Steinzeitmenschen verstanden den Lauf der Sonne
4 500 Jahre haben die Steinkreise von Stonehenge bereits auf dem Buckel, allein daran kann der Betrachter erkennen, dass im Grunde von unseren steinzeitlichen Vorfahren für die ‚Ewigkeit‘ gebaut wurde. ‚Ewigkeit‘ mag etwas überzogen klingen, doch wenn in unserer Zeit Autobahnbrücken nach einem halben Jahrhundert in die Knie gehen und das Landratsamt in Esslingen am Neckar schon nach 44 Jahren mit der Abrissbirne Bekanntschaft machen musste, dann wird deutlich, dass im heutigen England 2 500 Jahre vor Christus Menschen nicht nur Steine mit einem Gewicht von über 35 Tonnen heranschleppten, sondern bei der Errichtung der Steinkreise auf höchste Qualität achteten. Die baulichen Werke und das gesamte kulturelle Schaffen in Europa während der Stein- und Bronzezeit werden von Teilen der Öffentlichkeit, Medien und Wissenschaft zu wenig geschätzt, und deutsche Politiker halten eher die Geldschatulle zu (z. B. ‚Archäopark‘), wenn es um die archäologische Forschung oder die umfassende Präsentation steinzeitlicher Funde und Örtlichkeiten geht. Da hat es Stonehenge zumindest in den letzten Jahrhunderten besser erwischt, denn seit dem 17. Jahrhundert wuchs das wissenschaftliche Interesse an diesem steinernen Zeugnis, und in unserer Zeit zieht das absolut beeindruckende Bauwerk in der Ebene von Salisbury Millionen von Besuchern in seinen Bann.
Menschen kamen aus nah und fern
Hunderte, ja tausende von Menschen arbeiteten über einen längeren Zeitraum beim Bau von Stonehenge zusammen, und dies ist ein Beleg dafür, dass es eine entwickelte gesellschaftliche Struktur gegeben haben muss. Rückschlüsse auf den eigentlichen Sinn der Anlage ergeben sich allein aus den Funden der archäologischen Grabungen in Stonehenge, Woodhenge, Avebury usw. Schriftlose Kulturen machen es dem späteren Betrachter schwer, die Beweggründe zu erfassen, die die Steinzeitmenschen zum Bau von Stonehenge oder auch der Wallanlage (henge) in Avebury bewogen haben. Dies gilt in gleicher Weise für die Steinreihen von Carnac in der französischen Bretagne, über die ich in meinem Beitrag ‚Die jungsteinzeitliche Hochkultur der Hügelgräber‘ berichtet habe. Nach den Erkenntnissen der Archäologen schufen zahlreiche Menschen im Neolithikum gemeinsam das steinerne Stonehenge – oder die Vorgängerversion aus Holzpfählen. Sie kamen aber auch zum Feiern von Festen an diesem besonderen Ort zusammen.
Wer sich zum Feiern mit Freunden trifft, der bringt gerne etwas zum Essen und Trinken mit. Ganz ähnlich war es wohl im Umfeld von Stonehenge. In der Bauphase und während kultureller Feierlichkeiten haben die herbeigeströmten Arbeiter bzw. Besucher vermutlich in Durrington Walls gelebt, einer Wallanlage mit einem Durchmesser von 470 Metern. In diesem Dorf, das rd. drei Kilometer von Stonehenge entfernt liegt, wurden jungsteinzeitliche Gebäudereste gefunden. Da die Mehrheit der Bewohner nur zeitweise anwesend war, brachten sie zu ihren Treffen lebende Rinder und Schweine mit, die vor Ort geschlachtet wurden. Oliver E. Craig u.a. geben in ihrer Veröffentlichung ‚Feeding Stonehenge: cuisine and consumption at the Late Neolithic site of Durrington Walls‘ tiefere Einblicke in das Leben in der Jungsteinzeit. Im Vordergrund der Ernährung standen Schweine, in kleinerem Maße wurden Rinder verzehrt. Interessant ist die Tatsache, dass die Tiere nach Stonehenge getrieben wurden, denn es fanden sich vollständige Skelette. Die Analyse von Strontiumisotopen in aufgefundenen Zähnen und Knochen der geschlachteten Tiere stützt die Aussage, dass die Menschen über längere Distanzen nach Stonehenge pilgerten. Die Schweine und Rinder stammten aus dem westlichen Britannien – einschließlich von Cornwall und Wales – und aus den nördlichen Regionen der Insel. Am Bau beteiligte Arbeitskräfte und die Festbesucher brachten das Essen für sich und andere mit. Anders stellt sich z. B. die Situation um 1500 vor Christus in Hallstatt, heute Oberösterreich, dar, denn dort wurden in der Eisenzeit Schweine mit dem in Bergwerken gewonnen Salz gepökelt und dann mit anderen Regionen gehandelt. Die Funde in Durrington Walls legen die Vermutung nahe, dass die Feste insbesondere im Spätjahr gefeiert wurden, und dies würde die Bedeutung von Stonehenge unterstreichen, denn der Steinkreis orientiert sich an der Wintersonnenwende. Für die damaligen Bauern spielte der Jahreslauf eine bedeutsame Rolle, denn gerade der richtige Termin für die Aussaat entschied mit über den Ernteerfolg und die Sicherung der Existenz.
Hohe Motivation für anstrengende Plackerei
Vor dem Feiern stand allerdings harte Arbeit: Ein Grundsatz, der heute bei manchen Zeitgenossen eher in den Hintergrund tritt. Nun aber zurück in die Jungsteinzeit. Erste Wälle und Gräben oder aufgerichtete Holzpfähle lassen sich auf 3 000 vor Christus datieren, die heute erhaltenen Steinstrukturen entstanden 500 Jahre später. Im Laufe der Jahrhunderte gab es zahllose mehr oder weniger wissenschaftliche Ansätze, um die Herkunft der verschiedenen Steine zu bestimmen. Feen und Engel ließen sich bald ausschließen, und auch eiszeitliche Gletscher kamen als Transportgehilfen nicht in Frage, doch erst moderne Analysemethoden ermöglichten eine geografische Zuordnung. Die Zusammensetzung der Mineralien der sogenannten ‚Bluestones‘, der kleineren Steine in Stonehenge, belegt, dass sie aus den walisischen Preseli Hills stammen. Die 80 bis zu drei Tonnen schweren Bluestones mussten aus den 240 Kilometern entfernten neolithischen Steinbrüchen herangeschafft werden – mit den damals vorhandenen einfachen technischen Hilfsmitteln. Bis heute gibt es verschiedene denkbare Varianten für den Transportweg, doch kommen Wissenschaftler zunehmend zu dem Schluss, dass der Land- und der Seeweg kombiniert wurden. Vermutlich wurden die Bluestones über Baumstämme gerollt und auf Schlitten bis zur walisischen Küste transportiert, um sie dann in der Gegend um den heutigen Fährhafen Pembroke/Milford Haven auf Flöße, Lastkähne oder Boote zu laden, danach an der Küste entlang und den Avon hinauf zu schippern. Anschließend ging es über Land und Flüsschen nach Stonehenge. Bei diesen Strapazen wird – wie im irischen Newgrange – überdeutlich, dass die beteiligten Menschen eine immense innere Motivation antrieb, die auf religiösen oder kulturellen Inspirationen fußte.
Bevor die Steinkreise um 2 500 vor unserer Zeitrechnung fertiggestellt wurden, mussten noch die deutlich schwereren Sarsensteine ihren Weg nach Stonehenge finden. Diese Monolithen, gewaltige Sandsteinblöcke mit bis zu 35 Tonnen Gewicht, beeindrucken auch in unserer technisierten Welt, denn staunend stellt man sich die Frage, wie die Menschen in der Jungsteinzeit solche Steingiganten bewegen, punktgenau aufrichten und dann noch mit darauf querliegenden Steinen verbinden konnten? Experimentelle Archäologen, die versuchen, die logistischen und bautechnischen Fragen zu klären, gehen davon aus, dass die von den Marlborough Downs stammenden Sarsensteine über Baumstämme gezogen wurden. 200 Mitstreiter hätten pro Stein für die 30 Kilometer lange Strecke ca. 12 Tage benötigt. Manche Archäologen betonen, dass an Steigungen auch deutlich mehr Menschen benötigt wurden, die mit anpackten. Waren die Steingiganten am Bauplatz eingetroffen, mussten sie – ganz ohne Kran – in eine aufrechte Position gebracht werden. Experimente haben gezeigt, dass vermutlich Löcher gegraben wurden, in die dann die Sarsensteine über eine Rampe eingelassen wurden. Dabei haben die Erbauer immer darauf geachtet, dass die Gesamtkonstruktion sich am Lauf der Sonne orientiert. Noch komplizierter war es, die Decksteine über die aufrechtstehenden Sarsen zu heben und diese dort über einen Zapfen bzw. ein Loch zu verbinden. Die steinzeitlichen Handwerker dürften die Verbindungstechnik mit Zapfen und Zapfenloch bereits vorher bei hölzernen Bauten eingesetzt haben. Zwar wissen wir bis heute nicht, wer die Steinstrukturen in Stonehenge schuf, doch für die umfangreichen Arbeiten müssen Menschen aus einer größeren Region zusammengekommen sein, was ebenfalls auf eine gesellschaftliche Struktur hindeutet, die über einzelne Familiengruppen oder kleine Stämme definitiv hinausgeht.
Den Lauf der Sonne verstanden
Stonehenge, auch das benachbarte Woodhenge, eine Wall- und Pfostenanlage, sowie der weltgrößte prähistorische Steinkreis in Avebury oder die dörfliche Wallanlage Durrington Walls legen den Schluss nahe, dass dieses Gebiet in Südengland nicht nur von den ersten Bauern in der Steinzeit für die Anlage ihrer Felder geschätzt wurde, sondern auch ein überregionales kulturelles Zentrum war. Bemerkenswert ist die Nutzung dieser kulturellen Orte über einen Zeitraum von 2 000 Jahren in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit. Zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören Stonehenge und Avebury sowie weitere prähistorische Orte – wie z. B. der West Kennet Long Barrow, ein Ganggrab, oder der Silbury Hill, der höchste im wahrsten Sinne von Menschenhand aufgeschüttete (prähistorische) Hügel in Europa.
Wer Feldfrüchte anbaut und Schweine oder Rinder hält, der ist auf Licht angewiesen. Somit war es wichtig zu wissen, wie sich die Jahreszeiten entwickeln. Die Sehnsucht nach Licht und Wärme, die die Natur gedeihen ließen, erfüllte die steinzeitlichen Menschen, und so kam der Orientierung von Stonehenge am Lauf der Sonne eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Einer Gesellschaft, die sich in der Jungsteinzeit von der Jagd verstärkt auf den Anbau von Getreide und die Viehzucht konzentrierte, musste daran gelegen sein, den Verlauf der Jahreszeiten bestmöglich zu kennen. Die Wintersonnenwende, nach der die Tage wieder länger werden und den Menschen mehr Licht bringen, war somit nicht nur ein Fixpunkt für die Erbauer von Stonehenge, sondern vermutlich auch ein Grund zum Feiern. Um 3 000 vor Christus standen noch hölzerne Pfosten, wo heute ein niedriger Wall zu erkennen ist. Der britische Archäologe Mike Parker Pearson geht davon aus, dass die Asche von Verstobenen einer gesellschaftlichen Elite hier bestattet wurde. Gefunden hat man die menschlichen Überreste in Vertiefungen, die entweder früher hölzerne Pfosten enthalten hatten oder die Bluestones, die später versetzt wurden. In einigen überlieferten Erzählungen wird den Bluestones eine heilende Wirkung zugeschrieben, so kann auch dies ein Grund für die Anziehungskraft von Stonehenge gewesen sein. Für die Auswahl der Örtlichkeit könnten gleichfalls die beiden, parallel zueinander verlaufenden eiszeitlichen Rinnen eine Rolle gespielt haben, die auf den Punkt der Wintersonnenwende ausgerichtet sind.
Viele Fragen zu Stonehenge, wie zu anderen Zeugnissen der Steinzeit, sind noch offen, und so manche Antwort wird sich ohne schriftliche Zeugnisse wohl niemals finden lassen. Die weiterlaufenden Forschungen im Umfeld von Stonehenge ergeben jedoch immer wieder neue Hinweise dafür, dass in der heutigen Grafschaft Wiltshire ein kulturelles und religiöses Zentrum entstanden war, das Menschen aus einem weiten Umkreis anzog. Stonehenge steht symbolhaft für das Leben in der Jungsteinzeit, dessen kultureller, religiöser und gesellschaftlicher Entwicklungsstand häufig unterschätzt wird.
Zum Beitragsbild
Um 2 500 vor unserer Zeitrechnung errichteten Menschen in Stonehenge ein beeindruckendes Bauwerk aus bis zu 35 Tonnen schweren Steinen, das für die kulturelle Schaffenskraft in der Jungsteinzeit spricht. (Bild: Ulsamer)
Literaturhinweise
Für einen ersten Überblick sind zwei Veröffentlichungen besonders empfehlenswert:
Julian Richards: Stonehenge, English Heritage Guidebooks
Steven Marshall: Exploring Avebury, The History Press, Cheltenham, reprinted 2020