Wahlrechtsreform: Trotz Direktmandat nicht im Bundestag?

Der Vorschlag der Ampelregierung gefährdet die Demokratie

Wer keinen einzigen – wie die FDP – oder kaum einen Wahlkreis direkt erobert – wie Linke und Grüne -, dessen Herz hängt natürlich an Wahllisten, über die Sitze an brave Gefolgsleute vergeben werden. Für direkt im Wahlkreis gewonnene Mandate schlägt bei diesen Parteien das Herz natürlich nicht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass FDP, Bündnis90/Die Grünen mit der Linken und der AfD Vorschläge für eine Wahlrechtsreform vorantreiben, bei der es vorprogrammiert ist, dass manche Direktmandate zur Luftnummer werden: Die oder der von den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreis mit den meisten Stimmen bedachte Abgeordnete würde dann vor der zugenagelten Reichstagstür stehen, wenn seine Partei mehr Sitze direkt erringen sollte als ihr nach dem Anteil an den Gesamtstimmen zustehen würde. Warum die SPD als älteste deutsche demokratische Partei bei einem solchen Unterfangen mitmacht, das ist mir ein Rätsel. Die Union ist gegen diesen obskuren Reformvorschlag, da insbesondere die CSU im Regelfall bei der Bundestagswahl mehr Direktmandate erkämpft, als ihr proportional zum Gesamtergebnis zustehen würden. Keine Frage, der personell ausgeuferte XXL-Bundestag muss wieder kleiner werden, doch das darf nicht zu Lasten direkt gewählter Abgeordneter gehen.

Die deutsche Flagge - schwarz-rot-gold - weht vor dem Reichstag. Über den Säulen die Inschrift 'Dem deutschen Volke'.
„Dem deutschen Volke“ heißt es über dem Portal des Reichstags: Wenn das Volk entschieden und eine Stimmenmehrheit für einen Kandidaten im Wahlkreis vergeben hat, dann darf dies nicht durch eine einfache Mehrheit im XXL-Bundestag so verändert werden, dass der oder die Abgeordnete vor der Tür des Reichtags bleiben muss. (Bild: Ulsamer)

Überperfektion lässt Mandatszahl explodieren

Der aktuelle 20. Bundestag umfasst 736 Sitze, obwohl eigentlich gesetzlich 598 Abgeordnete dort Platz nehmen sollten. Dies ist das Resultat eines Wahlrechts, das in Zeiten entstand, als die Volksparteien wirklich groß waren und das Zweitstimmenergebnis der einzelnen Parteien die direkt gewonnenen Mandate abdeckte. Dem Bundesverfassungsgericht folgend werden sogenannte Überhangmandate – eine Partei hat mehr Mandate errungen, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen – durch Ausgleichsmandate aufgewogen. Dem deutschen Perfektionismus ist es geschuldet, dass sich nach der Bundestagswahl 2021 aus 34 Überhangmandaten sage und schreibe 104 Ausgleichmandate ergaben. 138 Abgeordnete mehr als gesetzlich vorgesehen, bevölkern den Reichstag, wo mal wieder zusätzliche Sitze installiert werden mussten. Schon vor der letzten Wahl war der XXL-Bundestag das zweitgrößte Parlament der Welt – nach dem chinesischen Volkskongress, der allerdings kein demokratisches Parlament, sondern ein Gremium der Kommunistischen Partei ist. Wenn sich die Entwicklung fortsetzen sollte, dass Wahlkreise mit einem immer geringeren Abstand zu den Nächstplatzierten gewonnen werden oder gar weitere Parteien in den Bundestag einziehen, dann könnte die Zahl der Abgeordneten auf 900 oder gar 1000 steigen. Es muss daher eine Begrenzung erreicht werden, allerdings darf das nicht auf Kosten der Demokratie gehen.

Gruppe bunt gekleideter FahrradfahrerInnen, im Hintergrund der Reichstag mit der Glaskuppel.
Zuschauen und bezahlen dürfen wir, doch die Bundespolitik entfernt sich mit dem Vorschlag der Ampelregierung unter Olaf Scholz zur Wahlrechtsreform noch weiter von der Bürgerschaft. Da sah ich schon im letzten Regierungsteam von Angela Merkel ein Horrorkabinett, doch es kann immer schlimmer kommen. (Bild: Ulsamer)

Der Bundestag ist uns allen – so hoffe ich – lieb und teuer, was uns als Steuerzahlern weniger mundet. Bereits 2020 monierte der Bund der Steuerzahler: „Mit Ausgaben von insgesamt mehr als einer Milliarde Euro ist das Parlament schon in diesem Jahr so teuer wie nie zuvor.“ Damals saßen erst 709 Abgeordnete im Bundestag. Gerade auch die Baulichkeiten und ihre Unterhaltung schlagen neben den unmittelbaren Kosten für die Mandatsträger zu Buche. Und bei den gigantischen Neubauten in der Nachbarschaft des Reichstagsgebäudes habe ich immer das Gefühl, dass sie den historischen Reichstag, in dem das Plenum tagt, erdrücken. Gleich gegenüber will im Übrigen Bundeskanzler Olaf Scholz das ohnehin überdimensionierte Kanzleramt flächenmäßig verdoppeln. Die bisher prognostizierten Kosten von 777 Mio. Euro werden nicht reichen, eine Milliarde Euro dürfte realistischer sein. Im Grunde geht es bei der Wahlrechtsreform jedoch nicht ums Geld, sondern um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Immer mehr Mandatsträger erleichtern die Arbeit in Ausschüssen usw. nicht gerade.

Gläserne Kuppel über dem Reichstagsgebäude. Links die EU-Flagge, im Hintergrund die deutsche Fahne.
Die 23 Meter hohe und 40 Meter breite gläserne Kuppel auf dem Reichstag, die der britische Architekt Sir Norman Forster entwarf, lässt viel Licht ins Hohe Haus strömen. Vielleicht bringt es auch die Erleuchtung: Eine Reform des Wahlrechts ist wichtig, doch sie darf keine Bürgerferne bringen und gewählten Kandidaten ihr Mandat rauben. (Bild: Ulsamer)

Abgeordnete im Wahlkreis nicht unterbuttern!

Auf die Bremse beim Abgeordnetenzuwachs wollte schon Dr. Norbert Lammert in seiner Zeit als Bundestagspräsident treten, aber seine Anregung verhallte. So hatte Lammert bei der konstituierenden Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am 22. Oktober 2013 ausgeführt: “Es gibt Anlass, noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen, auch wenn das Wahlergebnis vom 22. September nur zu einer maßvollen Ausweitung der Anzahl der Mandate geführt hat. Ganze vier Überhangmandate ‑ viel weniger als in den allermeisten früheren Legislaturperioden ‑ haben durch die neuen Berechnungsmechanismen des fortgeschriebenen Wahlrechts, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind, zu 29 Ausgleichsmandaten geführt. Dies lässt die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.“ Der jetzige Vorschlag der Ampelregierung setzt nach meiner Meinung jedoch am falschen Hebel an: Kandidaten, die im Wahlkreis eine Mehrheit erhalten haben, kann man durch einen Bundestagsbeschluss mit einfacher Mehrheit nicht vor die Türe setzen, indem man – dem Gesetzentwurf von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen folgend – die bisherige Zweitstimme zur „Hauptstimme“ umdeutet und diese „zur maßgeblichen Determinante des Wahlergebnisses“ macht. Da finde ich mich schon fast bei George Orwells ‚Neusprech‘ in seinem Werk ‚1984‘ wieder. Wer im Wahlkreis selbst wenig zu bestellen hat, der setzt selbstredend auf Listen, die bei Parteitagen besetzt werden. Den Vorschlag der Ampelregierung scheint das Credo zu bestimmen, dass die Wahlkreise nebensächlich sind. Wir werden immer mehr zum Stimmvieh degradiert, das flugs ein Kreuzchen für eine Parteiliste machen soll, und ansonsten bitte Steuern entrichten, damit auch alles bezahlt werden kann. Ganz so habe ich mir die demokratische Entwicklung in Deutschland nicht vorgestellt. Fast belustigend ist es, wenn es nicht so traurig wäre, dass sich ausgerechnet die AfD rühmt, die Ampelregierung habe jetzt ihre Vorschläge zur Wahlrechtsreform aufgegriffen!

Blick auf den fast verdeckten Reichstag mit der Glaskuppel. Links und rechts Betonklötze mit Räumlichkeiten für den Bundestag
Mehr Abgeordnete im XXL-Bundestag und eine anschwellende Bürokratie sowie explodierende Raumansprüche ließen Neubauten aus dem Boden sprießen, die den Reichstag geradezu erdrücken. (Bild: Ulsamer)

Den Vorschlag der Union, die Zahl der Wahlkreise zu vermindern, möchte ich ebenfalls nicht unterstützen, da dies die Politikferne fördert, denn je größer der Wahlkreis, desto weniger werden die Bürgerinnen und Bürger involviert – siehe EU-Parlament. Im Grunde müsste es eine Aufteilung geben, die die Wahlkreisstimme im Sinne des Mehrheitswahlrechts auslegt: Wer in den 299 Wahlkreisen gewählt ist, der kommt auch weiterhin in den Bundestag! Die Zweit- oder „Hauptstimme“ entscheidet dem Verhältniswahlrecht folgend über die andere Hälfte der Sitze im Bundestag. Dabei bin ich mir bewusst, dass damit das rein proportionale Denken durchbrochen wird, doch dafür sehe ich rechtliche Spielräume: „2012 stellte das Bundesverfassungsgericht daher fest, dass es maximal etwa 15 Überhangmandate ohne einen Ausgleich geben dürfe, was der Hälfte der zur Fraktionsbildung nötigen Sitzzahl entspricht“, so Helmut Stoltenberg in seinem Beitrag ‚Zu viele Sitze im Hohen Haus‘ in ‚Das Parlament‘. Absolute Gerechtigkeit lässt sich nun mal nur durch eine Unzahl von Überhang- und Ausgleichsmandate verhindern oder die völlig abwegige Idee, direkt gewählten Abgeordneten den Einzug in den Reichstag zu untersagen. Letzteres findet doch eher in Bananenrepubliken statt! SPD, Bündnis90/ Die Grünen und die FDP wollen das Wahlrecht reformieren und schreiben: „Die erfolgreiche Kandidatur im Wahlkreis setzt also künftig neben der relativen Mehrheit eine Deckung durch Hauptstimmen voraus.“ Diesem Irrweg sollten Demokraten nicht folgen! Wer im Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte, der muss auch im Deutschen Bundestag sitzen! Ansonsten wird die Politikverdrossenheit zunehmen und das Interesse an der Arbeit der Politikerin oder des Politikers im Wahlkreis weiter nachlassen. Die Aufstellung von Landeslisten ist weiter von der Bürgerschaft entfernt, auch wenn sie nicht im Hinterzimmer, sondern im Saal stattfindet, als die Bestimmung eines vor Ort bekannten Kandidaten. Die von den Grünen einst geforderte Bürgernähe geht beim jetzigen Gesetzentwurf verloren, von liberalem Denken ist nichts zu spüren, und ausgerechnet die SPD spielt mit, die in ihrer Geschichte so viel für gelebten Parlamentarismus, selbst in schwierigen Zeiten, getan hat. Irgendwie ist das absurd. Was würde wohl Friedrich Ebert zur Wahlrechtsreform sagen? Nach einer Umfrage im Auftrag des Ostbeauftragten der Bundesregierung bejahen nur noch 19 Prozent der Befragten den Satz „Politiker kümmern sich darum, was einfache Leute denken“. Nach meinem Dafürhalten trägt der Vorschlag der Ampelregierung zur Wahlrechtsreform gewiss nicht zu einer Trendumkehr bei – ganz im Gegenteil. Wenn gewählte Kandidaten nicht mehr ihren Sitz im Deutschen Bundestag einnehmen dürfen, schadet das der Demokratie in unserem Land ganz erheblich.

 

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Das leere Plenum des Deutschen Bundestags im Reichtag. Der Bundesadler an der Rückseite, davor die deutsche und die EU-Flagge. Blaue Sitze im großen Rund.Wenn sich die Ampelregierung aus SPD, Bündnis90/ Die Grünen und FDP mit ihrer Wahlrechtsreform durchsetzt, dann reicht es zukünftig nicht mehr, in einem Wahlkreis die Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erlangen, sondern das Mandat im Deutschen Bundestag muss auch noch durch die Gesamtzahl der Zweit- oder ‚Hauptstimmen‘ abgedeckt werden. Ich halte es für undemokratisch, gewählten Abgeordneten den Einzug in den Deutschen Bundestag zu verweigern. (Bild: Ulsamer)

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