Eine harte Grenze in Irland wird immer wahrscheinlicher
Theresa May und ihr Amtsvorgänger David Cameron gefährden durch ihr parteitaktisches Vorgehen den Zusammenhalt in Europa und den Frieden in Nordirland. Als Premierminister hatte Cameron ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union (EU) angezettelt, um die Antieuropäer in seiner Konservativen Partei bei Laune zu halten, und er tat dies in der Erwartung, die Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger würden mit Ja stimmen. Aber es kam anders: das Pendel schlug knapp in Richtung Brexit. Erwähnenswert ist dabei, dass Engländer und Waliser sich mehrheitlich für den Brexit aussprachen, Schotten und Nordiren wollten dagegen in der EU bleiben. Cameron verließ das Spielfeld und in 10 Downing Street zog Theresa May ein. Aber auch ihr fehlte von Anbeginn an der offene Blick für die tägliche Realität und sie zog – wiederum – aus parteitaktischem Kalkül die Parlamentswahlen vor und verlor ihre satte Mehrheit. Seither ist sie vom Wohlwollen der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) abhängig, die einen Teil der nordirischen Protestanten vertritt und May jede Beweglichkeit in den Brexit-Verhandlungen geraubt hat.
Aber nicht nur in London sitzt eine Regierung, die sich mühsam über den aufgewühlten Brexit-Wogen hält, sondern auch in der Republik Irland regiert Leo Varadkars Fine Gael ohne echten Koalitionspartner und wird von Fiana Fail nur punktuell unterstützt. Die irische Regierung war noch nicht einmal in der Lage, Gebühren für Leitungswasser durchzusetzen.
Theresa May ist eine Getriebene
Schwache Regierungen, die täglich ums Überleben kämpfen und denen gewissermaßen Neuwahlen drohend im Genick sitzen, fehlt die Geschmeidigkeit in politischen Verhandlungen. Und dies zeigt sich bei der britischen Premierministerin quasi täglich. Bereits im gemeinsamen Joint Paper, das sie mit Jean-Claude Juncker im Dezember 2017 der Öffentlichkeit präsentierte, hatte sich Theresa May dazu bekannt, eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern zu wollen. Dafür bekam sie auch Beifall vom irischen Premier Varadkar, der gar meinte, diese Zusage sei „bullet proof“. Doch dann machte die DUP mobil, die keine Sonderlösung für Nordirland zulassen möchte, die die Bindung an das von ihr gepriesene Mutterland lockern könnte. Eine fiktive Zollgrenze in der irischen See, die eine ‚hard border‘ auf der Insel verhindern könnte, war damit ebenso vom Tisch wie andere Rückfallpositionen – „backstop“ genannt. So zwang die kleine DUP Theresa May zur Kehrtwende.
Unter Beschuss von Proeuropäern und harten Brexiteers in der eigenen Partei schob Theresa May dann im Juli 2018 mal wieder ein Weißbuch zum EU-Austritt nach, das allerdings ein Musterbeispiel für Rosinenpickerei darstellt, denn eine Freihandelszone für Industrie- und Agrarprodukte soll nun eine harte Grenze in Irland verhindern. Dienstleistungen – gerade auch im Finanzbereich – sollen außen vor bleiben! Und wie May den Befürwortern eines kompletten Ausstiegs aus den EU-Bindungen eine mehr oder weniger offene Grenze auf der irischen Insel erklären will, das wird sich noch zeigen müssen. Zentrales Anliegen der Brexit-Jubelchöre war aber genau jene harte Grenze, die es ungeliebten Migranten erschweren sollte, das Vereinigte Königreich zu betreten. Vor diesem Hintergrund hatten auch Außenminister Boris Johnson und der für die Austrittsverhandlungen zuständige David Davis umgehend das Regierungsboot verlassen, als ihre Parteichefin eine neue Form eines gemeinsamen Zollgebiets in die Diskussion warf.
May als Gallionsfigur der Unionisten
Unverdrossen zieht Theresa May für ihre Politik ‚Des-heute-so-und-morgen-so‘ durch die Lande und hielt jüngst in der nordirischen Hauptstadt Belfast eine mit Spannung erwartete Rede. Bereits die Einstiegspassagen warfen allerdings die Frage auf, wes Geistes Kind die Premierministerin des Vereinigten Königreichs eigentlich ist. In einem Landesteil, der bis zum Karfreitagsabkommen 1998 von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen katholischen Republikanern, die die Wiedervereinigung mit der Republik Irland anstreben, und protestantischen Unionisten, die ihre Heimat unter der britischen Krone sehen, geprägt wurde, in den ersten Sätzen darauf hinzuweisen, dass ihre Partei „the Conservative and Unionist Party“ heiße, der behindert den Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen. Nur Unionisten werden über diese Aussage erfreut sein, die mit einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland liebäugelnden Katholiken fühlen sich wieder einmal vor den Kopf gestoßen. Aber Theresa May braucht die DUP zur Machterhaltung, und diese vertritt nun mal die Unionisten.
Im Vorfeld der May-Rede – pünktlich am 12. Juli – waren protestantische Aktivisten des Oranier-Ordens zum Gedenken an die Schlacht am Boyne durch nordirische Städte gezogen. Zwar hat die Schlacht bereits 1690 stattgefunden, doch wird sie noch immer als symbolischer Triumpf der Protestanten (Wilhelm III. von Oranien) über die Katholiken (Jakob II.) verstanden und gar als Feiertag geehrt. Solche Aufmärsche waren auch in den Zeiten der ‚Troubles‘, der gewalttätigen Auseinandersetzungen in Nordirland, immer ein Anlass für Gegenreaktionen der Katholiken, und ausgerechnet 2018 kam es nicht nur in Derry und Belfast zu Attacken mit Brandbomben, sondern auch an anderen Orten. Aber für Theresa May war dies kein Grund zur Zurückhaltung, sondern sie setzte noch eins drauf und goss Öl ins Feuer.
Kaum verwunderlich ist es, dass sich DUP und Sinn Fein seit über 18 Monaten nicht auf eine neue Regionalregierung für Nordirland einigen können, denn seit Theresa May in London mit der DUP paktiert, sind die Vertreter der katholischen Seite noch unwilliger, Kompromisse einzugehen. Nach dem Karfreitagsabkommen ist die britische Regierung gewissermaßen Sachwalter dieser Übereinkunft, doch wer sich so eindeutig wie May auf eine Seite schlägt, der kann nicht mehr als halbwegs unparteiisch gelten.
Die verschobenen Kategorien der Premierministerin
Wer sich nun nach dem festen Bekenntnis zur Union der Landesteile England, Schottland, Wales und Nordirland im Vereinigten Königreich einen Lichtblick im Brexit-Dunkel versprochen hatte, der wurde mehrfach enttäuscht. Denn nun griff May noch tiefer in die Historienkiste und landete zwar nicht bei der erwähnten Schlacht am Boyne, aber zumindest beim Waffenstillstand nach dem Ersten Weltkrieg. „This year, when we commemorate the centenary of the Armistice, we will remember the sacrifice of brave people from here and indeed the whole island of Ireland.“ Gerade wir Deutschen haben allen Grund an die Schrecken des Ersten Weltkriegs zu denken und Verantwortung zu übernehmen, aber wenn eine britische Premierministerin bei ihrem Besuch in Belfast in Zeiten des Brexit-Gerangels die Union mit Nordirland ausgerechnet unter Bezug auf das Zusammenstehen während des Ersten Weltkriegs beschwört, dann kommen mir noch größere Zweifel am britischen Führungspersonal. Aber nicht genug: Nun muss auch noch Winston Churchill herhalten, der nach dem Zweiten Weltkrieg betont habe, ohne Nordirland wäre das Licht der Freiheit erloschen. Wenn schon Churchill, dann hätte Theresa May eine seiner Aussagen zum notwendigen Zusammenrücken der europäischen Staaten zitieren sollen, aber das hätte natürlich nicht in ihr Konzept gepasst! So unterstrich Winston Churchill: „Die Aufgabe war, in ganz Europa geistige, kulturelle, gefühlsmäßige und soziale Übereinstimmungen und Beziehungen auszubauen.“ Theresa May tut gerade das Gegenteil!
Jetzt endlich würde May in ihrer Rede doch sicherlich zum Punkt kommen und die kulturelle, wirtschaftliche oder politische Basis des Vereinigten Königreichs benennen, um dann den Weg des Nach-Brexit-Königreichs zu skizzieren. Aber was war das? „After that war, a great national institution – our National Health Service – was established across the United Kingdom, a symbol of solidarity in our Union.“ Meinte May dies etwa ernst? Sollte gerade das immer wieder schwächelnde verstaatlichte britische Gesundheitswesen das zentrale Band des Zusammenhalts sein? Und sie setzte noch eins drauf: „Today our NHS stands alongside other pillars of our national life.“ Wie tief kann man als Premierministerin eigentlich noch sinken? Hätte sie die kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen, die technologischen Entwicklungen erwähnt oder den Finanzsektor hervorgehoben, dann wäre dies zumindest diskussionswürdig, aber den leicht angestaubten Gesundheitsbereich anzuführen, das schlägt dem Fass den Boden aus.
Gerade auch in Nordirland geht es beim Brexit nicht um die Errungenschaften des Nationalen Gesundheitsdienstes, der im Grunde dem ebenfalls nicht leistungsfähigen Gesundheitswesen in der Republik ähnelt, sondern um den Erhalt des Friedens in Nordirland und die Zusammenarbeit Nordirlands und der Republik Irland, die sich über die Jahre gut entwickelt hat. In Nordirland starben während der gewalttätigen Phase des Konflikts zwischen den protestantischen Gruppen und den Briten auf der einen Seite und katholischen Organisationen wie der Irish Repubilcan Army (IRA) auf der anderen 3 500 Menschen, und diesem Sterben den fragwürdigen NHS als große Errungenschaft gegenüberzustellen, das grenzt schon ans Absurde. So kommentierte ganz folgerichtig Martina Devlin im „Irish Independent“: „Mrs May, I grew up in the North during the Troubles and the NHS is insufficient compensation for living with bloodshed.“ Da hat Martina Devlin mehr als Recht: Ein mittelmäßiges Gesundheitssystem kann doch nicht als Kompensation für tausendfaches Blutvergießen angesehen werden. Diese Vereinfachungen von May lassen leider auch befürchten, dass sie bis heute nicht zur Kenntnis nehmen will, welche Gefahren durch eine harte Grenze wieder entstehen könnten.
Geschwafel statt bindender Aussagen
Im weiteren Verlauf ihrer Rede kam Theresa May auch auf das Karfreitagsabkommen zu sprechen und pries es als „landmark in the history of our islands“. Bei jeder Übersetzung von „landmark“ in diesem Zusammenhang, ob Meilenstein, Wahrzeichen oder Orientierungspunkt, hätte May recht. Aber leider lässt sie dann – wie in der Rede in Florenz und anderswo – konkrete Umsetzungsschritte des Brexits vermissen, bei denen eine harte Grenze in Irland sicher zu vermeiden wäre. Und es ist zu befürchten, dass sie selbst ihre angedachte Teil-Zollunion letztendlich in der eigenen Partei nicht durchsetzen könnte.
„I have said consistently that there can never be a hard border between Northern Ireland and Ireland“, betont Theresa May, aber ich befürchte, dass sie bei einem Scheitern der Austrittsverhandlungen und der Bildung einer wie immer gearteten Zollunion den Schwarzen Peter der EU zuschieben wird. Da die anderen europäischen Staaten das Aufflammen des Nordirlandkonflikts gewiss verhindern wollen, werden sie zu guter Letzt einem faulen Kompromiss zustimmen. Dies scheint die bevorzugte Lösung der britischen Premierministerin zu sein. Jedes Agreement mit der EU müsse ein „frictionless movement of goods across the Northern Ireland border“ ermöglichen. Doch greift dies nicht zu kurz? Es geht ja bekanntlich gerade in Irland nicht nur um den ungehinderten Gütertransport, sondern auch um die freie Bewegung der Bürgerinnen und Bürger auf beiden Seiten über diese ‚Grenze‘. Ebenso klar ist für May – ansonsten würde sie von der DUP Prügel beziehen -, dass auch anderswo im Vereinigten Königreich keine neue Grenze entstehen darf: „Equally clear is that as a United Kingdom government we could never accept that the way to prevent a hard border with Ireland is to create a new border within the United Kingdom.“ Damit schließt sie alle fiktiven Zollgrenzen zum Beispiel in der irischen See aus. Und auch das Unterhaus in London hat mit wenigen Stimmen Mehrheit diese Festlegung getroffen.
Sinn Fein könnte May stolpern lassen
In ihrer eigenen Conservative Party mehr gelitten als geliebt und von den harten Brexiteers bekämpft, konnte sich May trotz zahlreicher Abweichler ausschließlich dank der DUP-Parlamentarier durchsetzen. Ihre Mini-Mehrheiten konnte sie sich jedoch nur sichern, weil Sinn Fein in Nordirland traditionell zwar an den Wahlen zum britischen Parlament teilnimmt, die gewonnenen Sitze jedoch nicht einnimmt. Dieser bereits um 1905 entwickelte Grundsatz hat seinen Ursprung in der Tatsache, dass Sinn Fein es ablehnt, den Treueschwur auf die Monarchin abzulegen. Sinn Fein lehnt nicht nur die britische Monarchie und die Vorherrschaft der Briten in Nordirland ab, sondern fordert auch die Wiedervereinigung Irlands.
Der Druck auf Sinn Fein ist in Nordirland und der Republik Irland zwar stärker geworden, sich im britischen Unterhaus einzubringen, doch derzeit ist eine Abwendung von der mehr als 100 Jahre alten Grundregel des Abstentionismus nicht zu erkennen. So kommt es ausgerechnet der britischen Premierministerin zugute, dass Sinn Fein seine sieben Sitze im Unterhaus unbesetzt lässt, obwohl May‘s Kooperation mit der DUP die Vertreter Sinn Feins täglich auf die Palme treibt. Drei der SDLP zugehörige Abgeordnete, die für den Verbleib in der EU eintraten, hatten bei den letzten Parlamentswahlen im Übrigen ihre Sitze verloren.
Bright and great – Populismus pur
Zwar sind die britische Premierministerin May und der US-Präsident Trump grundverschiedene Politiker-Typen, aber was dem Donald sein „Make America great again“ ist, das ist für Theresa „Britain’s future is bright“. Und bei diesem Gang ins Helle, in eine großartige Zukunft, da scheint ihr die EU nur im Wege zu sein. Aber ob in Florenz oder jetzt wieder in Belfast („brighter future“) kommen mir solche Worthülsen wie das Pfeifen im dunklen Keller vor: Klare Planungen für die Zukunft sehen allemal anders aus. Vielleicht weiß dies auch Theresa May, doch sie hat sich in einem Spinnennetz verfangen, in dem politische Gegner inner- und außerhalb ihrer Partei nur darauf warten, sie verspeisen zu können.
Eine strahlende und großartige Zukunft wünsche ich nicht nur unseren britischen Nachbarn, sondern allen europäischen Staaten, aber der Brexit ist ein Schritt rückwärts und daran kann auch das Kampfgeschrei der harten Brexiteers um Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg nichts ändern. Die Europäische Union in ihrer heutigen Arbeitsweise hat zahlreiche Fehler und kümmert sich schon mal lieber um einen Standard für Fritten, eine Verordnung für Pommes, statt um das Flüchtlingsthema oder entwickelt eine Datenschutz-Grundverordnung, die Vereine, soziale Organisationen und kleine Unternehmen in die Bredouille bringt. Daher braucht die EU eine klarere Definition der Aufgaben, und dies heißt eine Beschränkung auf Themenfelder, die einzelstaatlich oder regional nicht befriedigend bearbeitet werden können. Und das politisch überlebte EU-Personal, allen voran Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, muss abgelöst werden.
Der von Theresa May im bürgerlichen Ton vorgetragene Populismus schädigt jedoch nicht nur das eigene Land, sondern erschwert auch die Zusammenarbeit in Europa. Vor allem aber zündelt die britische Regierung in Nordirland, und es besteht die akute Gefahr, dass der Konflikt zwischen den katholischen und protestantischen Bevölkerungsteilen in Nordirland wieder aufflammt. Am Rande sei angemerkt, dass es dabei nicht um religiöse Streitigkeiten geht, sondern um soziale und wirtschaftliche Gleichstellung sowie Gleichberechtigung im politischen Entscheidungsprozess.
Ich hoffe noch immer, dass sich im britischen Parlament eine Mehrheit findet, die den Brexiteers Zügel anlegt und zumindest einen weichen Ausstieg ermöglicht. Noch angemessener wäre es, wenn das britische Volk nach Abschluss der Brexit-Verhandlungen die Möglichkeit erhielte, über das Ergebnis in einem zweiten Referendum zu entscheiden. Auf jeden Fall muss eine hard border in Irland verhindert werden, ansonsten könnte der politisch-soziale Konflikt in Nordirland wieder in Gewalt umschlagen.
4 Antworten auf „Theresa May im Rückwärtsgang in die Zukunft“