Höhere Zustimmung in Stuttgart als in Istanbul
Erdogan omnipotent in den türkischen Medien, fast 200 missliebige Medienunternehmen – vom TV-Sender über Nachrichtenagenturen bis zur Zeitung – per Dekret geschlossen, 150 hochkarätige Journalisten mit Hang zur Opposition im Gefängnis, Attacken mit irrwitzigen Nazi-Vorwürfen auf Deutschland und Holland, Massenverhaftungen Andersdenkender, … und dann nur 51% für die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorangetriebene Verfassungsänderung! Und auf dem Weg zum Ziel tauchten dann auch noch Wahlumschläge ohne den offiziellen Stempel auf, die die oberste Wahlkommission zuließ. Bei so viel Einschüchterung und einem völlig unfairen Wahlkampf, da ist die Zustimmungsquote recht bescheiden. Bedenklich stimmt es mich jedoch, dass die von in Deutschland lebenden Türken abgegebenen Stimmen deutlich positiver für Erdogan ausgefallen sind: Über 63 % stimmten für den Zuwachs der Machtfülle ihres Präsidenten. Mit der Integration in Deutschland kann es dann nicht weit her sein!
Wie kann es sein, dass 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland leben, einem Land das hohe Maßstäbe in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie täglich umsetzt und zumeist auch vorlebt, und diese dann für eine Verfassungsänderung stimmen, die die Macht einer Person nicht nur zementiert, sondern weiter erhöht. Und wenn man über den jetzigen Präsidenten hinausdenkt, diese Machtfülle kann auch von Nachfolgern ausgenützt werden – zu welchem Zweck auch immer. Warum lag die Wahlbeteiligung in Deutschland deutlich unter der in der Türkei, wo man in unserem Land doch unbehindert seine Stimme abgeben konnte. Oder resultiert die Zurückhaltung aus Angst vor Repressionen in den Wahllokalen? Das Wort Briefwahl scheint ja in der Türkei unbekannt zu sein!
Parallelgesellschaften verhindern
Für mich als Soziologen ist der deutliche Unterschied zwischen der Zustimmung in der Türkei und bei den in Deutschland lebenden Türken ein Alarmzeichen. Gerade bei Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten in Deutschland leben, sollte man eine andere Einstellung erwarten. Sie machen mit ihrer Stimme den Weg für eine Verfassung frei, die die Macht beim Staatspräsidenten so konzentriert, dass keine effektive parlamentarische Kontrolle möglich ist. Insbesondere dann nicht, wenn die politischen Gegner reihenweise hinter Gitter wandern. Dies erleichtert natürlich die Umsetzung der eigenen Pläne: Im Parlament wurde das Quorum von Dreifünfteln für das Referendum nur erreicht, weil rechtzeitig 11 Abgeordnete der oppositionellen HDP in den Knast gewandert waren. Wer in seiner Wahlheimat Deutschland die Vorteile des Rechtsstaats kennt und nutzt, der sollte eigentlich seine Stimme nicht für ein Vorhaben abgeben, das eben diesen in seinem Herkunftsland gefährdet.
Die Zustimmungsquote in Deutschland, aber auch in Belgien, Österreich und den Niederlanden war deutlich höher als in Istanbul oder Ankara und entsprach in etwa der in Zentralanatolien. Ich hielte es für wünschenswert, wenn wir mehr Detailkenntnisse zur Herkunft der türkischen Wähler, zu ihrem Bildungsstand und ihren beruflichen Aktivitäten hätten. Nur wenn wir gezielter auf unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger eingehen können, haben wir vielleicht eine Chance, sie von unseren Wertvorstellungen zu überzeugen. In den USA stimmten im Übrigen 80% gegen die Verfassungsänderung. Auch innerhalb Deutschlands gab es große Unterschiede: Im Generalkonsulat in Berlin gab es nach den jetzt vorliegenden Zahlen in Patt zwischen Befürwortern und Gegnern der Verfassungsänderung, in Essen brachten es die Befürworter auf 76%, in Düsseldorf auf 70% und in Stuttgart auf 66%.
Dieses Abstimmungsergebnis ist ein deutlicher Beleg dafür, dass sich in Deutschland eine Parallelgesellschaft herausgebildet hat. Wenn wir nicht aufpassen, dann haben wir in einigen Jahren gar eine Vielzahl von Gesellschaften, die nebeneinander her leben oder sich gar im Dauerkonflikt befinden.
Konflikte nicht nach Deutschland tragen
Die Konflikte dieser Welt befinden sich unaufhaltsam auf dem Weg nach Deutschland, wenn nicht die Bereitschaft stärker ausgeprägt ist, die Querelen aus dem Heimatland auch dort zu belassen. Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen Türken und Kurden liefern einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Eine Gesellschaft ist wie ein Mosaik: Wenn jeder seine Glassteinchen für sich behält, dann wird auch kein Ganzes daraus!
Frappierend war es für mich auch, mit welcher Dreistigkeit Erdogan-Fans ihren Wahlkampf nach Deutschland trugen. Jede noch so kleine Einschränkung – sei es auch nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit – wurde sofort als Angriff auf die Ehre des türkischen Volkes umgedeutet. Und dann hagelte es groteske Nazi-Vorwürfe!
Mut der Gegner der Verfassungsänderung bewundernswert
Bei aller Kritik an der Entwicklung in der Türkei, deren Schuld Erdogan, seiner AKP-Partei und seinen Helfershelfern zuzuschreiben ist, sollten wir aber nicht vergessen, dass sich fast die Hälfte aller Wähler in der Türkei seinem Ansinnen widersetzt hat. Das Referendum ist durch ihren Mut nicht zu einem glanzvollen Sieg für Erdogan geworden: Ganz im Gegenteil! Wer die Opposition unterdrücken muss, um auch nur etwas mehr als die Hälfte der Stimmen zu erhalten, der kommt humpelnd ins Ziel. Dies lässt jedoch Schlimmes befürchten: Präsident Erdogan wird die neue Machtfülle nutzen, um noch ungenierter die Opposition an den Rand des politischen Lebens zu drängen, und er wird den Kampf der Kurden für mehr Freiheit noch brutaler unterdrücken. Aber nochmals: Erdogan ist nicht die ganze Türkei, dies belegt das Ergebnis des Referendums.
Mehr Integration tut Not
Weit intensiver als bisher müssen wir uns jedoch Gedanken machen, wie wir viele der bei uns lebenden Menschen türkischer Abstammung zu wirklich integrierten Bürgerinnen und Bürgern unseres freiheitlichen Rechtsstaats machen können. Wer auf Dauer in Deutschland leben möchte, der sollte sich auch mit den Vorteilen von rechtsstaatlichen und demokratischen Lebensformen vertraut machen.
Viele Türken fühlen sich nicht in unsere Gesellschaft einbezogen, aber zu echter Integration gehört auch die Bereitschaft, offen über kritische Themen zu sprechen. Dies gilt gerade auch für den Völkermord an den Armeniern. Eine Resolution des Deutschen Bundestags zu dieser Frage wurde als Kampfansage von vielen Türken aufgefasst. Doch wer sich – wie Deutschland – zu seiner Schuld am Völkermord an den Juden bekennt, der darf auch zu anderen Verbrechen Stellung beziehen. Die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger dürfen aber auch erwarten, dass wir alle anerkennen, dass sie keine „Gastarbeiter“ sind, die irgendwann wieder nach „Hause“ fahren. Wer sich für Deutschland entscheidet, hier dauerhaft lebt und sich integrieren möchte, der muss auch spüren, dass wir dies anerkennen. Wir müssen mehr miteinander und weniger übereinander reden!
Klarer Kurs in der Außenpolitik erforderlich
Außenpolitisch sollten wir gegenüber der Türkei einen klareren Kurs als bisher fahren: Wer die gemeinsamen Werte der Europäischen Union nicht teilt, der hat auch keine Chance auf Aufnahme. Und die EU-Zahlungen für Beitrittsaspiranten sollten eingestellt werden. Gleichzeitig wiederhole ich meine Forderung, die Bundeswehr aus der Türkei abzuziehen und den Kampf gegen den IS von einer anderen Basis aus fortzusetzen. Aber es gilt auch, die Brücken zwischen der Türkei und Deutschland/Europa nicht abzureißen, sondern zu erhalten. Dabei geht es nicht um den fragwürdigen Flüchtlingsdeal, sondern um die Einsicht, dass die Türkei und Deutschland wirtschaftlich und politisch Vorteile aus einer Zusammenarbeit ziehen können. Ehrlichkeit gehört auch in die Politik! Wer falsche Hoffnungen weckt, wer heute bei Menschenrechtsverletzungen wegschaut, der zahlt später die Zeche. Das Abstimmungsergebnis zeigt eine gespaltene Türkei: Dies birgt große Sprengkraft in sich, für die Türkei selbst, die Nachbarn und für uns.
Genau, die Aufschlüsselung, welche Gruppe der in Deutschland lebenden Türken für Erdogan gestimmt hat, wäre sehr interessant. Meine türkische Nachbarschaft spricht schwäbisch und hat sich klar gegen das Vorhaben Erdogans ausgesprochen. Sie trauen sich im Augenblick auch nicht in die Türkei zu reisen.
Den Befürwortern würde ich empfehlen auf die Integration (die aus meiner Sicht im Bezug auf türkische Mitbürger ganz gut funktioniert, bis auf die wenigen die sich nie integrieren werden) zu verzichten und sich in ihre geliebte Türkei zurück zu ziehen.