Superspreader-Events konsequenter verhindern
Langsam aber sicher gehen mir viele unserer politischen Entscheidungsträger in Bund und Ländern wirklich auf den Keks mit ihren allgemeinen Ratschlägen zur Eindämmung von Covid-19. Um gleich Missverständnissen vorzubeugen: Ich halte die Corona-Pandemie für eine echte Bedrohung, aber immer häufiger habe ich den Eindruck, dass unsere Politiker nicht zur Problemlösung beitragen, sondern Tag für Tag immer mehr selbst zum Problem werden. Abstand halten, Hände waschen, fleißig lüften, das ist vermutlich alles richtig, aber in einem ‚schwäbischen Haushalt‘ nicht ganz neu. Und auch in anderen Regionen unseres Landes habe ich immer erlebt, dass dies keine neuen Gepflogenheiten in unserer Kultur sind! Einen Mund-Nasen-Schutz trage ich ebenfalls, obwohl die Bundeskanzlerin einen solchen vor nicht allzu langer Zeit noch für eine Virenschleuder hielt. Aber brauchen wir für diese ‚Ratschläge‘ einen Bundespräsidenten, eine Bundeskanzlerin, Hundertschaften an Ministern, Staatssekretären und Divisionen an nachgeordneten Beamten? Und was soll ich mit der Anweisung, von Ratschlag möchte ich gar nicht sprechen, die sozialen Kontakte zu halbieren? Diese haben wir bereits – wie viele Mitbürger – zurückgefahren, und meine Frau möchte ich im gemeinsamen Haushalt doch ganz gerne noch treffen! Politiker sollten Ross und Reiter nennen, wenn es um Zeitgenossen geht, die für die Corona-Hotspots verantwortlich sind und nicht ständig weinerlich bis aggressiv die Mehrheit der Bürger belämmern, die sich brav an die Restriktionen hält!

Mehr Klarheit erforderlich
Himmeldonnerwetter! Ja, dies wollte ich gerne dem baden-württembergischen Sozialminister Manfred Lucha entgegenschleudern, als er uns alle im SWR aufforderte, uns zurückzunehmen und „um mindestens die Hälfte unsere Sozialkontakte zu reduzieren.“ Kann er uns da gemeint haben? Wir gehen auf keine Partys, interessante Vortragsveranstaltungen sind in weite Ferne gerückt, anregende Museumsbesuche haben wir gestrichen und schweren Herzens sehen wir unsere Kinder und deren Familien nur noch selten. Wo sollen wir bitte schön unsere Sozialkontakte um die Hälfte reduzieren? Wo soll dies die 90jährige Dame im Senioren- oder gar Pflegeheim tun? Es wäre an der Zeit, gegen diejenigen Grüppchen vorzugehen, die durch ihr Verhalten ganze Regionen gefährden! Da sind es mal ‚Feiernde‘ mit reichlich Alkohol im öffentlichen Raum, Hochzeiten unserer türkischen Mitbürger oder Treffen von Gläubigen in Freikirchen, an denen gleich 500 oder 800 Personen teilnehmen. Es ist schwierig, eingelebte Gewohnheiten auch mal zu überwinden, doch es wird uns allen nichts anderes übrigbleiben. Wenn in Berlin ganze Stadtteile über explodierende Covid-19-Zahlen klagen, dann ist daran sicherlich nicht das Rentnerehepaar mitschuldig, das leider zum Tafelladen gehen muss, weil die Rente nicht ausreicht. Als Soziologe bin ich der Meinung, dass die sozialen Milieus klarer herausgearbeitet werden können und müssen, die maßgeblich zur Verbreitung des Coronavirus beitragen. Wenn dies weiter nicht geschieht, kann es jeden von uns erwischen, denn das Virus wäre dann nicht mehr eingrenzbar.

„Ich bitte Sie, verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend ist“, betonte Angela Merkel. Und die Bundeskanzlerin fuhr fort: „Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause an ihrem Wohnort.“ Merkels schon drohender Wink mit der Zaunlatte wäre natürlich glaubhafter gewesen, wenn Gouvernante Angela nicht alle Ministerpräsidenten mit Gefolge nach Berlin zum Rapport bestellt hätte. Da wurde acht Stunden getagt und im Grunde nichts Neues beschlossen. Warum können unsere Politiker nicht auch auf Reisen verzichten, wenn sie uns dies ans Herz legen? Videokonferenzen und Homeoffice sind wohl nur Tipps für uns Normalos. Die außerhalb des Deutschen Bundestags beschlossenen Verordnungen haben ohnehin eine kurze Verfallszeit. So das Beherbergungsverbot, das von den Gerichten umgehend wieder einkassiert wurde. Dies war übrigens kein Einzelfall! Rätselhaft ist mir auch das Festhalten der CDU an einem Parteitag in Stuttgart, an dem sage und schreibe 1001 Delegierte teilnehmen sollen. Gilt die Zurückhaltung bei Reisen, die die Ex-CDU-Bundesvorsitzende Merkel fordert, nicht für ihre Parteifreunde? Langsam aber sicher rutschen wir bei den Corona-Restriktionen in eine Bananenrepublik ab, wenn sich die Politik selbst nicht an ihre eigenen Vorgaben und Empfehlungen hält. Und auch der an Covid-19 erkrankte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn scheint sich nicht an alle seine eigenen Ratschläge gehalten zu haben oder sind diese zu nichts nütze?

Der Bundestag muss Debatten führen
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder erschien zu Beginn der Corona-Pandemie noch als Vorkämpfer gegen Covid-19, der schnell und sachgerecht handelt. Nun gut, es kam auch zu skurrilen Vorgaben: so war es selbst Einzelpersonen verboten, auf einer Parkbank ein Buch zu lesen. Aber generell gingen die Bayern zielstrebig vor, doch nach Corona-Spitzenwerten in Garmisch-Partenkirchen und Berchtesgaden meinte Söder: „Ich glaube, dass der Föderalismus zunehmend an seine Grenze stößt“. Da kann ich nun wirklich nicht folgen: Sollte denn unser Spezialist fürs Hände waschen, Jens Spahn, in Berlin besser wissen, wie die anschwellenden Virusinfektionen in bayerischen Kommunen gestoppt werden können, als die Politiker und Verwaltungsmitarbeiter vor Ort? Sollte dies so sein, dann können wir den Föderalismus auch gleich zu Grabe tragen – aber natürlich im kleinen Kreis! Möchte Söder die miesen Corona-Zahlen gerne den Berliner Kollegen anlasten oder schon mal zentralistische Strukturen stärken, für den Fall, dass er doch noch als Bundeskanzler in Berlin landen sollte? Auch in Berchtesgaden scheint kein Seniorenkreis oder Schülertreff Ausgangspunkt der steigenden Zahlen gewesen zu sein, sondern eine Shisha-Bar, in der sich 100 Besucher drängelten. Es wäre an der Zeit, nachhaltiger gegen Menschenansammlungen vorzugehen, die über das vertretbare Maß hinausgehen. Ansonsten steigt rapide die Gefahr, dass Corona auch denjenigen Bürger trifft, der seine sozialen Kontakte eingeschränkt hat. Irgendwann muss ja jeder mal raus, notfalls um Klopapier zu horten!
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kann ich nur Recht geben, wenn er eine Rückkehr der Corona-Diskussionen und Entscheidungen in den Bundestag einfordert: Das von Merkel geliebte Küchenkabinett, gerne auch mal mit den Ministerpräsidenten, kann nicht dauerhaft als Entscheidungsträger agieren. Ansonsten müsste man sich doch fragen, warum wir uns einen XXL-Bundestag, das kopfstärkste gewählte Parlament der Welt, und 16 Länderparlamente leisten! Schäuble unterstrich in einem Brief an die Bundestagsfraktionen, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative”, und er legte auch gleich noch eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes mit dem vielsagenden Titel „Empfehlenswerte Maßnahmen zur Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive bei der Bewältigung der Corona-Pandemie“ bei. Selbstredend ist bei Pandemien Schnelligkeit ein nicht zu unterschätzender Faktor, aber mal ehrlich: Was läuft den wirklich schnell und wird nicht von Gerichten wieder eingesammelt? Da frage ich mich auch, wo denn der Sachverstand der Juristen in den Staatskanzleien und Ministerien geblieben ist? Der Bundestag muss der Ort der Debatte auch in Pandemie-Zeiten sein! Dies ist nicht so leicht mit einer Bundeskanzlerin, der offene Diskussionen eher ein Gräuel sind.

Diffuse Entwicklung?
Bereits während der ersten Corona-Welle hätten Virologen und Soziologen gemeinsam die sozialen Milieus und die gesellschaftlichen Herde der Pandemie stärker erforschen sollen. Auch damals standen Après-Ski in Ischgl oder Karneval im Kreis Heinsberg im Mittelpunkt. Diese Ursachenanalyse kam bisher zu kurz, und so dürfen wir uns immer wieder an Aussagen von Landräten oder Bürgermeistern ‚erfreuen‘, die von einer „diffusen Ausbreitung“ palavern. Was bitte soll der Bürger, der gerne im Kampf gegen Covid-19 mitziehen möchte, daraus für Schlüsse ziehen? Und zumeist stellt sich bei intensiverer Betrachtung dann doch heraus, dass eine rapide Zunahme auf einzelne Ereignisse zurückgeht: Seien dies Reiserückkehrer aus Risikogebieten, die dort eben nicht einsam am Strand lagen oder zu zweit wanderten, sondern alle Familienangehörigen z. B. auf dem Balkan besuchten – und dies ohne Schutzmaßnahmen. Daran haben auch Hinweise an Schilderbrücken auf der Autobahn „Rückreise aus Risikogebiet – Quarantäne!“ wenig geändert. Viel zu spät wurde begonnen, die Einhaltung der Quarantäne zumindest punktuell zu überprüfen. Deutlich früher hätten auch Hochzeits- oder Trauerfeiern mit hunderten von Teilnehmern untersagt werden müssen: Entsprechende Räumlichkeiten gibt es nicht beliebig viele, daher wäre eine lückenlose Prüfung möglich gewesen. Und öffentliche Gelage, die – wie in Stuttgarts Oberem Schlossgarten – viel zu lange irreführend als ‚Feiern‘ tituliert wurden, sind ebenfalls Beispiele für eine falsch verstandene ‚Liberalität‘ und dies nicht nur in Corona-Tagen. Meist scheint mir nicht die Lage „diffus“ zu sein, sondern Politiker scheuen sich davor, Ursachen konkret anzusprechen, um sich nicht der Kritik bestimmter Gruppen auszusetzen. Nicht vergessen sollten wir, dass sich so mancher Hotspot aus Arbeits- oder Unterbringungsbedingungen entwickelt hat, und dies nicht nur in Tönnies-Schlachtbetrieben oder in Flüchtlingsunterkünften. Missstände waren oft seit Jahr und Tag erkennbar, doch es wurde nicht gehandelt.

Daher brauchen wir auch nicht ständig neue Verordnungen oder eine Ergänzung der Corona-Ampel wie in Bayern mit ‚dunkelrot‘, sondern eine konsequente Umsetzung der Vorgaben. Und hätten die Politiker, die uns heute mit ihren Ratschlägen bis ins eigene Wohnzimmer verfolgen, 2013 nicht nahezu unisono gepennt, dann hätten sie wissenschaftliche Warnungen aufgenommen und unser Land besser auf eine Pandemie vorbereitet. Die Corona-Pandemie wurde unterschätzt, obwohl bereits 2013 das Robert-Koch-Institut und ein Fraunhofer-Institut mit sehr konkreten Szenarien warnten. Doch der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat wohl die entsprechende Bundestagsdrucksache nie gelesen, genauso wenig wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn oder SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, um nur einige zu nennen. Konkreter als diese Szenarien können Warnungen im Grunde nicht sein. Da gilt eben doch ein Satz, der Michail Gorbatschow zugeschrieben wird, obwohl er ihn so 1989 vermutlich nicht gesagt hat: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Leider trifft es nun alle und nicht nur die, die informiert wurden, aber aus den Pandemie-Szenarien keine Schlüsse gezogen haben.

Vorausschauender agieren
Die Chance, Covid-19 in Deutschland und Europa in der Anfangsphase einzugrenzen, wurde vertan, da die Politik jahrelang in Sachen Pandemie-Schutz untätig geblieben war und dann nur zögerlich in die Puschen kam. Jetzt haben wir – wie die rote Farbe auf Corona-Karten zeigt – zumindest in den alten Bundesländern einen Flächenbrand, der nur schwer zu löschen ist. Gerade deshalb muss jetzt schneller und vorausschauender gehandelt werden. Superspreader-Events müssen möglichst verhindert werden, denn ansonsten lassen sich die Kontakte – trotz Hilfe von Freiwilligen und Bundeswehrsoldaten – durch die Gesundheitsämter nicht mehr nachverfolgen. Die Begrenzung der Teilnehmerzahl an Veranstaltungen bringt nur etwas, wenn konsequenter als bisher Treffen verhindert werden, bei denen weder die Hygieneregeln noch die Höchstzahl eingehalten werden. Quarantäne muss natürlich stattfinden, wenn notwendig. Dabei sollten aber gerade auch im Schulbereich die sozialen Verhältnisse berücksichtigt werden: Von einer Minute auf die andere können Kinder nicht nach Hause geschickt werden, weil ein Corona-Fall erkannt wurde, denn nicht alle Kinder haben einen Wohnungsschlüssel dabei und nur noch selten ist ein Elternteil anwesend. Ganz generell sollten Restriktionen auch die Machbarkeit beachten: In Baden-Württemberg wurde den Schülern ab Klasse 5 das Tragen des Mund-Nassen-Schutzes im Unterricht und in Pausen vorgeschrieben. Nach Protesten wurde dann zumindest das Abnehmen auf dem Schulhof in der Pause erlaubt, wenn der Abstand eingehalten werden kann, denn acht Stunden Non-Stopp ist eine Maske den Kindern nicht zuzumuten. Wie wäre es denn mit etwas mehr Überlegung, denn dies würde ein dauerndes Hin- und Her mit entsprechender Verunsicherung ersparen.

Wir müssen davon ausgehen, dass uns Corona noch lange Monate ohne Impfstoff plagen und auch danach begleiten wird, daher muss mit Augenmaß daran gedacht werden, welche Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche ermöglicht werden können. Viele leben in beengten Wohnverhältnissen und Möglichkeiten, sich zu treffen, sind minimiert. Trotz einzelner Öffnungen sind die Sportangebote weiter beschränkt. Wer soziale Probleme von morgen heute verhindern möchte, der muss sich mehr um die nachwachsenden Generationen kümmern, und dies gilt vor allem für den Bildungssektor. Ich wünsche mir auch mehr Voraussicht insgesamt, denn wer heute Kosten für Corona-Tests gerne den Krankenkassen aufhalst, der wird alsbald mit deutlich steigenden Beiträgen konfrontiert. Da nutzt es gewiss nichts, wenn Bundesfinanzminister Olaf Scholz schwadroniert „Wir können uns das leisten“ und damit hunderte von Milliarden Euro meint, die auf Pump in Corona-Maßnahmen fließen. Die Folgen der Corona-Pandemie dürfen nicht zu einer Dauerbelastung für unsere heutigen Kinder und Jugendlichen werden. Insgesamt müssen die Ängste vieler Menschen vor einer Verschlechterung ihrer Lage ernster genommen werden: Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, verminderte Bildungschancen, Reduzierung der sozialen Kontakte dürfen nicht mit allgemeinem Palaver übertüncht werden.
Die Corona-Pandemie lässt sich nicht mit Durchhalteparolen besiegen, sondern nur, wenn sich die Bürger mitgenommen fühlen. Die Bürgerschaft darf erwarten, dass Politik und Verwaltung konsequent gegen die Gruppen vorgehen, die sich nicht an die Vorgaben halten. Mehr Klarheit wäre auch in der Sprache nützlich, denn was der bereits erwähnte baden-württembergische Sozialminister Lucha meint, wenn er im Rundfunk ein „maßstäbliches Maßnahmepaket“ ankündigt, das würde ich wirklich gerne wissen. Lasst die Wortblasen platzen und redet Tacheles! Haltet euch, liebe Politiker, dann aber auch an eure eigenen Vorgaben. Wohlfeile Ratschläge bringen uns auf Dauer nicht voran, es muss konsequenter und vorausschauender gehandelt werden!