinsame jüdisch-christliche Geschichte! Seit 2021 gehört der jüdische Friedhof ‚Heiliger Sand‘ zum UNESCO-Welterbe. Der älteste Grabstein auf dem jüdischen Friedhof stammt von 1058, der Dom St. Peter wurde in den Jahren 1130 bis 1181 auf dem Platz einer Kathedrale von 1018 errichtet. Bei einem Spaziergang über den jüdischen Friedhof zum Dom wird Geschichte lebendig, in ihren frohen und bedrückenden Facetten. Nicht weit entfernt erinnert das Lutherdenkmal an den Reichstag in Worms 1521, auf dem sich der Reformator weigerte, seine Schriften zu widerrufen: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen.“ So endete Martin Luther mit einem Wort, das Juden, Christen und Muslime verbindet: Amen!
Zwischen Ablehnung und kultureller Annäherung
Jüdische Friedhöfe sind wie ein Buch, indem man durch die Geschichte blättern kann: Gräber werden nicht – wie zumeist auf christlichen Friedhöfen – nach bestimmten Liegezeiten aufgelöst, sondern sollen bis zum Jüngsten Tag erhalten bleiben. Nach dem schmiedeeisernen Eingangstor passiert man auf dem Heiligen Sand eine steinerne Tafel, die das Gebet ‚Kaddisch‘ zeigt, das Leichenwaschhaus – Beit Tahara – und den runden Steinbrunnen, an dem die Gläubigen nach dem Besuch des Friedhofs die Hände waschen. Dann fällt der Blick auf zwei Grabsteine aus dem 13. Jahrhundert. Die abgelegten Zettel und Steine machen auf deren Bedeutung aufmerksam. Hier liegen der Rabbiner Meir von Rothenburg und Alexander ben Salomon Wimpfen. Rabbiner Meir war einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit und trägt auch den Namen MaHaRaM. In der Regierungszeit von König Rudolf von Habsburg wollte er ins Heilige Land auswandern, da sich die Situation für Juden deutlich verschlechtert hatte. Er wurde im Alpenraum erkannt und eingekerkert, um von den jüdischen Gemeinden ein hohes Lösegeld zu erpressen. Rabbi Meir lehnte dies ab und starb 1293 in Gefangenschaft. „Erst 1307 – also 14 Jahre später – gelang es dem in Frankfurt lebenden Kaufmann Alexander ben Salomon von Wimpfen, die Überreste von Meir für mehr als 20.000 Mark Silber auszulösen“, so der Text im überaus empfehlenswerten Audioguide, der unter ‚SchUM-Stätten‘ heruntergeladen werden kann. Salomon wünschte sich, neben dem berühmten Gelehrten beerdigt zu werden, und seine Bitte wurde erfüllt.
Auf dem Heiligen Sand sind die Gräber gen Süden ausgerichtet, was eine Besonderheit ist, denn im Regelfall ist die Orientierung auf jüdischen Friedhöfen in Richtung Jerusalem – also nach Osten. Eine eindeutige Erklärung gibt es hierzu nicht, nur eine Legende, die erzählt, die ersten jüdischen Bewohner Worms wären aus Italien zugezogen. Auch die Herkunft des Namens ‚Heiliger Sand‘ ist nicht eindeutig belegt: Die Fläche, die der Bischof den Juden überließ, war zuvor eine Sandgrube gewesen, doch es gibt auch Quellen, die betonen, jüdische Gläubige hätten Sand aus Jerusalem heranschaffen lassen, um zumindest indirekt im Boden der heiligen Stadt beerdigt werden zu können. Gehen wir den Weg weiter und einige Stufen nach oben, erreichen wir den neueren Teil des jüdischen Friedhofs. Die Hälfte der 2 500 Grabsteine auf dem Heiligen Sand steht im neueren Teil. Die Grabmale ähneln hier äußerlich stark christlichen Grabsteinen. „Ein wichtiger Indikator für die … Veränderungen im Selbstverständnis der jüdischen Wormser ist der um die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz allmählich einsetzende Beginn der Durchsetzung deutschsprachiger Grabsteininschriften neben bzw. zunächst vor allem zusätzlich zu den hebräischen auf dem oberen (neueren) Teil des alten Judenfriedhofs“, so Gerold Bönnen in seinen ‚Anmerkungen zum politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs- und Akkulturationsprozess der Wormser Juden (1816 bis 1865)‘, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf der Internetseite des Jüdischen Museums Worms finden.
Der Martin-Buber-Blick
Folgen wir dem Weg auf dem früheren Stadtwall nach links, haben wir einen eindrucksvollen Blick über weite Teile des jüdischen Friedhofs und sehen den christlichen Dom St. Peter. Der sogenannte Martin-Buber-Blick schafft eine Verbindung zwischen den jüdischen und christlichen Wurzeln der Stadt Worms, man kann auch sagen, das christlich-jüdische Abendland wird zum Gesamtbild. Dieser Satz soll nicht von der Verfolgung der Juden auf deutschem Boden in unterschiedlichen Jahrhunderten – der Pogrome während der Pest und der Kreuzzüge – oder gar der Shoah ablenken, doch es ist überaus bedeutsam, auch die langen und intensiven Perioden des jüdisch-christlichen Zusammenlebens hervorzuheben. Was wäre die deutsche und europäische Kultur ohne die jüdischen und christlichen Impulse? „Die Monumente und Grabsteine in Speyer, Worms und Mainz erzählen in einzigartiger Dichte von der tiefen Verwurzelung der Jüdinnen und Juden in unserem Land, vom Aufblühen ihrer Kultur, von Selbstbehauptung und Emanzipation, von Zeiten des friedlichen Zusammenlebens mit der christlichen Mehrheit“, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Entgegennahme der UNESCO-Urkunde im Februar 2023. „Aber eben nicht nur das. Sie erzählen auch von Antisemitismus und Judenhass, von Zerstörung und Verfolgung, bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoah. Und sie erzählen vom großen Mut zum Neubeginn, den Jüdinnen und Juden in Deutschland immer wieder aufbrachten, allen Rückschlägen und Enttäuschungen, allem Schmerz und allem Leid zum Trotz.“
„Ich habe, wie einst Martin Buber, über die Grabsteine hinweg auf den Dom geblickt und mir staunend bewusst gemacht, dass Worms im Mittelalter beides zugleich war: Bischofsstadt und das ‚Jerusalem am Rhein‘“, betonte Bundespräsident Steinmeier. Ja, dieser Blick verdeutlicht mehr als tausend Worte die Nähe zwischen Juden und Christen, die immer wieder von antisemitischen Gruppierungen in Frage gestellt wurde und wird. Martin Buber, 1878 in Wien geboren und 1965 in Jerusalem verstorben, gilt bis heute als der bedeutendste Denker und Schriftsteller der deutsch-jüdischen Kultur. Er brachte die jüdische Kultur christlichen Kreisen näher, ohne Gegensätzlichkeiten beiseitezuschieben. „Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen“, so Buber in einem Gespräch mit Karl Ludwig Schmidt am 14. Januar 1933 in Stuttgart. Und er fuhr fort: „Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels.“
Der Dom – von Um- und Neubauten
Folgen wir dem Martin-Buber-Blick und gehen zum Dom St. Peter, der trotz einer protestantischen Bevölkerungsmehrheit in Worms katholisch geblieben ist. Kirchenbauten gehen an diesem auf einer Erhöhung über der Rheinebene liegenden Ort bis ins 7. Jahrhundert zurück. Karl der Große residierte immer wieder in seiner Wormser Pfalz und heiratete im Dom seine Frau Fastrada. Im Jahr 1048 wurde Bischof Bruno von Toul als Leo IX. in Worms zum Papst gewählt. „Nahezu sämtliche Kaiser des ‚Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation‘ weilten im Mittelalter ein oder sogar mehrere Male in der ‚Freien und Reichsstadt‘ Worms“, schreibt Irene Spille in ihrem lesenswerten Büchlein ‚Dom St. Peter‘. 1521 versammelte sich der Reichstag unter Kaiser Karl V., um auch über das Werk von Martin Luther zu verhandeln. Kaum einem der Anwesenden dürfte die Tragweite der Diskussionen und der Entscheidung, die Reichsacht über den damaligen Mönch zu verhängen, bewusst gewesen sein. Statt einer inneren Veränderung und Neuorientierung der Kirche kam es im Gefolge zu einer Aufspaltung in die katholische und mehrere protestantische Kirchen. Ein Gang vom imposanten Dom zum geschichtsträchtigen Martin Luther Denkmal bietet sich an. „Seinen Glanz als eine der deutschen Metropolen des Mittelalters konnte Worms nicht in die Neuzeit übernehmen“, so Irene Spille. Davon zeugen nicht nur das Umfeld des Doms, sondern auch weite Teile der Innenstadt.
Bischof Burchard I. von Worms ließ auf dem früheren römischen Forum und christlichen Vorgängerbauten einen neuen Dom errichten, den er 1018 weihte. Nicht nur der Untergrund bereitete Probleme, so dass ein neuer Dom bis 1181 in die Höhe wuchs. Es folgten immer wieder bauliche Veränderungen, und während des Pfälzischen Erbfolgekriegs brannte der Dom 1689 aus. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts wurde u. a. der baufällige Westchor abgebrochen und – weitgehend mit vorhandenen Steinen – erneut aufgebaut. Im Zweiten Weltkrieg brannte das Langhausdach nach Treffern mit Brandbomben ab. Der Dom hat viel erlebt und sich stetig verändert, doch seine Grundstruktur hat fast den gleichen Zeitraum überdauert wie der jüdische Friedhof ganz in der Nähe. Vom Heiligen Sand aus öffnet sich im Grunde auch der einzige relativ freie Blick auf den Dom – Martin-Buber-Blick -, da er ansonsten von mehr oder weniger passenden Bauwerken verdeckt oder eingezwängt wird. Der südliche Domplatz war im Übrigen noch im 18. Jahrhundert der Friedhof für die Pfarrgemeinde, woran heute einige Sarkophage erinnern. An diesem Beispiel lässt sich auch die unterschiedliche Begräbniskultur von Juden und Christen erkennen, denn kein Jude käme auf die Idee, einen Friedhof abzuräumen. Bereits in meinen ersten Zeilen habe ich unterstrichen, dass der Erhalt des Heiligen Sand ein Glücksfall ist: Zwar gab es Pläne der Nationalsozialisten, den jüdischen Friedhof zu überbauen, doch diese kamen nicht mehr zum Zug. Der Untergang des NS-Regimes war nicht nur für den Heiligen Sand ein Glück, sondern für uns alle – egal welcher Religion wir angehören.
Geschichte spricht zu uns
Ein Jahrtausend jüdischer und christlicher Geschichte – einschließlich der Kirchenspaltung – wird in Worms auf engstem Raum erlebbar, die Gemeinsamkeiten der Menschen lassen sich erspüren, und auch die Versuche der Nationalsozialisten, das jüdische Leben auszulöschen. Lassen wir nochmals Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Wort kommen: „Wie nah Licht und Schatten beieinanderlagen, daran erinnert das Ensemble der SchUM-Stätten wie kaum ein anderer Ort. Die Monumente und Grabsteine in Speyer, Worms und Mainz erzählen in einzigartiger Dichte von der tiefen Verwurzelung der Jüdinnen und Juden in unserem Land, vom Aufblühen ihrer Kultur, von Selbstbehauptung und Emanzipation, von Zeiten des friedlichen Zusammenlebens mit der christlichen Mehrheit. Aber eben nicht nur das. Sie erzählen auch von Antisemitismus und Judenhass, von Zerstörung und Verfolgung, bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoah. Und sie erzählen vom großen Mut zum Neubeginn, den Jüdinnen und Juden in Deutschland immer wieder aufbrachten, allen Rückschlägen und Enttäuschungen, allem Schmerz und allem Leid zum Trotz.“
Der jüdische Friedhof Heiliger Sand, der Dom St. Peter und das Lutherdenkmal sind nicht nur für Geschichtsinteressierte einen Besuch wert. Ob man sich in eine Kirchenbank setzt, am Denkmal verweilt oder auf dem jüdischen Friedhof innehält – die Menschen vergangener Zeiten lassen uns an ihrem Wirken teilhaben, die Geschichte spricht zu uns. Geschichte ist so nicht nur Erinnerung, sondern auch eine Orientierungshilfe für die Zukunft.
Zum Beitragsbild:
Der Martin-Buber-Blick verbindet mit jüdischem Friedhof und christlichem Dom eine gemeinsame jüdische und christliche Geschichte über ein Jahrtausend. Gewidmet ist diese Aussicht dem berühmtesten jüdisch-deutschen Philosophen und Autor Martin Buber. Zum Glück für uns alle setzte sich nicht das von den Nationalsozialisten propagierte ‚tausendjährige Reich‘ durch, sondern trotz der nationalsozialistischen Verbrechen, der Ermordung von sechs Millionen Juden, überlebte die jüdisch-christliche Kultur in Deutschland. (Bild: Ulsamer)