Vereinigtes Königreich: Über 500 000 demonstrieren gegen den Brexit

People’s Vote – Die letzte Entscheidung muss beim Volk liegen

Immer deutlicher zeigt es sich, dass im Vereinigten Königreich längst eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für den Verbleib in der Europäischen Union ist. Dies ergaben bereits verschiedene Meinungsumfragen, und jetzt demonstrierten weit über eine halbe Million Briten in London gegen den Brexit: Dies ist ein Zeichen, das Theresa May eigentlich zur Kenntnis nehmen müsste. Doch sie lehnt weiterhin strikt ein zweites Referendum ab und geistert ohne klaren Kurs durch den Brexit-Dschungel. Wenn Demokratie ein Markenzeichen des Vereinigten Königreichs bleiben soll, dann müssten sich jetzt nochmals deutlicher die Abgeordneten des Unterhauses zu Wort melden und das Recht auf die Entscheidung über ein zweites Referendum an sich ziehen. Ich würde mir aber auch deutliche Worte von den europäischen Vorturnern Jean-Claude Juncker, Angela Merkel und Emmanuel Macron wünschen: Selbstredend ist es allein das Recht der Engländer, Waliser, Schotten und Nordiren über den Verbleib in der EU abzustimmen, aber von unserer Seite des Kanals sollte unterstrichen werden, dass die Tür noch immer weit offensteht und wir uns über ein Pro-EU-Votum freuen würden.

Facebook-Post mit dem Titel "670 000 are marching for a Peopl's Vote.
Wenn weit über eine halbe Million Engländer, Waliser, Schotten und Nordiren für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union demonstrieren, dann ist dies ein ermutigendes Zeichen für ganz Europa. Theresa May und ihre schwankende Regierung müssen die Entscheidung über die Ergebnisse der Brexit-Verhandlungen in die Hände des Volkes legen: Dies ist gelebte Demokratie. People’s Vote!!  (Bild: Screenshot, Facebook, 20.10.18)

 Gemeinsam statt einsam

Meine Frau kennt und schätzt das Vereinigte Königreich schon seit Schülerzeiten, und ich zumindest seit über 40 Jahren. Die Begeisterung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft war auch 1972 nicht überall vorhanden, dies spürten wir schon damals in so manchem Gespräch. Aber auch uns geht es doch immer wieder so: Nicht alles was in der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) oder der heutigen Europäischen Union (EU) abläuft, stellt uns wirklich zufrieden. Aber ist dies nicht in jedem Verein so? Dennoch glauben wir, dass wir gemeinsam die anstehenden Probleme besser lösen können. Gemeinsam auch mit den Bürgerinnen und Bürgern des Vereinigten Königreichs! Es ist ein ermutigendes Zeichen, dass sich die Proeuropäer jetzt in London unter dem Motto People’s Vote so zahlreich zu Wort gemeldet haben. Die Brexiteers sind in der Defensive, und wir sollten dies nutzen und für den europäischen Gedanken werben. Dies ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Vereinigten Königreichs, sondern eine Selbstverständlichkeit unter Freunden.

In den Gesprächen über die Zuwanderung und ein „new settlement“, die der damalige Premierminister, David Cameron, von 2013 bis 2016 führte, hätten wir uns mehr Flexibilität der EU-Kommission gewünscht. Aber ist ein Alleingang des Vereinigten Königreichs denn die richtige Antwort? Das müssen natürlich die Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich selbst entscheiden, doch genau dies will ihnen Theresa May vorenthalten. Die Premierministerin ist längst zu einer Getriebenen geworden, deren Verbleib im Amt von der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland und letzten Hemmungen der Brexiteers abhängt. Aber Premierministerin Theresa May hat bis heute keinen tragfähigen Weg in die Zukunft aufgezeigt.

Das Fahrzeug der Fähre 'Pride of Burgundy' ist bis auf zwei Lkw leer.
Sehen so die Fähren zwischen dem Vereinigten Königreich und Kontinentaleuropa nach dem Brexit aus? Das wollen wir nicht hoffen. Aber noch wäre es Zeit, den Brexit-Irrweg abzubrechen. Bei allen Meinungsumfragen in Großbritannien liegen die Brexiteers auf Platz 2. So befürworteten jüngst 53 % der Befragten den Verbleib in der EU und nur 35 % wollten Theresa May ins Nach-Brexit-Wunderland folgen. (Bild: Ulsamer)

Brexit schafft nur Probleme

Und leider fehlt es auch auf unserer Seite des Ärmelkanals an deutlichen Worten: Weder unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel noch der französische Präsident Emmanuel Macron noch der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker machen deutlich, dass die Tür der Europäischen Union noch immer offensteht. Sie sprechen lieber über das genaue Prozedere des Ausstiegs statt über dessen Verhinderung. Und Jean-Claude Juncker, der David Cameron nie verzeihen konnte, dass dieser ihm seine Stimme bei der Wahl zum Kommissionspräsidenten verweigert hatte, ist die Gestalt gewordene Unlust: Juncker hat nichts getan, um das Vereinigte Königreich in der EU zu halten! Und gemeinsam mit Theresa May irrlichterte er auch in der irischen Grenzfrage mit einem ‚Joint Paper‘ durch die Lande. Damals erklärten Juncker und May, die Grenzfrage sei geklärt und es werde keinesfalls eine hard border zwischen der Republik Irland und Nordirland geben. Genau diese Frage ist jedoch bis heute nicht geklärt.

Die enge Verzahnung der Wirtschaft unserer Länder leidet auf jeden Fall unter einem Brexit und dies schafft gewiss nicht mehr Wohlstand für alle, sondern nur Probleme. Aber den Brexiteers scheint es sogar gleichgültig zu sein, wenn der Konflikt in Nordirland durch eine harte Grenze wieder aufflammen würde. Durch den Brexit stellt sich aber noch deutlicher die Frage nach einem Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich. Damit werden die Probleme auch auf diesem Gebiet durch ein Verlassen der EU nicht kleiner, sondern größer. Wir erleben das Verlangen nach Eigenständigkeit nicht nur in Schottland, sondern auch in Katalonien. Aber auch in diesem Konflikt machte die EU keine gute Figur.

In der Außenpolitik und gleichfalls bei der Verteidigung würde die EU ohne das Vereinigte Königreich deutlich schwächer. Aber auch das Vereinigte Königreich kann sich nicht mehr auf spezielle Beziehungen zu den USA verlassen, zumindest nicht unter einem unberechenbaren US-Präsidenten Donald Trump. Gemeinsam sind wir allemal stärker! Ich hoffe, dass sich diese Meinung im Vereinigten Königreich letztendlich gegen eine rückwärtsgewandte Politik von Theresa May & Co. durchsetzen wird.

Haben wir uns nicht alle auch an die Reisefreiheit innerhalb der EU gewöhnt? Sicherlich müssen wir mehr dafür tun, unsere Außengrenzen zu schützen und auch im Innern verhindern, dass Kriminelle diese Freiheit ausnutzen. Hier hilft wiederum nur eine enge Kooperation. Migration innerhalb der EU muss in den Arbeitsmarkt und nicht in die Sozialsysteme erfolgen, dies ist auch unsere Meinung.

Facebook-Post von ZDF heute mit einem Foto von der Massendemonstration gegen den Brexit in London. Im Mittelpunkt ein Transparent mit dem Titel "Brexit Nightmare" - Brexit ein Alptraum.
Das Brexit-Drama hat sich mehr und mehr zu einem Alptraum entwickelt. Und wir müssen alle aufpassen, dass Theresa May, aber auch Jean-Claude Juncker, Angela Merkel und Emmanuel Macron nicht den Zeitpunkt zum Aufwachen verpassen. Es ist höchste Zeit, dass über das Klein-Klein der Brexit-Verhandlungen der europäische Gedanke nicht vergessen wird. Die Politiker aus den anderen EU-Staaten sollten verdeutlichen, dass wir uns freuen würden, wenn das Vereinigte Königreich in der EU verbleibt. Dies gehört sich so unter Freunden und ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Partnerstaats. (Bild: Screenshot, Facebook, 20.10.18)

Churchill für Europa

Natürlich haben Aussagen des bedeutenden Premierministers und Literaten, Winston S. Churchill auch in Debatten vor dem ersten Referendum eine Rolle gespielt, und auch EU-Kritiker bezogen sich auf ihn. Dennoch möchte ich Churchill zitieren, denn wir sehen in ihm einen erklärten Pro-Europäer: So schrieb er im Oktober 1942 an Anthony Eden, seinen Außenminister:  „I look forward to a United States of Europe, in which the barriers between the nations will be greatly minimised and unrestricted travel will be possible.“ Und im May 1948 erklärte er in einer Rede in Holland: „We cannot aim at anything less than the Union of Europe as a whole, and we look forward with confidence to the day when that Union will be achieved.“ Bereits in seiner berühmten Rede in Zürich hatte Churchill 1946 die europäische Vereinigung angeregt, und damit wird auch unterstrichen, dass ein Zusammenschluss für ihn erstrebenswert war. Wir sollten den von ihm eingeschlagenen Weg gemeinsam weitergehen.

Als meine Frau und ich 1991 ein Buch mit dem Titel „Schottland, das Nordseeöl und die britische Wirtschaft“ veröffentlichten, da hätten wir uns nicht vorstellen können, dass uns heute ein Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union beschäftigen würde. Aber wir sind der festen Überzeugung, dass noch nichts verloren ist. So hat ja auch das britische Unterhaus nach einer kontroversen Diskussion entschieden, dass die Ergebnisse der Brexit-Verhandlungen dem Parlament zur Beschlussfassung vorgelegt werden müssen. Es dürfte allemal besser sein, wichtige europäische Entscheidungen mitzubestimmen, statt nur auf diese reagieren zu können. Aber Theresa May und ihr Sammelsurium an Gefolgsleuten und extreme Brexiteers, die nur auf den richtigen Zeitpunkt zum Sturz der Premierministerin warten, werden alles versuchen, das Parlament und die Bürgerschaft in ihren demokratischen Rechten zu beschränken.

Nachgebildete blaue EU-Flagge mit gelben Sternen an einer Hauswand in Dover. Eine "Person" ist dabei, einen Stern zu entfernen.
Banksy rückt mit seinem Street-Art-Kunstwerk den Brexit auf unnachahmliche Art und Weise in den Mittelpunkt. Wer meißelt da wohl gerade einen Stern aus der EU-Fahne heraus? Ist Theresa May in Dover auf die Leiter gestiegen oder ist dies Boris Johnson, der Unruhestifter des Jahres im Vereinigten Königreich? Inzwischen haben wir das Gemälde mehrfach passiert und sind dann kurze Zeit danach auf eine Fähre gerollt: Man möchte am liebsten zurückfahren und den ‚Brexiteer‘ von der Leiter holen. Europa braucht eine reformierte EU mit unserem britischen Nachbarn als wichtigem Mitglied. Für Schnellentschlossene: In der UNESCO-Weltkulturerbestätte Völklinger Hütte ist eine Fotoausstellung zu Banksy’s Werken noch bis zum 4. November zu sehen. Durchaus sehenswert wie das gesamte Ensemble. (Bild: Ulsamer)

Bleiben Sie in unserer Gemeinschaft!

Ja, das möchten wir unseren britischen Nachbarn zurufen. Und wir haben dies auch in einem offenen Brief zu Weihnachten 2017 getan. Wir alle sollten die Bürgerinnen und Bürger im Vereinigten Königreich bestärken, sich weiterhin für einen Verbleib in der EU auszusprechen und zu engagieren. Politische Entscheidungen müssen nicht für immer Bestand haben, und dies gilt auch für das erste Referendum. Heute liegen mehr Informationen vor als damals und es wird immer deutlicher, dass ein Brexit nur Verlierer mit sich bringen wird. Ist es nicht Zeit für den Exit vom Brexit? Theresa May scheut eine Entscheidung des Volkes über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen wie der Teufel das Weihwasser. Ich hoffe, man darf dies heute noch sagen!

Wir hoffen, dass das Vereinigte Königreich mit seinen so unterschiedlichen und interessanten Regionen Teil der Europäischen Union bleiben wird. „Tragen Sie weiterhin mit Ihrer langen demokratischen Geschichte und ihrer außenpolitischen Erfahrung, aber auch ihren kritischen Fragen an die EU-Kommission mit dazu bei, dass wir die EU reformieren und Europa einen Platz in der Zukunft sichern können“, haben wir in unserem offenen Brief geschrieben. Und dies ist weiterhin unser Wunsch und unsere Hoffnung!

 

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