Angela Merkels Politik nach Gutsherrinnenart
Es gehört zu den Fähigkeiten, die eine Politikerin haben sollte, die eigene Machtbasis zu erhalten oder gar auszubauen. Und wenn dies auch manche Politikerinnen und Politiker leugnen, natürlich möchten sie alle regieren und ihre Ziele umsetzen. Somit liegt Angela Merkel eigentlich richtig, denn mögen auch die Grundsätze ihrer Partei über Bord gehen, sie will das Steuer des deutschen Staatsschiffes weiterhin in Händen halten. Auf ihrem politischen Weg hat sie nicht nur dafür gesorgt, dass mögliche Konkurrenten freiwillig oder mit etwas Nachhilfe die Brücke des CDU-Dampfers verließen, sondern Angela Merkel beförderte auch nach Gutdünken politische Grundsätze als unliebsamen Ballast ins Meer.
Wandel oder Verwandlung?
Alle politischen Parteien müssen sich dem gesellschaftlichen Wandel stellen und diesen in manchen Bereichen auch nachvollziehen, ansonsten haben sie keine Chance, den Meinungsbildungsprozess im echten Sinne mitzugestalten. Ich selbst lege aber Wert darauf, dass eine Partei an der Gestaltung der Veränderungen auf der Basis ihrer Grundüberzeugungen mitarbeitet und diesen nicht nur nachvollzieht. Gegensätzliche Musterbeispiele sind für mich auf der einen Seite allerlei marxistisch-leninistische Grüppchen, die noch immer in Deutschland auf die Weltrevolution hoffen und gar nicht bemerken, dass sie nicht im Führerhaus des Zukunftszugs sitzen, sondern auf dem Abstellgleis gelandet sind. In diesen Organisationen fehlt es an der Erkenntnis, dass Max Weber recht hat, der vom Politiker fordert, „mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“, die Themen anzugehen. Mag die Leidenschaft für die Umsetzung politischer Ziele auch vorhanden sein, am Augenmaß fehlt es allemal bei den genannten Grüppchen.
Aber es gibt auch Parteien, die ihre Grundüberzeugungen nicht nur beim Marsch in die Zukunft am Wegesrand vergessen, sondern diese aus einem Machtimpuls heraus ganz bewusst entsorgen. Und hier sehe ich inzwischen die CDU unter Angela Merkel als Musterbeispiel an. Einschränkend möchte ich anmerken, dass die Aufgabe von Grundsatzpositionen selbstredend in Ordnung geht, wenn sie nach entsprechenden Diskussionen auf Parteitagsbeschlüssen beruhen und nicht durch die Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin nach Gutsherrinnenart erfolgt.
Befreiungsschlag zerdeppert CDU-Werte
Jüngstes und geradezu exemplarisches Beispiel ist die lange Jahre „gehegte“ Ablehnung der Ehe für Homosexuelle: Als Angela Merkel erkennen musste, dass ihre potentiellen Koalitionspartner einen Einstieg in ihre nächste Regierung nur erwägen werden, wenn das Nein zur Homo-Ehe fällt, da war die Zeit gekommen, „liebgewordene“ Grundsätze aufzugeben. Doch wie fädelt man dies ein, wenn Eile geboten ist und Diskussionen in Parteigremien kaum das gewünschte Ergebnis bringen würden? Angela Merkel wurde bei „Brigitte Live“ die alles entscheidende Frage nach der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gestellt – was für ein Zufall! Und sie signalisierte Offenheit für eine Entscheidung der Parlamentarier ohne Fraktionszwang – sprich, jede oder jeder möge nach seinem Gewissen entscheiden. Im Grunde wäre dies keine Meldung wert gewesen, denn unsere Abgeordneten sind ohnehin ihrem Gewissen und nicht ihrer Partei verpflichtet. Irgendwie muss ich unser Grundgesetz falsch verstanden haben, denn dort heißt es ja über die Bundestagsabgeordneten: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Warum entdecken unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter ihr Gewissen erst dann, wenn die Kanzlerin eine Gewissensentscheidung andeutet? Geradezu belustigend und traurig zugleich ist es, wenn dann SPD, Grüne und Linke ihre Chance entdecken: Sie hätten doch die ganze Wahlperiode über ihrem Gewissen folgen können!
Angela Merkel hatte das Tor aufgestoßen und die SPD forderte wie Grüne und Linke nun eiligst den Weg für die Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren freizumachen. Schnell wurde noch in der letzten Woche der Legislaturperiode eine Abstimmung anberaumt. Diese ungewohnte Schnelligkeit wurde dann zwar von Teilen der CDU kritisiert, aber aufhalten ließ sich diese Welle nicht mehr. Angela Merkel hat so ihr Ziel erreicht: Das im Wahlkampf schwierige Thema der gleichgeschlechtlichen Ehe ist vom Tisch, späteren Gesprächen mit möglichen Koalitionspartnern – einschließlich der FDP – steht dann nichts mehr im Wege. Und sollte Angela Merkel mit ihrem Wahlverein die höchste Stimmenzahl in der Bundestagswahl am 24. September einfahren, dann kann es ja in gewohnter Weise weitergehen. Mag der Flurschaden in der CDU, aber auch in der CSU groß sein, dem Machterhalt wurde eben wieder eine Grundsatzposition geopfert.
Ehe für alle – und Macht für Angie
Wenn Bundeskanzlerin Merkel nicht jetzt die Gewissensentscheidung ins Spiel gebracht hätte, dann wäre die bisherige Vorstellung von „Ehe“ eben in den Koalitionsverhandlungen geopfert worden. So sieht es für mich eleganter aus, und Angela Merkel konnte für die schwindende konservative, christlich orientierte Klientel im Bundestag medienwirksam gegen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare stimmen. So hat Tricky Angie das Thema vom Hals und beim einen oder anderen Wähler vielleicht doch noch einen Pluspunkt erzielt.
Laut gemeckert wird wenig, denn wer möchte es sich schon mit der Großen Vorsitzenden verscherzen. Beinahe ein wenig einsam meldete sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach zu Wort: „Wir müssen uns doch fragen: Gibt es überhaupt noch politische Positionen, für welche die Union unverwechselbar steht, mit denen wir gegenüber anderen Parteien unterscheidbar sind? Oder ändern wir, wenn es gerade politisch opportun ist, unsere Haltung?“ (Stuttgarter Zeitung, 29.6.17)
Bei all der Begeisterung, die in manchen Bevölkerungskreisen nach dem Bundestagsentscheid aufkam, sollte man die politische Taktiererei nicht vergessen, die bei allen Parteien die eigentliche Bedeutung des Themas in den Hintergrund treten ließ. Das letzte Wort ist wohl auch noch nicht zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gesprochen. So äußerte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, gegenüber dem „Spiegel“ Bedenken: “Wenn man die Ehe öffnen will, muss man das Grundgesetz ändern”, und betonte “das kann der einfache Gesetzgeber nicht machen.”
Persönlich hätte ich im Bundestag, wenn ich denn dort säße, mit Nein gestimmt, aber ich achte auch die Befürworter. Als störend empfand ich jedoch die Vorgehensweise: Solche Entscheidungen sollten ihren Ursprung im Bundestag haben und nicht in einem Talk bei „Brigitte Live“. Noch weniger Verständnis habe ich, wenn im Deutschen Bundestag der grüne Abgeordnete Volker Beck von seinen Fraktionskolleginnen und Kollegen unmittelbar nach der Entscheidung mit Konfetti beworfen wird. Als Lobbyist in eigner Sache hat er zwar einen Erfolg erzielt, aber Karneval gehört nicht ins Hohe Haus.
Politik per Medienbotschaft
Alleine ist Angela Merkel nicht, wenn sie grundlegende politische Botschaften über die Medien verkündet, so wie bei der Ehe für alle im Rahmen eines Termins bei der Zeitschrift „Brigitte“, denn auch Sigmar Gabriel verkündete seinen Rücktritt als SPD-Vorsitzender und seinen Wechsel im Regierungsamt lieber über ein Exklusivgespräch mit dem „stern“ als im Kreise des Parteivorstands. “Um einen Wahlkampf wirklich erfolgreich zu führen, gibt es zwei Grundvoraussetzungen: Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzen wollen. Beides trifft auf mich nicht in ausreichendem Maße zu.”
So fallen eben einmal die Genossinnen und Genossen der SPD aus allen Wolken und das nächste Mal die Mitglieder der CDU. Irgendwie erinnert mich das auch an Donald Trump, der nicht so gerne im Weißen Haus sitzt und daher lieber seine Entscheidungen per Twitter in die Welt posaunt. Auch in seinem Fall ist dann das Umfeld bemüht, die Scherben wieder zusammen zu klauben und die Vorgehensweise zu beschönigen. Unsere politische Kultur leidet, wenn politische Entscheidungen nicht mehr im dafür vorgesehenen Raum diskutiert werden, sondern die Bürgerschaft per Medienbotschaft erreichen.
Einsame Entscheidung mit weitreichenden Folgen
So richtig überrascht hat es mich allerdings nicht, dass die Bundeskanzlerin bei der Ehe für alle Entscheidungen trifft und Tore aufstößt, ohne ihren Sinneswandel ausreichend vorher zu argumentieren. In gleicher Weise – und für mich mit schwerwiegenderen Folgen – ließ sie 2015 eine unkontrollierte Migration nach Deutschland zu. Das Dublin-Abkommen, das die Prüfung von Asylanträgen im ersten EU-Land vorsieht, welches die betreffende Person erreicht, wurde durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin gewissermaßen aufgehoben. Gleiches gilt für das Schengener-Abkommen, denn der Schutz der EU-Außengrenzen wurde rechtlich fixiert, um die Grenzkontrollen innerhalb der EU aufheben zu können. Eine Folge der Handlungsweise der Kanzlerin war die Einrichtung von Grenzkontrollen zwischen einzelnen EU-Staaten, denn nicht alle wollten den deutschen Sonderweg mitgehen. Eigentlich gab es in den anderen EU-Staaten nicht nur kein Verständnis für die Entscheidung von Angela Merkel, sondern diese traf auf breite Ablehnung.
Die sich ungesteuert entwickelnde Migrationskrise führte auch zum Aufflammen verschiedener Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Nicht alle Partner stimmten einer Verteilung von Flüchtlingen nach festen Quoten zu, und sie hatten schon gar keine Lust, die von Angela Merkel eingeladenen Gäste bei sich aufzunehmen. Manche deutschen und EU-Politiker winkten dann mit der Finanzkeule, um die widerspenstigen mittel-osteuropäischen Regierungen zur „Räson“ zu bringen, aber vergeblich. „Wir schaffen das“-Aufrufe mögen viele in Deutschland und Europa nicht mehr hören, wenn tragfähige und zukunftsorientierte Lösungen fehlen.
Wenn die Europäische Union eine positive Zukunft haben soll, müssen einsame Entscheidungen der deutschen Kanzlerin unterbleiben, die dramatische Folgen für unsere Nachbarn und die europäische Einheit haben. Die Redner beim europäischen Staatsakt haben unterstrichen, dass es Helmut Kohl immer um ein europäisches Deutschland und nicht um ein deutsches Europa ging. Dies ist eine völlig richtige und auch die einzige Grundlage für die Haltung unseres Landes.
Verfassungsfragen perlen ab
Ein echtes Phänomen ist es für mich, dass Kritik seit Jahren an Angela Merkel wie an einer Teflonschicht abperlt. Selbst kritische Anmerkungen der früheren Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier und Udo Di Fabio blieben bei der Migrationskrise folgenlos. Professor Papier unterstrich gegenüber dem Handelsblatt: „Der Verfassungsstaat muss funktionieren, er darf durch die Politik nicht aus den Angeln gehoben werden. Sie hat die zentrale Verpflichtung, Gefahren entgegenzutreten, die durch eine dauerhafte, unlimitierte und unkontrollierte Migration in einem noch nie da gewesenen Ausmaß entstehen können.“ Sein früherer Kollege Professor Di Fabio betonte in einem Gutachten mit dem Titel „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“: „Das Grundgesetz setzt die Beherrschbarkeit der Staatsgrenzen und die Kontrolle über die auf dem Staatsgebiet befindlichen Personen voraus.”
Davon waren wir in Deutschland 2015 weit entfernt. Und das Flüchtlingsproblem ist doch nicht wirklich gelöst, denn nur die Grenzschließungen durch andere EU-Staaten, für die sie natürlich gescholten werden, die fragwürdige Übereinkunft mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und das Anlanden der Flüchtlinge in Italien hat bis heute zu einer Beruhigung in Deutschland geführt. Es ein Ding der Unmöglichkeit, dass Schiffe europäischer Staaten und verschiedener Hilfsorganisationen Flüchtlinge bergen, die von gewissenlosen Schleppern auf das Meer geschickt werden, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie Italien die Flüchtlinge versorgen, ihre Asylanträge bearbeiten oder diese gar integrieren soll.
Partei oder Wahlverein?
Angela Merkel mutet ihrer Partei viel zu, und dennoch sind kritische Äußerungen kaum zu vernehmen. Die Grundwerte ihrer Partei, die sich bis heute mit Begriffen wie christlich und demokratisch schmückt, Stück für Stück aufzugeben, hat in den letzten Jahren zu einer Erosion der geistigen Grundlagen der CDU geführt. Übertüncht wird dies jedoch durch den Machterhalt: Wahl für Wahl gewinnt Angela Merkel. Auch der nächste Sieg wird immer greifbarer, da ihr Konkurrent Martin Schulz nach einem kurzen Höhenflug in den letzten Wochen in den Sinkflug übergegangen ist. So hat sich die CDU unter Angela Merkel zumindest im Bund, denn über Jahre ging – bis vor kurzem – ein Bundesland nach dem anderen verloren, als Wahlverein für die Kanzlerin bewährt.
Nicht nur die Ehe für alle oder das ungelöste Flüchtlingsproblem hat Merkel ohne größere Blessuren überstanden. Auch den Grünen entriss sie 2011 mit dem Atomausstieg ihren langjährigen Quotenbringer. Gewissermaßen über Nacht, denn noch ein Jahr zuvor hatte sie im Sinne der CDU-Politik eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt. Aus Kreisen der Wirtschaft und anderer Kernkraftbefürworter hat man ihr diese abrupte Wendung wohl verziehen und die Grünen sind im Bund noch immer auf der Suche nach einem zentralen Parteiziel.
Die Aussetzung der Wehrpflicht, eine Frauenquote für Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen, die Einführung des Mindestlohns oder die Beibehaltung der doppelten Staatsbürgerschaft entgegen einem Votum des CDU-Parteitags, dies alles waren Schritte, die ihre Stammklientel kaum mittragen wollte, aber letztendlich folgt ihr Wahlverein der Vorsitzenden, auch wenn sie dabei die zertrümmerten Reste ihrer CDU-Grundwerte passieren.
Entpolitisierung der Politik
Wenn Entscheidungen wie bei der Ehe für alle oder der Grenzöffnung wie aus heiterem Himmel kommen, dann führt dies auch zu einer Entpolitisierung der Politik. Max Weber sah nicht nur Leidenschaft und Augenmaß als wichtige Qualitäten von Politikerinnen und Politikern an, sondern ergänzte dies durch das notwendige Verantwortungsgefühl. Gerade an letzterem fehlt es jedoch, wenn Blitzentscheidungen an der Tagesordnung sind und andere Themen wie die Stärkung der Innovationsbereitschaft, Verbesserung des Bildungsangebots oder Erhalt der Alterssicherung – trotz Mario Draghis Nullzinspolitik – zu kurz kommen.
Verantwortung in der Politik heißt auch, wichtige Themen nicht nach parteitaktischen Opportunitäten zu entscheiden oder gar der Öffentlichkeit ein Geschacher darzubieten.
Auch wenn Tricky Angie die Wahl im September gewinnt, wie sieht die Zukunft aus? Kann eine Partei mit zerbröselnden Grundwerten auf Dauer bestehen? Wird eine solche Partei eines Tages ohne ihre Große Vorsitzende nicht austauschbar, vielleicht sogar überflüssig? Provoziert Angela Merkel so nicht die Entstehung einer konservativen Partei neben der CDU? Die Tage der Gutsherrinnen sind allemal vorbei, darüber kann auch der Sessel im Kanzleramt nicht hinwegtäuschen. Für mich hat die Kanzlerinnendämmerung eingesetzt, auch wenn sie als wichtigste Politikerin der westlichen Hemisphäre gilt.
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