Von der Chaos-Premierministerin zum Brexit-Hardliner

Dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor

Theresa Mays Abgang in Raten ist kein Anlass zum Aufatmen, auch wenn ich glaube, dass die Noch-Premierministerin mit ihrer Politik das Chaos im Vereinigten Königreich befeuert hat. Ohne Rücksicht auf demokratische Gepflogenheiten hat sich May engstirnig auf rote Linien fixiert, die den Weg zum Brexit aufzeigen sollten. Sie hat nie ernsthaft versucht, in ihrer eigenen Partei einen breiten Konsens herzustellen und noch viel weniger eine Übereinstimmung mit der Opposition zu finden, um einen geregelten Austritt aus der Europäischen Union herbeizuführen. Stattdessen hat sie sich von den Hardlinern in der Conservative and Unionist Party vor sich hertreiben lassen. Mangels eigener Mehrheit hat sie sich dann noch in die Hände der Democratic Unionist Party (DUP) begeben, einer reaktionären nordirischen Partei, die vorgibt, die Interessen der protestantischen Mehrheit zu vertreten. Doch der Nachfolgestreit zeigt – wie zu erwarten, dass voraussichtlich ein nationalistischer Politiker an die Spitze der konservativen Partei gewählt wird – und damit auch zum britischen Premierminister. Alle Zeichen stehen somit auf Sturm.

Boris Johnson möchte im zweiten Anlauf britischer Premierminister werden - in: „Von der Chaos-Premierministerin zum Brexit-Hardliner. Dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor“ – www.deutschland-geliebte-bananenrepublik.de
Boris Johnson hat seine Mähne gekürzt, doch das macht aus ihm noch lange keinen respektablen Politiker, den man sich als britischen Premierminister wünschen würde. „Time to deliver Brexit and unite our fantastic country.” Irgendwie erinnert mich dieser Duktus an Donald Trump, der Boris Johnson bereits als Premierminister empfohlen hat. (Bild: Screenshot, Twitter, 15.6.19)

Boris Johnson vergleicht schon mal die EU mit Hitler

Seit Monaten spielen die aussichtsreichen Kandidaten für eine Nachfolge in der Conservative Party die nationalistische Karte: der eine etwas härter, der andere leicht abgemildert. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Parteimitglieder aus dem Zweier-Vorschlag der Unterhausabgeordneten den radikalsten aussuchen werden. Besonders abstrus ist es, dass weniger als ein halbes Prozent der parteiinternen Wählerschaft über den nächsten Premierminister entscheiden wird. Vorausgesetzt, dieser findet dann auch im britischen Unterhaus eine Mehrheit für seine Politik.

Erschreckend ist es, in welchem Maße die britischen Konservativen in den letzten Jahren nach rechts, in eine nationalistische Ecke gerückt sind. Die Conservative Party hat sich zwar noch nie als Europafreunde geoutet, doch selbst Winston S. Churchill war im Vergleich zu einem Boris Johnson ein glühender Vertreter der europäischen Zusammenarbeit. Boris Johnson, Ex-Bürgermeister von London und einer der Brexit-Agitatoren, setzte die EU mit Adolf Hitlers Versuch gleich, das Vereinigte Königreich zu unterwerfen. “Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically“. Und der im Streit mit May aus dem Amt geschiedene Außenminister fügte hinzu: „The EU is an attempt to do this by different methods.“ Leider steht Boris Johnson mit seinen Ausfällen nicht alleine in der Conservative and Unionist Party. Ein Blick auf die Twitter-Seite von Boris Johnson zeigte ihn dann ganz ‚passend‘ über Monate umgeben von Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Flugs hat er nun nicht nur seine Frisur weniger eigenwillig drapiert, sondern auch seine Internet-Aktivitäten auf ‚Back Boris‘ umgepolt. Er verspricht den Austritt des Vereinigten Königreichs – mit oder ohne Vertrag – zum 31. Oktober 2019.

Der Exminister Dominic Raab liebäugelte damit, das Parlament in Urlaub zu schicken. - in: „Von der Chaos-Premierministerin zum Brexit-Hardliner. Dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor“ – www.deutschland-geliebte-bananenrepublik.de
Dominic Raab, der relativ kurz in der britischen Regierung für den Brexit zuständig war, betrachtet den Backstop, der den Friedensprozess in Nordirland absichern soll, als antidemokratisch. Er steht damit nicht alleine, denn viele britische Konservative wollen keine Sonderregelung für Nordirland. (Bild: Screenshot, Twitter, 16.6.19)

Demokratie wird ausgehöhlt

In guter alter Manier mancher historischer Briten setzt Boris Johnson auch nicht auf den Dialog mit den bisherigen Partnern in der EU, sondern auf Attacke: Er werde die ausgehandelten Milliarden für britische Verpflichtungen natürlich nur an die EU entrichten, wenn er einen besseren Deal bekomme. Kein Wunder, dass der ‚Ober-Deal-Maker‘ aus dem Weißen Haus lobende Worte für Boris Johnson fand. Polit-Erpresser scheinen Konjunktur zu haben! Und irgendwie erinnern mich Boris Johnson und Konsorten auch an Oliver Cromwell, der im 17. Jahrhundert in einer kurzen republikanischen Periode als Lordprotektor von England, Schottland und Irland wenig zimperlich mit den eigenen Untertanen und allerlei Gegnern umsprang. Da mussten schon mal gegnerische Truppen und Zivilisten, die sich ergeben hatten, über die Klinge springen.

Skurril ist es, wenn ausgerechnet im selbsternannten Mutterland der Demokratie die konservativen Wortführer meinen, wenig Rücksicht auf die demokratischen Wurzeln nehmen zu müssen. Theresa May dachte schon mal darüber nach, die Entscheidungsgewalt des Parlaments in Brexit-Fragen auszuhebeln, indem sie sich auf Heinrich VIII. berief. Das ‚Statute of Proclamation‘ war zwar schon 500 Jahre alt, aber May zog in Betracht, Verordnungen und Gesetze im Rahmen der ‚Great Repeal Bill‘ erlassen zu können, ohne das Parlament fragen zu müssen. Theresa May wäre gut beraten gewesen, sich nicht gerade an Heinrich VIII. zu orientieren, denn dieser nutze damals das ‚Statute‘, um zwei seiner Frauen dem Scharfrichter zuführen zu können: dass sie mit Heinrich anbandeln wollte, hat Theresa nichts genutzt. Wer dies tut, der verliert auch noch heute seinen – politischen – Kopf. So musste Theresa May per Gerichtsbeschluss gezwungen werden, die Rechte des Parlaments im Brexit-Verfahren zu achten.

Michael Gove kam wegen seines früheren Kokaingenusses ins Gerede. -
Michael Gove hat an Zuspruch eingebüßt, da er jüngst zugeben musste, er habe in seiner Zeit als Journalist Kokain konsumiert. Der Umweltminister scheint bei einem Exit ohne Vertrag zu zögern, doch er würde diesen wohl akzeptieren, wenn er sich als Premierminister etablieren kann. Auch er setzt in seinem Slogan auf das Zusammenführen der Kräfte, er hat jedoch bisher nicht bewiesen, dass er dies kann. Die Schärfe seiner Beiträge in den Unterhausdebatten sprechen eher eine andere Sprache. (Bild: Screenshot, Twitter, 16.6.19)

Antieuropäer unter sich

Wer so tief in die historische Mottenkiste greift, der ist derzeit bei der Conservative Party gut aufgehoben. Leider. Der ehemalige Brexit-Unterhändler der Briten, Dominic Raab hatte schon mal die Idee, man könne ja das Parlament in Urlaub schicken, damit man ungestört den Austritt vollziehen könne. Dabei scheint es ihm gleichgültig zu sein, wenn er mit einem solch antidemokratischen Vorschlag auch   Elisabeth II. in das Geschacher einbeziehen würde, denn sie beendet und eröffnet Sitzungsperioden. Als zukünftigen Tory-Vorsitzenden sehe ich ihn allerdings nicht.

Jacob Rees-Mogg will die Zahlungen an die EU zurückhalten.
Jacob Rees-Mogg, einer der Hardliner in der Unterhaus-Fraktion der Konservativen, zieht meist die Fäden im Hintergrund. Er glaubt nun, ein Druckmittel für neue Brexit-Verhandlungen gefunden zu haben: Die ausgehandelten Zahlungen für britische Verpflichtungen möchte er zurückstellen. Wir dürfen uns auf keinen Fall bei weiteren Gesprächen zum EU-Austritt der Briten auf dieses Niveau herablassen. (Bild: Screenshot, Twitter, 16.6.19)

Im ersten Wahlgang unter den Abgeordneten erzielte Johnson zwar das bei weitem beste Ergebnis, doch der jetzige Außenminister, Jeremy Hunt, der Johnson im Ministeramt nachfolgte, und Michael Gove, der Umweltminister, sind nicht chancenlos. Michael Gove empfand ich bei Unterhausdebatten zwar als sehr aggressiv, aber auch als unterhaltsam und politisch treffsicher. Wenn er sich als konservativer EU-Gegner den Antieuropäer Jeremy Corbyn vorknöpfte, dann stand ihm die Streitlust ganz unenglisch ins Gesicht geschrieben, und Gove pickte sich all die Aussagen des Labour-Chefs heraus, die seine Widersprüchlichkeit belegten. Es war schon ein Jammer, wenn man erleben musste, dass sowohl bei der Führung der Conservatives als auch von Labour aus unterschiedlichen Gründen kaum Positives mit der Europäischen Union verbunden wird. Die konservativen Brexiteers fühlen sich von der EU gegängelt und wollen zurück ins Empire. Corbyn sieht in der Europäischen Union einen Club von Kapitalisten. Nun habe auch ich zahlreiche Kritikpunkte, doch die simple Weltsicht mancher britischen Politiker ist geradezu erschreckend.

Anna Soubry fordert weiterhin ein 2. Referendum über den EU-Austritt. - in: „Von der Chaos-Premierministerin zum Brexit-Hardliner. Dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor“ – www.deutschland-geliebte-bananenrepublik.de
Anna Soubry hat die Conservatives wegen der Brexit-Politik verlassen. Sie behielt ihr Mandat und ist Mitgründerin der neuen Partei ‚Change UK – The Independent Group‘. Sie hat ihren proeuropäischen Kurs beibehalten und setzt auf ein zweites Referendum. Ihre Forderungen nach einer parteiübergreifenden Zusammenarbeit im Unterhaus blieben zu lange ungehört. Die ‚Independent Group‘ besteht aus früheren Abgeordneten der Labour Party und der Conservative and Unionist Party. (Bild: Screenshot, Twitter, 16.1.19)

Zur nationalistischen Kampfgruppe degeneriert

Sollten Sie Frauen unter den Kandidaten für die Nachfolge von Theresa May vermissen, so sind diese bereits im ersten Wahldurchlauf regelrecht untergegangen. In der Endausscheidung hätten sie ohnehin kaum eine Chance gehabt, denn die 124 000 eingeschriebenen Mitglieder der Torys sollen zu rund Dreivierteln männlich sein – und die Hälfte ist im Rentenalter. Schaut man sich die magere Parteibasis an, dazu die Stimmen in den letzten Wahlen, dann wird überdeutlich, dass sich die konservative Partei – mit Hilfe der DUP – nur dank des Mehrheitswahlrechts am Ruder halten konnte.

Den Conservatives ist es im Vereinigten Königreich wie anderen Volksparteien auf dem Kontinent gegangen: die stabilen Grundmauern sind zerbröselt. Doch die Konservativen auf den ‚britischen Inseln‘ sind dazuhin auch inhaltlich zu einer nationalistischen Kampfgruppe degeneriert. Dies gilt mit immer wenigeren Ausnahmen, denn weltoffene Abgeordnete haben längst das Weite gesucht. Zu ihnen zählt Anna Soubry, die in den Unterhausdebatten dezidiert eine proeuropäische Haltung einnahm.

Jeremy Hunt würde auch gerne in der Downing Street einziehen. - in: „Von der Chaos-Premierministerin zum Brexit-Hardliner. Dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor“ – www.deutschland-geliebte-bananenrepublik.de
„Unite to Win”, ruft Jeremy Hunt seinen Anhängern zu. Der jetzige britische Außenminister wandelte sich von einem EU-Befürworter zum Brexiteer, wobei er – im Gegensatz zu Boris Johnson – einen No-Deal-Brexit lange für Selbstmord hielt. Die weit auseinander liegenden Haltungen der Torys werden es schwer machen, eine gemeinsame Basis zu finden. (Bild: Screenshot, Twitter, 16.9.19)

Modernisierung der Torys gescheitert

Die realitätsnahen Stimmen sind in der Conservative Party mehr und mehr verstummt. So schrieb Matthew d‘Ancona, der einst Redakteur des konservativen ‚The Spectator‘ war, bereits im Oktober 2017 in der New York Times: „The party is like a driverless car, visibly headed for a crash.“ Und er beklagte „I have rarely seen the Tories so intellectually exhausted“. Diesen Eindruck habe ich auch: Die Torys haben sich in der Brexit-Wagenburg eingeigelt und lassen jeden Esprit vermissen. Dialog und Kompromiss sind – völlig unbritisch – zu Worthülsen verkommen.

Ganz folgerichtig schreibt Matthew d’Ancona im britischen ‚Guardian‘ im Januar 2019: „Tory modernisation lies in ashes“. Statt einer Modernisierung lässt sich bei vielen führenden Torys ein Rückfall ins Denken des britischen Weltreiches feststellen. Und ohne Probleme werden dabei wir Deutschen mal wieder mit Hitler-Deutschland in einen Topf geworfen. Als sich der Airbus-Vorstandsvorsitzende Tom Enders ‚erdreistete‘, auf negative Folgen eines ungeregelten Brexits für die britische Wirtschaft hinzuweisen, bekam er sein Fett weg. Reginald Francois, seines Zeichens britisches Parlamentsmitglied, verwies auf seinen Vater – „he was a D-day veteran“ – Tom Enders dagegen „was a German paratrooper in his youth“. Da lagen zwar Jahrzehnte zwischen beiden Ereignissen, doch nochmals Reginald Francois über seinen Vater: „He never submitted to bullying by any German. Neither will his son.“ Da mag man „bullying“ mit Mobbing oder Terror übersetzen, die Aussage ist klar: Wir Deutschen werden von vielen Torys mal wieder – oder noch immer – als die Drahtzieher angesehen, die den Briten mit Hilfe der EU die Luft abdrehen.

Die Erste Ministerin der schottischen Regierung, Nicola Sturgeon, streitet weiterhin für die Unabhängigkeit Schottlands. - in: „Von der Chaos-Premierministerin zum Brexit-Hardliner. Dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor“ – www.deutschland-geliebte-bananenrepublik.de
Die Konservativen geben – ebenso wie die nordirische DUP – immer vor, die Einheit des Vereinigten Königreichs sei ihr oberstes Anliegen, doch in der Realität setzen sie gerade diese aufs Spiel. In Nordirland mehren sich die Stimmen, die sich für eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland aussprechen, und dies nicht nur unter Katholiken. Auch First Minister Nicola Sturgeon unterstreicht immer wieder, dass es Zeit für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland sei, da die Schotten gegen ihren Willen die EU verlassen sollen. (Bild: Screenshot, Twitter, 16.6.19)

Brexit als Politikersatz

Es ist kaum zu glauben, aber nach Theresa May ist kein chancenreicher Nachfolgekandidat zu erkennen, der sich nicht bereits in nationalistisches Gedankengut versponnen hätte. Gerade auch das Desaster bei der Europawahl ist für viele Torys ein Menetekel: Nach ihrer Meinung ist die Partei nur zu retten, wenn sie in der Rhetorik Nigel Farage übertrumpfen kann. Denn dieses Stehaufmännchen der britischen Politik, der einst mit seiner UKIP für den Brexit trommelte, dieser Partei dann den Rücken kehrte und es sich ausgerechnet im Europaparlament gemütlich gemacht hatte, genau dieser Politiker überflügelte aus dem Stand mit seiner ‚Brexit Party‘ alle anderen Parteien bei weitem. Damit wird natürlich auch erkennbar, dass selbst bei einem zweiten Referendum der Erfolg der Proeuropäer keineswegs als sicher gelten könnte. Dennoch befürworte ich dieses, um endlich Klarheit zu schaffen. Erst jetzt hätten die britischen Wähler die Möglichkeit, in Kenntnis des vorliegenden Brexit-Abkommens ihre Entscheidung zu treffen.

Der Brexit ist nicht nur für Nigel Farage oder Boris Johnson eine Art Fetisch, welchen sie benutzen, um von zahlreichen anderen Problemen abzulenken. Sie scheinen den Brexit wie ein Götzenbild zu verehren, und daher geht ihnen jegliche Nachfrage zu den Folgen gegen den Strich. Für die hard Brexiteers gibt es nur noch die guten Befürworter des Ausstiegs und bösartige Andersdenkende, die den Heilsbringern nur im Wege stehen. Brexit ist somit auch nicht ‚höhere‘ Politik, sondern ein Ersatz für das Suchen nach politischen Kompromissen, um Probleme wirklich zu lösen.

Panzersperren aus Beton blockieren eine Straße.
Die Hardliner unter den britischen Konservativen lehnen den Backstop ab, der den Friedensprozess in Nordirland beim Brexit absichern soll. Die Straßen zwischen Nordirland und der Republik Irland dürfen nicht wieder so aussehen – wie während der ‚Troubles‘! Panzersperren statt freier Durchfahrt! Das Karfreitagsabkommen – Good Friday Agreement – öffnete das Tor zum Frieden. Für die hard Brexiteers spielt es keine Rolle, wenn in Nordirland der blutige Konflikt wieder aufflammt, und daher agitieren sie gegen eine Sonderregelung für Nordirland beim Brexit-Deal. Auch die Democratic Unionist Party (DUP), die Mays Regierung stützt, lehnt eine sogenannte Backstop-Regelung vehement ab (Bild: Ulsamer)

Frieden als Verschiebemasse

Politiker wie die hard Brexiteers sehen es als ihr gutes Recht an, das Wohlergehen anderer Menschen zu gefährden, wenn es dem Brexit dient. So zeigten die Brexiteers auch keinerlei Verständnis für die Bedeutung der Backstop-Regelung, die den Friedensprozesss in Nordirland absichern soll.

Ausgerechnet in der heißen Phase des Streits um den Backstop, goss die britische Nordirlandministerin Karen Bradley Öl ins Feuer. Sie erklärte kurzerhand, wenn von Polizei und Militär während des Nordirlandkonflikts unschuldige Menschen erschossen worden seien, dann handle es sich nicht um kriminelle Handlungen. Und sie hatte auch eine völlig perverse Entschuldigung dafür parat: „They were people acting under orders and acting under instruction and fulfilling their duties in a dignified and appropriate way.” Das kommt mir doch sehr bekannt vor, auch aus der deutschen Geschichte. So mancher Nazi-Mörder berief sich auf Anordnungen, die er ‚nur‘ ausgeführt habe. Natürlich kann und will ich die Situation in Nordirland während der bürgerkriegsähnlichen ‚Troubles‘ nicht mit der NS-Diktatur vergleichen, aber es ist für mich immer wieder erschreckend, wie leichtfertig kriminelles Handeln gegen Mitmenschen mit einem ‚Befehlsnotstand‘ gerechtfertigt werden soll – auch wenn dabei die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden.

Wenn sich die hard Brexiteers durchsetzen und es zum Ausstieg ohne Vertrag kommt, dann drohen in Nordirland die latent weiterhin vorhandenen Spannungen zwischen Teilen der protestantischen und katholischen Bevölkerungsgruppen wieder in Gewalt umzuschlagen. Die Debatten im Unterhaus zeigten in erschreckender Weise, dass dies den nationalistischen Kreisen der Torys gleichgültig ist. So können wir nur weiterhin hoffen, dass im Vereinigten Königreich der gesunde Menschenverstand wieder die Oberhand gewinnt.

Boris Johnson mit Kriegsveteranen.
Boris Johnson zählt zu den hard Brexiteers in der Conservative and Unionist Partys und verirrt sich nicht selten in der europäischen Geschichte. So vergleicht er die EU-Politik auch gerne mal mit Adolf Hitler: „Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically”, so Boris Johnson und fügte hinzu: „The EU is an attempt to do this by different methods.” Leider steht Boris Johnson mit seinen Ausfällen nicht alleine bei den Torys. Und auf seiner Twitter-Seite missbrauchte Boris Johnson einige Monate lang britische Veteranen des Zweiten Weltkriegs für seine Attacken auf die Europäische Union. (Bild: Screenshot, Twitter, 15.1.19)

Keine Allianz der Proeuropäer erkennbar

Wer auch immer das Rennen um den Parteivorsitz bei den Konservativen macht und anschließend noch in der Downing Street einziehen kann, leichter werden die Gespräche zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU gewiss nicht. Dennoch sind die nächsten Schritte des Auswahlverfahrens wichtig, aber die vorhandenen Kandidaten mit Erfolgsaussichten gehören alle zu den Brexiteers. Es gilt jedoch weiterhin, besonders von Seiten der Partner, alles zu tun, um den britischen Nachbarn möglichst eng an der EU zu halten. Mag da auch Boris Johnson als Mini-Trump ans Ruder kommen, die Mehrheit der Briten hat er nicht hinter sich. Dies belegen die zurückliegenden Wahlen, die die Conservatives nur dank des Wahlsystems immer wieder in die Regierung führten.

Sollte es zu Neuwahlen kommen, da sich der neue Chef der Torys im Unterhaus keine stabile Mehrheit sichern kann, so könnte sich die Situation weiter verschlechtern, wenn Nigel Farage mit seiner ‚Brexit Party‘ antritt. Die Conservatives müssten dann zwar Federn lassen, aber ob es für eine Mehrheit von Labour und den anderen Oppositionsparteien reichen sollte, wäre mehr als ungewiss. Jeremy Corbyn kann als Europaskeptiker kaum seine eigene Partei zusammenhalten, geschweige denn eine breite Allianz der Proeuropäer bilden.

Winston S. Churchill als Skulptur.
Was würde der frühere britische Premierminister wohl über das heutige Verhalten seiner Partei sagen? Winston S. Churchill setzte auf engere Beziehungen in Europa und zog damit die Lehren aus den Schrecken des Zweiten Weltkriegs. (Bild: Ulsamer)

Der Sturm legt sich nicht

Lassen wir nochmals Matthew d’Ancona zu Wort kommen, der trotz seiner konservativen Werthaltung die Torys zunehmend als fremd und abstoßend empfindet. Er sieht das Schiff der Konservativen schon schwer angeschlagen und mit Löchern unter der Wasserlinie, doch „it sails away stubbornly; dragging the nation towards a storm of unknown adversity, peril and pain.“ Ja, der Starrsinn hat mich bereits bei Theresa May irritiert, bei Boris Johnson allerdings könnte es noch schlimmer kommen!

Dies alles darf uns als Deutsche und Europäer nicht zur Schadenfreude verleiten, ganz im Gegenteil, wir müssen uns um unsere britischen Nachbarn ernsthaft Sorgen machen. Das Vereinigte Königreich braucht keine Politiker, die nicht nur falsche historische Anleihen machen, sondern auch gerne ins Empire zurückmarschieren wollen. Es fehlt bei den Konservativen eine Grundhaltung, die berechtigte Kritik an der EU mit Gestaltungswillen verbindet. Stattdessen setzen Boris Johnson, Michael Gove, Jeremy Hunt und ihre Mitstreiter im Hintergrund – wie Jacob Rees-Mogg – auf nationalistische Haltungen und meinen, Britain First würde genügen, um in unserer Welt bestehen zu können. Und da lässt mal wieder Donald von der anderen Seite des Atlantiks grüßen.

 

Die hellen Kreidefelsen von Dover erheben sich direkt aus dem dunkelblauen Meer.
Führende konservative Politiker wollen auch ohne Abkommen die EU verlassen. Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertreter befürchten, dass ein No-Deal-Brexit einem Sprung von den Klippen in Dover gleichkäme. (Bild: Ulsamer)

 

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