Rote Listen: Die Biodiversität schmilzt dahin
Viele Menschen scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass eine Studie nach der anderen auf ein dramatisches Artensterben hinweist. Mal wird ein Insektenschwund um 75 % in drei Jahrzehnten wissenschaftlich belegt, dann eine Reduzierung der Schwebfliegen in einem halben Jahrhundert um 97 %. Doch die Aufregung legt sich schnell wieder, wenn die Erkenntnisse überhaupt auf Aufmerksamkeit treffen. Tiger oder Wale in anderen Regionen oder Feldhamster und Feldhase in Deutschland, sie sind ebenfalls vom Aussterben bedroht. Einen interessanten Weg haben Axel Hochkirch und seine Mitautorinnen und -autoren beschritten mit ihrer im Internet-Fachmagazin PLOS One veröffentlichten Studie ‚A multi-taxon analysis of European Red Lists reveals major threats to biodiversity‘. Ausgewertet wurden die Roten Listen für Deutschland und Europa: Fast ein Fünftel der erfassten Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht! Weltweit könnten nach Schätzungen der Autoren in den nächsten Jahrzehnten zwei Millionen Arten verschwinden. Die an der Untersuchung beteiligten Wissenschaftler sehen diese negative Entwicklung nicht als unumkehrbar an, wenn wir die Formen der Landnutzung naturnäher gestalten – und zwar in Stadt und Land. „We already have enough evidence at hand to act—what we are missing is action“, so Axel Hochkirch u. a. Ja, exakt, es gibt wirklich eine Vielzahl an belastbaren Daten, die die Gründe für das Artensterben herausarbeiten, doch es fehlt in Gesellschaft und Politik am entsprechenden Handeln. Der Schutz der Natur, von Tieren und Pflanzen muss jetzt intensiviert werden, ansonsten verlieren wir immer mehr Arten – in Deutschland, Europa und der Welt.
Existenz eines Fünftels der Tiere und Pflanzen bedroht
Natürlich geben die Roten Listen keinen kompletten Überblick über die Tier- und Pflanzenarten in Europa, denn die erfassten 14 669 auf dem Land, im Süßwasser oder im Meer lebenden Arten entsprechen rd. einem Zehntel der europäischen Fauna und Flora. Aufgenommen wurden in die Roten Listen jedoch alle Wirbeltierarten, daher haben sie gerade für diesen Bereich eine besonders hohe Aussagekraft. 19 % der erfassten Arten sind vom Aussterben bedroht, bei den Wirbellosen, zu denen die Insekten zählen, trifft das sogar auf 24 % zu. Bei Wirbeltieren steht in den nächsten Jahrzehnten die Existenz von 18 % der Arten auf dem Spiel, bei den Pflanzen sind es 27 %. Diese Ergebnisse sind erschreckend, denn in der Realität dauert es häufig lange, bis eine Tier- oder Pflanzenart in den Roten Listen als gefährdet, stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht eingestuft wird. Manche Tiere oder Pflanzen werden in unserer Welt erstmals bestimmt und schon läutet ihr Sterbeglöckchen. 50 der erfassten europäischen Arten sind der Studie folgend bereits regional, in Freiheit oder insgesamt ausgestorben, weitere 75 Arten sind möglicherweise ausgestorben. Weltweit sind danach zwei der geschätzten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht – eine Verdoppelung im Vergleich zu den Schätzungen der Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) aus dem Jahre 2019 und somit ein weiterer Beleg dafür, dass sich das Artensterben ungebremst fortsetzt. Durchaus gibt es auf der anderen Seite aber auch Erfolge bei der Erhaltung bestimmter Arten: Wanderfalke, Uhu, Kraniche, Biber … um nur diese zu nennen, haben sich erfreulicherweise dort wieder in ihrem Bestand erholt, wo die Lebensräume stimmen oder deutliche Schutzmaßnahmen ergriffen worden sind.
Die Analyse von Hochkirch u. a. betont, dass die heutige Form der landwirtschaftlichen Nutzung die wichtigste Bedrohung für die Biodiversität, für die Pflanzen und Tiere in Europa darstellt. Danach folgen die Übernutzung der natürlichen Ressourcen (z. B. Fische), Ausweitung der Wohn- und Gewerbeflächen sowie die Umweltverschmutzung. Der Klimawandel, der verlängerte Dürreperioden mit vermehrten Wald- und anderen Flächenbränden sowie zusätzlicher Wasserentnahme für Mensch und Gewerbe mit sich bringt, ist für viele Arten eine zentrale Bedrohung in der Zukunft. Die Autoren der Studie legen den Finger in die Wunde, wenn sie explizit auf die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU hinweisen, die durch ihre Subventionen zu einer Intensivierung der Landwirtschaft geführt hat. Größere Äcker, schwerere Maschinen, Dünger und Pestizide haben die landwirtschaftlichen Flächen immer weiter von der Natur entfernt. Bei den angebauten Feldfrüchten ist die Variantenzahl kleiner geworden und mehr ‘Nutztiere‘ werden auf der gleichen Fläche gehalten. Zu den Belastungen für Pflanzen und Tiere tragen auch die Entwässerung bei, die gerade in Zeiten der Erderwärmung ihre Schattenseiten überdeutlich zeigt, genauso wie das häufigere Mähen von Grünland. „While improvements to the CAP have constantly been proposed, the recent policy reform remained rather unambitious in this regard despite the promising wind of change brought by the European Green Deal“, so die Studie. Sehr zutreffend! In der EU wird gerne über Reformen der Agrarpolitik (CAP) gesprochen, doch wie die Verlängerung der Zulassung von Glyphosat unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen belegt, fehlt es an konsequentem Handeln, um Ökologie und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt zu rücken. Mehr zu diesem Thema finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, in meinem Blog-Beitrag: ‚EU: Green Deal im Glyphosatnebel verschollen. EU-Kommission hat kein Herz für Insekten und Wildkräuter‘. Leider sind auch weite Teile des Europarlaments, das jüngst mehrheitlich eine Reduzierung des Pestizideinsatzes um die Hälfte bis 2030 ablehnte, nicht auf der Seite der Natur zu finden. Die EU ist kein Treiber des Naturschutzes, sondern ein Verhinderer ökologischer Verbesserungen!
Palaver hilft der Natur nicht
Die Überblicksstudie von Axel Hochkirch u. a. verstärkt die ohnehin gewichtige Datenbasis zum Artensterben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, so z. B. wollen der Würzburger Professor Jörg Müller und seine Studienkollegen die Hauptursache für den Insektenschwund in den letzten Jahrzehnten allen Ernstes in Wetteranomalien entdeckt haben, ist die Erkenntnis weit verbreitet, dass gerade die immer intensivere Landwirtschaft – neben ausufernden Flächen für Wohnen, Gewerbe und Verkehr – eine der Hauptursachen für das Artensterben ist. Wissenschaftliche Belege und persönliche Erkenntnis ist das eine, doch die Umsetzung von notwendigen Veränderungen ist das andere. Wir häufen kontinuierlich mehr Informationen zu den Ursachen des Artensterbens an, was in besonderem Maße für Insekten und Vögel gilt, doch eine zögerliche Politik ist weder in Deutschland noch auf EU-Ebene in der Lage oder willens, das Ruder herumzuwerfen und in Richtung Natur zu steuern. Als besonderer Bremser, wenn es um mehr Ökologie geht, ist der Deutsche Bauernverband zu nennen, der mit seiner Politik in Kauf nimmt, dass nicht nur Insekten sterben und die Artenvielfalt abnimmt, sondern in gleicher Weise die kleineren familiengeführten bäuerlichen Betriebe ihr Leben aushauchen.
Wenn unsere Gesellschaften nicht deutlich naturnäher wirtschaften, dann gesellt sich zum Klimawandel ein immer schnelleres Artensterben rund um den Globus! Im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft, aber auch der Verstädterung und Industrialisierung sowie des Ausbaus der Verkehrsnetze, verschwanden Tümpel und Weiher aus unserer Landschaft, Hecken und Lesesteinhügel wurden plattgewalzt, Beton und Asphalt drangen in nahezu jeden Zipfel vor, aus Wäldern wurde Forst, Monokulturen zerstörten die Artenvielfalt. Deshalb kommt es jetzt darauf an, der Natur wieder mehr Raum zuzubilligen, was durchaus möglich ist. Trockengelegte Moore müssen vernässt werden, um das klimaschädliche CO2 zu binden und gleichzeitig Lebensraum für spezifische Pflanzen und Tiere zu schaffen. Dies ist nur ein Beispiel, das sich bei gutem Willen umsetzen lässt. Die Aufgabe ist, Bäche und Flüsse aus ihrem engen Korsett zu befreien, damit sie naturnäher durch die Landschaft fließen können. Mehr blühende Wiesen und Ackersäume benötigt unser Land und Wälder, die sich durch Naturverjüngung entwickeln können. Lasst Rinder, Schweine und Hühner wieder aus den Massenställen, dann finden viele Insekten in oder an den Hinterlassenschaften Nahrung auf der Weide, und notleidende Vogelarten haben eine Chance auf leckere Happen. So möchte ich zum Schluss nochmals die Studie von Axel Hochkirch und seinen Mitautoren zitieren: „Biodiversity is the foundation underpinning food security, human wellbeing and wealth generation and securing a future for European life requires greener agriculture and fishing policies and a rapid phasing out of incentives detrimental to biodiversity in agriculture, forestry, fisheries and energy production are needed.“ Da kann ich nur zustimmen, denn wenn die Biodiversität weiter schwindet, dann zerstört dies das Fundament, auf dem die menschliche Gesellschaft steht. Und falsche Anreize müssen beendet werden, die die Zerstörung der Artenvielfalt fördern, was in besonderer Weise für die EU-Agrarpolitik zutrifft. Palaver hilft den Tieren, Pflanzen und Pilzen nicht, sie benötigen einfach mehr Lebensraum. Wer die Natur zerstört, der zerstört die Lebensgrundlage für sich und nachwachsende Generationen. Wir dürfen nicht länger zusehen, wie die Artenvielfalt schwindet, Tier- und Pflanzenarten aussterben!
Zum Beitragsbild
Schmetterlinge haben es zunehmend schwerer in einer naturfernen Landschaft, in denen Insektizide zur tödlichen Gefahr werden und Herbizide ihnen die Nahrung rauben. Von 189 Tagfalterarten werden 184 in den bundesdeutschen Roten Listen erfasst, und das Ergebnis ist erschreckend: „42 % der bewerteten Tagfalterarten gelten als ausgestorben oder bestandsgefährdet. Lediglich 31 % sind derzeit noch ungefährdet, weitere 11 % stehen auf der Vorwarnliste. Als extrem selten gelten 12 %, der Rest (4 %) kann aufgrund fehlender Daten nicht eingestuft werden“, so das Rote Listen Zentrum. Werden z. B. Brennnesseln aus Gärten, Parks oder auf landwirtschaftlichen Flächen vernichtet, dann fehlt es den Raupen von Tagpfauenauge, Kleiner Fuchs oder Admiral an Nahrung. Im Bild der Große Eisvogel, der in der Roten Liste Deutschland als stark gefährdet eingestuft ist. (Bild: Ulsamer)
3 Antworten auf „Tieren und Pflanzen beim Aussterben zusehen?“