EU-Brexit-Verhandlungen brauchen Klarheit und keine Nebelkerzen
Immer häufiger werden uns Bürgerinnen und Bürgern am frühen Morgen neue Weisheiten aus der Politik präsentiert: Wieder mal haben die Politikerinnen und Politiker im Einsatz für uns die Nacht durchgezecht, ach nein, durchverhandelt. „Erster Durchbruch beim Brexit“, vermeldete die „Tagesschau“ im Internet. „Wir haben den Durchbruch, den wir brauchen“, verkündet der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Da zucke ich schon zusammen, denn er ist zwar ein Spezialist für die Verschleierung, aber keinesfalls für die Lösung von Problemen. Und dann heißt es bei „tagesschau.de“: „Auch die Nordirland-Frage ist gelöst.“ Das klang für mich so gut, dass ich noch vor dem Frühstück den Text des „Joint report from the negotiators of the European Union and the United Kingdom Government on progress during phase 1 of negotiations under Article 50 TEU on the United Kingdom’s orderly withdrawal from the European Union“ aufrief.
Der Titel des Dokuments ist nicht nur sperrig, sondern das gesamte Verhandlungspapier auch eine Ansammlung von bekannten Allgemeinplätzen. Da kann ich nur sagen: Wären die Verhandlungsteams doch früher zu Bett gegangen und hätten am nächsten Tag frisch und munter zumindest einige Lösungen für die Umsetzung der prinzipiell richtigen Grundsätze erarbeitet. Für diesen ‚Joint Report‘ hätte Theresa May auch nicht zu nachtschlafender Zeit von London nach Brüssel fliegen müssen. Ähnlich empfinde ich es immer wieder, wenn, wie bei den fehlgeschlagenen Sondierungsgesprächen zur ‚Jamaika‘-Koalition oder auch nach Tarifgesprächen, übermüdete Kontrahenten vor die Presse treten. Nur selten ist es zum Vorteil für die Bürgerinnen und Bürger, wenn der oder die mit dem besten Sitzfleisch einen Erfolg einfährt.
Nordirland: Aufflammen von Konflikten verhindern
Frappierend ist es für mich auch, dass weitere Medien – gerade auch öffentlich-rechtliche Sender – in gleicher Weise über die Mogelpackung von Juncker und May berichten, als wären wir z.B. einer Lösung für die Fragen näher gerückt, die sich in Irland auftun. Zentrales Ziel muss es sein, eine ‚harte Grenze‘ zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und der Republik Irland, die in der EU ist und bleibt, zu vermeiden. Dabei geht es nicht in erster Linie um wirtschaftliche Themen, sondern um die Sicherung der Friedensbemühungen in Nordirland, die seit dem Karfreitagsabkommen im Jahr 1998 große Fortschritte gemacht haben.
In manchen Bevölkerungskreisen – sei es auf katholischer oder protestantischer Seite – brodelt es noch immer, denn viele soziale und wirtschaftliche Hindernisse wurden bis heute nicht aus dem Weg geräumt. So könnte eine ‚harte Grenze‘ mit Grenzkontrollen den nordirischen Katholiken wieder das Gefühl vermitteln, sie würden von der Republik getrennt und wieder einer als ‚protestantisch‘ eingestuften Kolonialmacht in London ausgeliefert. Andererseits wehren sich die protestantischen Parteien wie die Democratic Unionist Party (DUP) vehement gegen alle Regelungen, die den Eindruck erwecken könnten, sie würden vom Vereinigten Königreich abgeschnitten.
Erschwerend kommt hinzu, dass Theresa May seit ihrer vorgezogenen Parlamentswahl keine eigene Mehrheit im britischen Unterhaus mehr besitzt und auf Gedeih und Verderb auf die Unterstützung der DUP in Westminster angewiesen ist. In der irischen Republik und bei den Katholiken in Nordirland wurde es schon als gravierender Richtungswechsel empfunden, dass die Regierung in London nicht mal mehr in Ansätzen als ‚unparteiischer‘ Moderator oder zumindest als Sachwalter des Karfreitagsabkommens agiert, sondern als Vertreter der nordirischen DUP und weiterer ähnlicher Organisationen. Theresa May trägt schon jetzt eine Mitschuld an den Problemen, die sich bei der Bildung einer neuen Regionalregierung in Nordirland auftun, daher zweifle ich auch daran, dass sie bei ihren Entscheidungen stets auch die Belange der irischen Insel berücksichtigt. Und Juncker hat bisher auch bei den aufflammenden regionalen Bestrebungen in Katalonien jedes Fingerspitzengefühl vermissen lassen. Was ist also von Übereinkünften zu halten, die May und Juncker schließen und dabei doch nur an den eigenen Machterhalt denken?
Keinen echten Schritt weiter!
Natürlich ist es begrüßenswert, wenn sich sowohl das Vereinigte Königreich als EU-Flüchtling als auch die EU-Kommission in einem Papier dazu bekennen, die Errungenschaften des Karfreitagsabkommens zu erhalten und dazu gehören die Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern auf der irischen Insel oder auch die Nord-Süd-Zusammenarbeit unterschiedlichster Institutionen über die ‚Grenze‘ zwischen Nordirland und der Republik Irland hinweg. Nicht vergessen sollten alle beteiligten Politiker, dass die politischen Unruhen in Nordirland von den 1960er Jahren bis zum Karfreitagsabkommen mehrere tausend Menschen das Leben kosteten und alles Menschenmögliche getan werden muss, um den Frieden zu erhalten und weiter zu stabilisieren.
„Both Parties affirm that the achievements, benefits and commitments of the peace process will remain of paramount importance to peace, stability and reconciliation“, so heißt es im gemeinsamen Papier von EU und Vereinigtem Königreich. Und ich hoffe, dass die Beteiligten die Errungenschaften und Verpflichtungen aus dem Friedensprozess in ihrer Bedeutung richtig einschätzen und diese fördern. Auch der Grundsatz soll gesichert werden, dass Nordiren weiterhin das Recht haben, sich für eine irische oder britische Staatsbürgerschaft oder für beide zu entscheiden.
„The United Kingdom respects Ireland’s ongoing membership of the European Union and all of the corresponding rights and obligations that entails, in particular Ireland’s place in the Internal Market and the Customs Union. The United Kingdom also recalls its commitment to preserving the integrity of its internal market and Northern Ireland’s place within it, as the United Kingdom leaves the European Union’s Internal Market and Customs Union.“ Liest sich doch gut- oder? Im Grunde sind dies Aussagen, die man gut unterschreiben kann, denn es wäre ja auch noch schöner, wenn das Vereinigte Königreich die Mitgliedschaft der Republik Irland mit den entsprechenden Folgerungen nicht respektieren würde – und gleiches gilt natürlich auch für den Einschluss Nordirlands in den britischen Binnenmarkt. Aber wie passt dies dann mit der Zusage zusammen, eine ‚harte Grenze‘ zu verhindern?
Wie wird die Ausnahmeregelung aussehen?
„The United Kingdom remains committed to protecting North-South cooperation and to its guarantee of avoiding a hard border.“ Ein weiterer schöner Satz aus dem zweifelhaften Papier, das May und Juncker so freudig vorstellten. Kein einziger Hinweis findet sich im ganzen Papier dazu, wie denn eine ‚harte Grenze‘ vermieden werden kann, wenn Nordirland zum britischen Binnenmarkt gehört, die Republik Irland dagegen im Binnenmarkt der Europäischen Union (EU) wirtschaftlich aktiv ist. Wie sollen die wirtschaftlichen Abläufe dann ohne Grenzkontrollen möglich sein? Selbstredend könnte Nordirland als eine Art Sonderwirtschaftsgebiet mit eigenem Status offene Grenzen zur Republik haben, aber dann würde gewissermaßen die Außengrenze zwischen der britischen Insel und Irland in der Irischen See verlaufen. Schon die Idee brachte nicht nur die DUP auf die Palme und deren Vorsitzende Arlene Foster bremste Premierministerin May bei den Verhandlungen aus. Übrig blieben Formelkompromisse, die alle wichtigen Fragen offenlassen.
Es wird nicht ohne Sonderregelungen gehen, wenn eine ‚hard border‘ verhindert werden soll, doch selbst wenn Theresa May die Hürden DUP und innerparteiliche Hardliner nehmen kann, dann öffnen sich neue Fragenkreise und dies für die EU und die Briten. Innerhalb des Vereinigten Königreichs meldete sich sofort Nicola Sturgeon zu Wort, die Erste Ministerin der schottischen Regionalregierung und Vorsitzende der Scottish National Party, und unterstrich den Wunsch, dass dann auch Schottland eine flexible Regelung möchte. Schottland hatte beim Referendum gegen den Brexit gestimmt und liebäugelt weiterhin mit der Unabhängigkeit. Aber Nicola Sturgeon war mit der Forderung nach einer eigenständigen Regelung nicht alleine, die eine Anbindung an den EU-Binnenmarkt erlaubt. Der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, schlug in die gleiche Kerbe: Das Stadtoberhaupt, das der Labour Party angehört, wies ebenfalls darauf hin, dass die Londoner mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hatten. Nicht auszuschließen wäre es auch, dass sich EU-Mitgliedsstaaten zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls aus der Europäischen Union mit ungeliebten Gemeinschaftsregeln verabschieden könnten, um dann mit Sonderkonditionen am Binnenmarkt beteiligt zu bleiben. Manche Beispiele machen Schule, ob man dies will oder nicht.
Reisefreiheit oder Grenzsicherung
Begrüßenswert ist auch der Grundsatz, dass auf der irischen Insel weiterhin die Reisefreiheit gilt: „The United Kingdom confirms and accepts that the Common Travel Area and associated rights and privileges can continue to operate without affecting Ireland’s obligations under Union law, in particular with respect to free movement for EU citizens.“ Jedoch auch bei dieser wichtigen Aussage bleibt offen, wie dies konkret umgesetzt werden soll. Die Mehrheit, die das britische Brexit-Referendum unterstützt hat, wollte doch gerade den Zustrom von Nicht-Briten – aus Europa und den anderen Teilen der Welt – verringern und die eigenen Grenzen energischer sichern. Wie soll dies ohne Kontrollen an der Grenze zur Republik gewährleistet werden?
Oder findet die Kontrolle dann beim Betreten von Fährhäfen und Flugplätzen statt? Dann würden sich mit Sicherheit die nordirischen Protestanten empören, denn sie wollen jeden Anschein vermeiden, zwischen Nordirland und London würde sich eine neue Grenzziehung auftun. Im Grunde könnte auch die EU nicht zustimmen, denn wenn sie die Außengrenzen stärker absichern will – und dies ist ihr erklärtes Ziel -, dann müsste dies auch gegenüber Nordirland gelten. Dann würden sich aber die nordirischen Katholiken an der neuen und zugleich alten Grenze stoßen.
Visionen ersetzen konkrete Arbeit nicht
Anzumerken ist auch, dass bei den beiden anderen Themenbereichen, die im ‚Joint Report‘ angesprochen werden, keine wirkliche Klarheit bei den Umsetzungsschritten herrscht: Bei den Rechten der EU-Bürger im Vereinigten Königreich bzw. der Briten in der EU gibt es im Grunde auch nichts Neues zu vermelden. Gleiches gilt für die finanzielle Schlussrechnung.
Woher kommen dann die freundlichen Einschätzungen mancher Journalisten? Entweder sie haben den ‚Joint Report‘ nicht im Detail gelesen oder sie verfallen bei europäischen Themen immer wieder in eine unkritische Grundhaltung. Ähnlich euphorisch wurde die Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne aufgenommen, in der er seine Vision von Europa umriss, ohne zu erklären, wie die vorhandenen Baustellen beseitigt und der Weg in die Zukunft wirklich begangen werden soll. So ähnlich ist es bestellt, wenn Jean-Claude Juncker eine seiner Reden zum Zustand der EU im Europaparlament hält: Viele Worte, kein roter Faden, realitätsfern! Und wo bleiben die kritischen Einschätzungen? Unsere Europäische Union und unser ganzes Europa sind für mich so wichtig, dass ich all diese leeren Reden und Erklärungen kaum ertragen kann.
Wir haben zu viele Politikerinnen und Politiker, die sich mit großen Worten hervortun und damit die eigene Misere übertünchen wollen, und zu wenige, die noch bereit sind, die Realität in Europa zu sehen und diese Schritt für Schritt im Sinne der Menschen zu verbessern. Ein Musterbeispiel ist für mich dabei auch Martin Schulz, der auf dem Bundesparteitag der SPD Europa zum Thema machte, obwohl er die letzte Wahl sicherlich nicht wegen europapolitischer Themen in krachender Weise verloren hatte. „Warum nehmen wir uns eigentlich jetzt nicht vor – hundert Jahre nach unserem Heidelberger Beschluss; hundert Jahre später – spätestens im Jahre 2025 diese Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht zu haben?“, so Schulz. Bei den eher auseinanderdriftenden Vorstellungen mancher EU-Mitgliedsstaaten geht es auf europäischer Ebene jetzt eher darum, realpolitischen Konsens in wichtigen Fragen wie der Flüchtlingspolitik, aber auch der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu erzielen, aber es findet sich mit Sicherheit keine Mehrheit für „einen europäischen Verfassungsvertrag“ und ein „föderales Europa“.
Nebelkerzen statt Klarheit
Wie weltfremd sind eigentlich manche Politiker – oder wollen sie nur mit solchen Nebelkerzen vom eigenen Unvermögen ablenken, die anstehenden Schwierigkeiten zu lösen. Auch von manchen zentralen Medien wie der „Tagesschau“ würde ich mir eine Berichterstattung wünschen, die stärker auf Hintergründe eingeht und nicht – wie jetzt bei diesem ‚Joint Report‘ – völlig unkritisch die Eigendarstellung von Politikern widerspiegelt: Weil sich Theresa May und Jean-Claude Juncker die Hand reichen, sind die realen Probleme noch lange nicht gelöst.
Der ‚Joint Report‘ ist eine Mogelpackung: Frisch eingepackt durch Theresa May, die um den Machterhalt kämpft, und Jean-Claude Juncker, den Meister der Verschleierung. Das monatelange Trauerspiel hätten sich die EU und die Briten sparen können, denn jetzt wird doch die gesamte Palette der Themen auf einmal zu diskutieren sein. Insoweit hat sich Premierministerin May durchgesetzt: Die EU wollte in zwei Phasen verhandeln und dabei zuerst über die britische Schlussrechnung, die irische ‚Grenze‘ und die Rechte der EU-Bürger Einigkeit erzielen, und erst dann die zukünftige Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU aufgreifen. Die Ergebnisse der ersten Verhandlungsrunde würden eigentlich mangels konkreter Ergebnisse keine Debatten über die Zukunft zulassen, doch alles sieht so aus, als würden die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel dennoch grünes Licht für die nächste Runde geben.
Wir sollten alle dafür sorgen, dass die Verhandler auf beiden Seiten die Aussagen des ‚Joint Reports‘ nicht vergessen: Theresa May, Jean-Claude Juncker, Angela Merkel, Emmanuel Macron und der irische Ministerpräsident Leo Varadkar, um nur diese beispielhaft zu nennen, werden letztendlich an den konkreten Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger in der EU, im Vereinigten Königreich und gerade auf der irischen Insel zu messen sein! Viele Briten erkennen inzwischen, dass sie mit falschen Aussagen der Brexit-Politiker zu einer Referendumsentscheidung gelockt wurden, die mehr und mehr im Schlamassel endet: Es wäre Zeit für ein neues Referendum! Man soll die Hoffnung auf Einsicht nie verlieren und ‚Verirrte‘ mit offenen Armen aufnehmen.
Warum, so frage ich mich in letzter Zeit immer wieder, schaffen Politiker mehr Probleme durch ihr Handeln als sie lösen?
Da werden völlig unnötig, aus einer Laune heraus, oder weil man sich verzockt, wie im Falle des ehemaligen britischen Premierministers Cameron, die eigene Nation – und ganz Europa gleich mit- in einen Konflikt gestürzt, der kaum zu lösen ist (Brexit), der für viele Menschen, nicht zuletzt in Großbritannien selbst, viele Nachteile mit sich bringt und wichtige Arbeitskraft bindet, die besser zur Lösung europäischer Probleme eingesetzt worden wäre. Sehr richtig beleuchtet der Beitrag z.B. die Auswirkungen des Brexit auf die Nordirlandfrage. Die Gemengelage dort ist so vielschichtig, dass politisches Fingerspitzengefühl gefragt wäre. Stattdessen werden ohne Not Wunden, die noch kaum verheilt sind, durch unbedachtes Handeln der Politiker wieder aufgerissen!
Und dann ereifert man sich über Donald Trump, der wie der Elefant im Porzellanladen in der politischen Landschaft herum’trumpelt‘ und gleichfalls ohne Fingerspitzengefühl, aber auch ohne jegliche Effizienz, mit dem nordkoreanischen Diktator umgeht.