Unschuldige erschießen – keine Straftat?

Britische Nordirlandministerin rechtfertigt Tötungsdelikte

Ausgerechnet in der heißen Phase des Streits um den Backstop, der nach dem Brexit eine harte Grenze in Irland verhindern soll, goss die britische Nordirlandministerin Karen Bradley Öl ins Feuer. Sie erklärte kurzerhand, wenn von Polizei und Militär während des Nordirlandkonfikts unschuldige Menschen erschossen worden seien, dann handle es sich nicht um kriminelle Handlungen. Und sie hatte auch eine völlig perverse Entschuldigung dafür parat: „They were people acting under orders and acting under instruction and fulfilling their duties in a dignified and appropriate way.” Das kommt mir doch sehr bekannt vor, auch aus der deutschen Geschichte. So mancher Nazi-Mörder berief sich auf Anordnungen, die er ‚nur‘ ausgeführt habe. Natürlich kann und will ich die Situation in Nordirland während der bürgerkriegsähnlichen ‚Troubles‘ nicht mit der NS-Diktatur vergleichen, aber es ist für mich immer wieder erschreckend, wie leichtfertig kriminelles Handeln gegen Mitmenschen mit einem ‚Befehlsnotstand‘ gerechtfertigt werden soll – auch wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden.

Karen Bradley im britischen Parlament mit dunkler Jacke und pinkfarbener Bluse.
Karen Bradley erklärte, wenn von Polizei und Militär während des Nordirlandkonflikts unschuldige Menschen erschossen wurden, dann seien dies keine kriminellen Handlungen. Und die britische Ministerin für Nordirland hatte auch eine völlig perverse Entschuldigung dafür parat: Die Soldaten hätten auf Befehl gehandelt und somit nur ihre Pflicht erfüllt. Nicht nur die Opferfamilien, die am Bloody Sunday Angehörige verloren hatten, fühlten sich zutiefst getroffen. Bradley scheint auch völlig übersehen zu haben, dass der frühere Premierminister David Cameron – auch Conservative Party – für das Fehlverhalten der britischen Soldaten 2010 um Verzeihung gebeten hatte. Eine halbherzige Entschuldigung Bradleys konnte den Sturm der Entrüstung unter den Katholiken in Nordirland nicht dämpfen, da sie die inhaltliche Aussage nicht zurücknahm. (Bild: Screenshot, Facebook, 6.3.19)

Karen Bradley sanktioniert staatliche Morde

Zwar versuchte sich die Nordirlandministerin nach einer Welle der Kritik zu rechtfertigen, doch dies dürfte vergeblich sein. Vor allem nahm sie die inhaltliche Feststellung nicht zurück, sondern entschuldigte sich dafür, dass sie andere Menschen durch das Gesagte verletzt haben könnte. Bradleys Weltsicht ist für manche katholische Nordiren ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Regierung Theresa Mays auf die Seite der nordirischen Protestanten geschlagen hat, um sich die Unterstützung der Democratic Unionist Party (DUP) im Britischen Unterhaus zu erhalten. Darüber hinaus sitzt der Frust über die Äußerungen Karen Bradleys viel tiefer, denn über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte wurde die katholische Bevölkerungsgruppe in Irland von der britischen Kolonialmacht unterdrückt. Dies änderte sich nach der Bildung der irischen Republik in den nordirischen Provinzen nicht, die die Briten bis heute als integralen Bestandteil des Vereinigten Königreichs betrachten. Wann immer es um Arbeitsplätze und Wohnungen oder die Teilhabe an der politischen Willensbildung ging, wurden die Katholiken ausgegrenzt. Genau dieser Umstand war auch die eigentliche Ursache des Erstarkens der Irish Republican Army (IRA), denn die religiöse Zuordnung war zwar für die BürgerInnen bedeutsam, doch weit schwerer wog die Ungleichbehandlung in allen Lebensbereichen.

Karen Bradley wollte nicht einsehen, dass auch staatliches Handeln kriminell wird, wenn es sich nicht an den Menschenrechten orientiert. Natürlich bleibt ein Mord ein Mord – egal wer ihn verübt. Doch die britische Nordirlandministerin meint unter Bezug auf Tötungen, die Polizei und Militär zugerechnet werden: “The fewer than 10% that were at the hands of the military and police were not crimes.“ Das sah schon der britische Premierminister David Cameron 2010 gänzlich anders, aber dazu später mehr.

Panzersperren aus Beton blockieren eine Straße.
Die Straßen zwischen Nordirland und der Republik Irland dürfen nicht wieder so aussehen – wie während der ‚Troubles‘! Panzersperren statt freier Durchfahrt! Für die hard Brexiteers spielt es keine Rolle, wenn in Nordirland der blutige Konflikt wieder aufflammt, und daher agitieren sie gegen eine Sonderregelung für Nordirland beim Brexit-Deal. Auch die Democratic Unionist Party (DUP), die Mays Regierung stützt, lehnt eine sogenannte Backstop-Regelung vehement ab. Doch es muss alles politisch Mögliche getan werden, um eine harte Grenze zu verhindern. (Bild: Ulsamer)

Aus Unterdrückung erwuchs Gewalt

Blicken wir kurz auf die nordirische Geschichte zurück. Die katholische Mehrheit war in Irland seit der brutalen Besetzung durch Oliver Cromwell im 17. Jahrhundert an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, Katholiken wurden enteignet, durften weder Kirchen bauen noch einen offiziellen Gottesdienst abhalten. Das mag lange her sein, doch zieht sich die Unterjochung wie ein roter Faden durch die nachfolgenden Jahrhunderte. Selbst oder gerade nach der Gründung der irischen Republik im Jahre 1922 wurde die katholische Minderheit in Nordirland weiterhin als Bürger zweiter Klasse behandelt: Wohnraum in Council Houses erhielten protestantische Mieter, die Katholiken hatten das Nachsehen, und bis heute werden solche von der öffentlichen Hand finanzierten Gebäude insbesondere in protestantischen Bezirken errichtet, obwohl die Bevölkerungszunahme auf katholischer Seite deutlich größer ist. Arbeitsplätze wurden Protestanten zugeschanzt, die Polizei war bis zum Karfreitagsabkommen weitgehend protestantisch besetzt.

Die Liste der Benachteiligungen ließe sich fast endlos fortsetzen. Aus dieser Zurücksetzung und der zunehmenden Gewalt gegen Katholiken durch die nordirische Polizei, protestantische paramilitärische Organisationen und dann auch noch das britische Militär sprang der Funke auf das Pulverfass über, das dann in den ‚Troubles‘ explodierte – eine irische Untertreibung für Blutvergießen und Morde. Die damals kaum noch wahrgenommene Irish Republican Army (IRA) verdankte ihr Wiedererstehen in verschiedenen Ausprägungen der unnachgiebigen Haltung der britischen Regierung und ihrer nordirischen Gefolgsleute. Die Gewaltakte der IRA sollen damit nicht entschuldigt werden, doch wenn Menschen über Jahrhunderte unterdrückt werden, dann steigt der Druck im gesellschaftlichen Kessel und irgendwann kommt der große Knall.

Britischer Soldat mit Schnellfeuergewehr bedroht fliehende Menschen, darunter einen katholischen Pfarrer mit weißem Taschentuch. Dieser versucht, Verletzte in Sicherheit zu bringen.
Murals erinnern im nordirischen Derry an die Tage des gewalttätigen und blutigen Konflikts: So erschossen am Bloody Sunday, dem 30. Januar 1972, britische Fallschirmjäger 13 friedliche Demonstranten, eine Person starb später an ihren Schussverletzungen. Und mit jenem schrecklichen Ereignis, festgehalten in obigem Wandbild, begann sich die Gewaltspirale in Nordirland noch schneller zu drehen. Vor diesem Hintergrund muss auch in Brexit-Tagen alles getan werden, um die Errungenschaften des Karfreitagsabkommens zu sichern. (Bild: Ulsamer)

Der Bloody Sunday – wenn der Staat mordet

Nicht nur die britischen Regierungen in London, sondern auch die protestantischen Gruppierungen verweigerten den Katholiken die Gleichberechtigung. Die nordirische Polizei bestand selbst im 20. Jahrhundert fast komplett aus Protestanten und war zu einem Instrument der Unterdrückung geworden. Als britisches Militär nach Nordirland verlegt wurde, um für Ruhe zu sorgen, wurden sie selbst in katholischen Stadtvierteln noch freundlich und mit großen Hoffnungen empfangen. Doch als britische Fallschirmjäger am 30. Januar 1972 das Feuer auf unbewaffnete und friedliche Demonstranten eröffneten, töteten sie 14 Zivilisten und schufen den ‚Bloody Sunday’ als Symbol der Unterjochung. Auch Kinder verloren ihr Leben, und die britische Armee jegliche Glaubwürdigkeit als Ordnungsmacht. Das Militär war, wie oben angedeutet, zunächst als Moderator, wenn nicht gar als Schutzmacht gegen die Drangsalierung durch die protestantische Polizei und zahllose paramilitärische protestantische Organisationen begrüßt worden, doch nun zu einem weiteren Knüppel der Unterdrückung verkommen.

Nur wenn man dieses und andere Beispiele kennt, kann man auch den Unmut verstehen, den Karen Bradley mit ihrem erneuten Freispruch für Todesschützen in Polizei und Militär auslöste. Wie schwer sich die britische Politik mit Nordirland tut, belegt auch die Tatsache, dass mit Karen Anne Bradley mal wieder ein neuer Secretary of State for Northern Ireland berufen wurde, und damit eine Politikerin ins Amt kam, die vor der Amtsübernahme noch nie ihren Fuß auf nordirische Erde gesetzt hatte.

Boris Johnson mit Kriegsveteranen.
Boris Johnson zählt zu den hard Brexiteers in der Conservative and Unionist Party, der sich bisher jedem Kompromiss entgegenstellte. Ein Blick auf seine Twitter-Seite zeigt ihn umgeben mit Veteranen des Zweiten Weltkriegs, und ganz passend vergleicht er die EU mit Adolf Hitlers Versuch, das Vereinigte Königreich zu unterwerfen. “Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically”, so Boris Johnson und fügte hinzu: „The EU is an attempt to do this by different methods.” Leider steht Boris Johnson mit seinen Ausfällen nicht alleine in der Conservative and Unionist Party. Theresa May ist es nicht gelungen, Polit-Schreihälsen wie Boris Johnson Paroli zu bieten. Und sie stoppt auch Karen Bradley nicht bei ihrem Versuch, staatliche Menschenrechtsverletzungen reinzuwaschen. (Bild: Screenshot, Twitter, 15.1.19)

Zurück ins Empire?

Das alles passt jedoch ins Gesamtbild der Politik Theresa Mays, die sich von hard Brexiteers durchs Parlament und das ganze Land treiben lässt. Diese hard Brexiteers versuchen immer stärker, die Conservative and Unionist Party zu kapern und mit dieser Partei dann wieder in die imperiale Vergangenheit zu segeln. Für viele der hard Brexiteers ist der Backstop für Nordirland noch schwerer zu akzeptieren als ein gemeinsamer Markt oder die Freizügigkeit. Zwar lehnen sie auch diese beiden Grundsätze der Europäischen Union ab, doch eine mögliche Sonderregelung für Nordirland trieb sie endgültig auf die Polit-Palme. Dabei ist ihnen auch völlig gleichgültig, dass durch eine harte Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und der Republik Irland der blutige nordirische Konflikt wieder aufflammen könnte.

Die im Brexit-Deal vorgesehene Notfallregelung – und darum handelt es sich beim Backstop -würde nur greifen, wenn sich die Europäische Union (EU) und das Vereinigte Königreich in der Übergangszeit nicht auf ein (Frei-) Handelsabkommen einigen könnten. Genau dieses hielte ich für eher unwahrscheinlich, weil es auf beiden Seiten des Ärmelkanals gewichtige Argumente für ein Freihandelsabkommen gibt: Jeder würde leiden, wenn sich neue Zollschranken auftäten. Somit geht es den hard Brexiteers im Grunde darum, jeden Eindruck zu vermeiden, Nordirland und der Rest des Vereinigten Königreichs könnten in irgendeiner Phase des Brexits anders behandelt werden: Jacob Rees-Mogg oder Boris Johnson haben den Backstop zu einem solchen Popanz aufgeblasen, dass es mit jedem Tag schwerer wurde, eine sachgerechte Lösung zu finden. Theresa May hätte sich früher um einen parteiübergreifenden Kompromiss im britischen Unterhaus kümmern müssen, stattdessen begab sie sich in die innerparteiliche Geiselhaft der hard Brexiteers und in die Abhängigkeit von der DUP, die ihr eine Mehrheit im britischen Parlament sichern sollte.

Ein"No Entry"-Schild bei der Zufahrt zum nordirischen Parlament im Stormont hat Symbolcharakter. Im Hintergrund das Gebäude.
Seit über zwei Jahren konnten die nordirischen Parteien die im Januar 2017 zerbrochene Koalition der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Fein, der Vertretung der Katholiken, nicht wieder kitten. So werden die Amtsgeschäfte überwiegend von London aus geführt – und dies erinnert viele Nordiren an die Tage, als London allein die politische Macht in Händen hielt. Dieses Fiasko ist zu einem nicht geringen Teil auch der Politik von Theresa May zuzuschreiben: Sie stützt sich im Londoner Unterhaus auf die DUP, und damit wurde das Vereinigte Königreich noch parteiischer als es ansonsten in nordirischen Fragen ist. Die für Nordirland zuständige Ministerin Karen Bradley fördert den Spaltpilz in Nordirland statt diesem mit Dialog und Moderation entgegen zu wirken. (Bild: Ulsamer)

Theresa May als nordirischer Spaltpilz

Die desolate Politik von Theresa May wirkt sich immer negativer auch auf das politische Geschehen in Nordirland aus. Seit zwei Jahren sehen sich die nordirischen Parteien in Belfast außer Stande, die im Januar 2017 zerbrochene Koalition zwischen der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Fein, der Vertretung der Katholiken, wieder neu zu bilden. So werden die Amtsgeschäfte überwiegend – wie seinerzeit während der ‚Troubles‘ – von London aus geführt, und dies obwohl die nordirischen Abgeordneten der Regionalregierung gewählt wurden. Das so skizzierte Fiasko ist zu einem nicht geringen Teil der Politik von Theresa May zuzuschreiben: Sie stützt sich im Londoner Unterhaus auf die DUP, und damit wurde die Regierung des Vereinigten Königreichs von den Katholiken als noch parteiischer empfunden als zuvor. Damit haben sie natürlich nicht ganz Unrecht. Die Politik von Theresa May spaltet die Gesellschaft in Nordirland, anstatt sie zu versöhnen.

Erwähnenswert ist auch, dass die in Nordirland gewählten Abgeordneten von Sinn Fein ihre Sitze im House of Commons in London traditionell nicht einnehmen, da sie im britischen Parlament einen Eid auf Königin Elizabeth leisten müssten. Wäre Sinn Fein im Unterhaus aktiv, dann könnte es für die britische Premierministerin noch enger werden, aber davon ist trotz intensiver Diskussionen unter den katholischen Gruppierungen wohl nicht auszugehen.

Nach dem Bombenanschlag bildet sichein Feuerball über dem Fahrzeug. Links sind die angrenzenden Häuser zu sehen.
Die politische Gewalt darf in Nordirland nicht wieder den Alltag bestimmen. Daher muss das Karfreitagsabkommen aus dem Jahre 1998 auch weiterhin den Weg in die Zukunft bestimmen. Zur Verunsicherung trägt auch bei, dass seit zwei Jahren keine Regionalregierung in Nordirland gebildet werden konnte. Auch dafür trägt Theresa May eine Mitschuld, da sie sich auf die protestantische Democratic Unionist Party im Londoner Unterhaus stützt: Für die katholische Sinn Fein ist dies ein Zeichen der Parteilichkeit von Theresa May. Aber auch die britische Nordirlandministerin Karen Bradley führt die streitenden Parteien nicht zusammen, sondern gießt mit ihrer Aussage zu den Erschießungen von unbewaffneten Zivilisten durch das britische Militär Öl ins Feuer. Im Bild die Explosion einer Autobombe im nordirischen Derry. Die Polizei vermutet die Täter in den Reihen der Splittergruppe ‚New IRA‘. (Bild: Screenshot, Twitter, 19.1.19)

Der Unmut kocht weiter

Eine stabile nordirische Regierung ist von elementarer Bedeutung, denn die verstärkte Abhängigkeit von britischen Regierungsinstitutionen macht für manche katholischen Gruppierungen deutlich, dass der mit dem Karfreitagsabkommen 1998 eingeschlagene Weg in eine politische Sackgasse führt. Ausgerechnet jetzt, wo den Nordiren der Austritt aus der EU aufgedrückt werden soll, den sie beim Referendum mehrheitlich abgelehnt hatten, fehlt eine eigenständige Regierungskraft im Stormont, dem Parlamentssitz Nordirlands. Wenn dann noch eine harte Grenze käme, dann könnten alte Gegensätze wieder aufbrechen und auch in neue Gewalt münden. So ganz ruhig ist es in den vergangenen beiden Jahrzehnten ohnehin nie geworden.

Dies machen nicht nur vereinzelte Gewaltakte deutlich, sondern auch die in manchen Quartieren nordirischer Städte weiterhin gepflegten Vorurteile auf katholischer und protestantischer Seite. Auf den ersten Blick könnten sich Murals an vielen Fassaden als historische Reminiszenzen missdeuten lassen, doch in Gesprächen zeigt sich schnell, dass sich diese Wandbilder auch in vielen Köpfen festgesetzt haben. Und 3 500 Tote während der ‚Troubles‘ genannten bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Nordirland sprechen eine deutliche Sprache. Der Unmut kocht nicht nur auf katholischer Seite weiter, sondern auch bei protestantischen Gruppen, die ihre Vorherrschaft schwinden sehen. Das Karfreitagsabkommen muss daher unbedingt in seiner Gesamtheit gesichert werden. Dies betont zwar Theresa May ebenfalls, aber sie ist eine Meisterin der Sprechblasen. Und wer weiß schon, wer nach ihr im Sessel des Premierministers sitzen wird.

Ein Wandbild zeigt den Aufruf "Never again" unter dem Straßennamen "Bombay Street" und brennenden Häuser.
Nahezu alle Häuser wurden 1969 in der Belfaster Bombay Street niedergebrannt. Ein protestantischer Mob hatte die katholischen Nachbarn heimgesucht. Daran erinnert heute ein Mural an der Fassade eines der wieder aufgebauten Häuser: „Never again”! Und dies sollte für die Gewalt gelten, die von Protestanten, Katholiken, ihren Organisationen, von Polizei und britischem Militär ausging. Eine harte Grenze könnte den Konflikt wieder aufflammen lassen. (Bild: Ulsamer)

David Cameron bekannte sich zur Schuld

Karen Bradley hatte ihre Aussagen sicherlich zeitlich aus ihrer Sicht richtig getimt. Denn es steht eine Entscheidung des Public Prosecution Service in Nordirland an, ob die Mörder vom Bloody Sunday doch noch mit Strafen rechnen müssen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche andere Tötungen durch Polizei und Militär, die nicht entsprechend aufgearbeitet worden sind oder gar zu einer Bestrafung geführt hätten. Tony Blair regte als Labour-Premierminister eine neue Untersuchung des Bloody Sunday an, und sein Nachfolger David Cameron – wie Theresa May Conservative – trat mit den Ergebnissen der Untersuchung von Lord Saville an die Öffentlichkeit und betonte im Juni 2010: “What happened on Bloody Sunday was both unjustified and unjustifiable. It was wrong.“ Und Cameron stellte unter Bezugnahme auf den Saville-Report klar, dass die Schüsse vom Militär ausgingen: „He finds that, on balance, the first shot in the vicinity of the march was fired by the British Army. He finds that none of the casualties shot by the soldiers of support company was armed with a firearm.“

Vielleicht hätte Karen Bradley mal bei David Cameron nachlesen sollen, der sich politisch mutig für die Wahrheit einsetzte: „Lord Saville says that some of those killed or injured were clearly fleeing or going to the assistance of others who were dying. The report refers to one person who was shot while crawling away from the soldiers. Another was shot in all probability when he was lying mortally wounded on the ground.“ Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Soldaten oder Polizisten rechtmäßig handeln, wenn sie unbewaffnete fliehende Menschen niederstrecken oder auf eine Person nochmals aus nächster Nähe feuern, wenn diese bereits tödlich getroffen am Boden liegt.

Gebäude in Derry mit britischer Flagge und der Aufschrift 'No surrender' - keine Aufgabe.
Zwar halten die Protestanten noch immer die Mehrzahl der Schlüsselpositionen in Nordirland besetzt, aber nicht wenige fühlen sich dennoch belagert. Immer häufiger habe ich den Eindruck, dass dieser Realitätsverlust nicht nur auf die nordirische Democratic Unionist Party, sondern auch auf die Regierungspartei in London, die Conservative and Unionist Party, übergesprungen ist. (Bild: Ulsamer)

Verabschieden sich die Konservativen von der Realität?

Theresa May und Karen Bradley sind nur die Spitze eines geschichtsvergessenen Eisbergs, in den sich die Conservative and Unionist Party verwandelt hat. Die Geschichte wird nach Gutdünken parteipolitisch zurechtgebogen. Ein Musterbeispiel für eine zumindest schräge und unhistorische Sicht auf die Welt ist Boris Johnson, der sein Amt als britischer Außenminister aufgab, um sich noch besser als hard Brexiteer gebärden zu können. Er setzte die EU mit Adolf Hitlers Versuch gleich, das Vereinigte Königreich zu unterwerfen. “Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically“. Und er fügte weiter hinzu: „The EU is an attempt to do this by different methods.“ Leider steht Boris Johnson mit seinen Ausfällen nicht alleine in der Conservative and Unionist Party. Ein Blick auf die Twitter-Seite von Boris Johnson zeigt ihn dann ganz ‚passend‘ umgeben von Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Auch bei seinen Äußerungen zum Backstop oder zu Nordirland gewinnt man den Eindruck, er lebe noch in Zeiten des Empires.

Nicht nur beim Brexit habe ich den Eindruck, dass sich ein lautstarker Teil der Conservative and Unionist Party in eine nationalistische Ecke bewegt und eine neue Geschichtsschreibung betreibt. Der Skandal bleibt, auch wenn Karen Bradley versucht hat, ihre Aussagen zu erklären. Wer Vergehen gegen die Menschlichkeit, die Premierminister David Cameron für sein Land eingestanden hatte, zu rechtfertigen versucht, stellt sich außerhalb des britischen und europäischen Werteverständnisses. Wer wie Theresa May eine solche Ministerin im Amt hält, der hat nicht nur beim Brexit jeglichen Kredit verspielt. Hier nochmals David Cameron: „Some members of our armed forces acted wrongly. The government is ultimately responsible for the conduct of the armed forces and for that, on behalf of the government, indeed, on behalf of our country, I am deeply sorry.“ Eine Entschuldigung für das Unrecht, das durch britische Soldaten verübt wurde, hätte auch Karen Bradley gut zu Gesicht gestanden, doch sie rechtfertigte die Mordtaten.

 

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