Boris Palmer und Wolfgang Schäuble auf dünnem Eis
Debatten sind für mich von größter Bedeutung für die Weiterentwicklung unserer demokratischen Gesellschaft, und dazu gehören auch zugespitzte Äußerungen, denn das Polit-Allerlei à la Merkel schmeckt mir wirklich nicht. Ich zweifle jedoch sehr daran, dass einzelne Äußerungen zu schwerwiegenden moralischen Fragen weiterführen, wenn sie in die Welt hinausposaunt werden, ohne dass sich eine Bereitschaft zur sachlichen Diskussion erkennen ließe. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, ein CDU-Urgestein, trat mit einem Interview im Berliner ‚Tagesspiegel‘ eine Diskussion um den Wert des menschlichen Lebens los, an der sich auch der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer beteiligte. So weit so gut, doch wie soll aus diesen Beiträgen ein Diskurs werden, der unsere Gesellschaft voranbringt? Bei Schäuble und Palmer geht es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod, und daher wäre eine Debatte unter Einbeziehung des Deutschen Ethikrats und der Religionsgemeinschaften sinnvoll. Doch ich bin mir fast sicher, dass die beiden Politiker diese Thematik nicht sachgerecht weiterführen, sondern nur mal wieder in den Medien präsent sein wollten. Dies ist ihnen gelungen, aber sie hinterlassen einen gewaltigen Flurschaden.
Schäubles Argumentation greift zu kurz
Wolfgang Schäuble kann ich nur zustimmen, wenn er im ‚Tagesspiegel‘-Interview betont: „Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen.“ Ich hätte mir gewünscht, dass er diese Problematik mal mit der Bundeskanzlerin diskutiert hätte. Vielleicht hat er es auch getan, doch Angela Merkel mag weder einen offenen Diskurs noch Widerspruch. Bundestagspräsident Schäuble legt dann allerdings nach: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Nun bin ich Soziologe und kein Moralphilosoph, doch glaube ich schon, dass Schäuble etwas zu kurz greift, wenn er zwischen dem „Schutz des Lebens“ und der „Würde des Menschen“ eine Trennlinie zieht oder diese Werte gar als Gegensätze ansieht.
Selbstredend können wir Wirtschaft und Gesellschaft nicht dauerhaft stilllegen, um das Leben einzelner Personen zu schützen, aber dessen bin ich mir bewusst, ohne Schäubles Moralkanone. Und dass „wir sterben müssen“, dies grenzt nun wirklich ans Banale. Schade, mit solchen Allgemeinplätzen ruiniert Schäuble sinnvolle Diskussionen. Unserem Land sind Triage-Entscheidungen der Ärzte während der Corona-Pandemie erspart geblieben, die entscheiden müssen, wem geholfen werden kann und wem nicht, da die Beatmungsgeräte nicht ausreichen. In solchen Situationen stellt sich die Frage in aller Dramatik, wie es um den Schutz des Lebens und die Würde des Menschen bestellt ist.
Palmer – „Brutalisierung der öffentlichen Debatte“
Ich sehe die Artikel 1 und 2 unseres Grundgesetzes auch nicht als Gegensätze, sondern als Einheit. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ ergänzen sich. Gerade in Deutschland mit unserer mehr als dunklen Epoche zwischen 1933 und 1945 sollten wir behutsam mit dem ethischen Grundsatz ‚Schutz des Lebens‘ umgehen. Eine der lautstärkeren Stimmen, die auf Wolfgang Schäubles Gedanken antwortete, war die des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer. Vorab möchte ich unterstreichen, dass ich Palmer als einen gradlinigen Politiker kennengelernt habe: er fuhr mit dem Fahrrad aus Tübingen zum Parteitag der baden-württembergischen Grünen nach Stuttgart, während sich der Parkplatz am Versammlungsort mit den Pkw anderer grünen Teilnehmer füllte – genauso wie bei ähnlichen Events anderer Parteien. Doch in letzter Zeit frage ich mich immer öfter, was Boris Palmer reitet, wenn er zu seinen Attacken ansetzt.
„Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“, äußerte Boris Palmer in Sat 1 und löste eine Welle der Empörung gerade auch in seiner eigenen Partei aus. Am nächsten Tag ruderte er zwar etwas zurück und betonte, er habe niemanden das Recht auf Leben absprechen wollen. Doch im Frühstücksfernsehen hatte er die angesprochenen Bevölkerungsgruppen noch präzisiert: „Es ist so, dass insbesondere Menschen über 80 sterben.“ (…) „Also ist Corona jetzt nicht eine Krankheit, wie Ebola, die 20-Jährige mitten aus dem Leben reißt, sondern tödlich ist Corona fast ausschließlich für hochaltrige Menschen.“ Für die Älteren hatte Palmer schon vorher eine langfristige Isolation, eine Art Schutzhaft, erwogen, natürlich um sie zu ‚schützen‘. „Boris Palmer spricht nicht für die Grünen“, beschieden die baden-württembergischen Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand. „Mit seinen kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen beteiligt er sich an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte.“
Geht es nur um mediale Aufmerksamkeit?
In meinen Beiträgen zur Corona-Pandemie habe auch ich eine Öffnung mit Augenmaß gefordert, da wir nicht über Monate oder Jahre Gesellschaft und Wirtschaft zum Stillstand zwingen können. Aber mal ganz ehrlich: Diese Einsicht lässt sich auch vertreten, ohne wie Wolfgang Schäuble und Boris Palmer auf dünnem politischem Eis zuerst auszurutschen und dann gar einzubrechen. Als besonders störend empfinde ich es, wenn Politiker immer wieder strittige Themen aufgreifen, medial ausschlachten, dann jedoch kein weiteres Interesse an tiefergehenden Diskussionen zu haben scheinen. Für das eigene Ego wird jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben, und dies ohne Rücksicht auf die Diskussionskultur.
Schäuble und Palmer sind grundverschiedene Typen, doch beide versuchen den Moralhammer zu schwingen und nutzen dazu schamlos fragwürdige ‚Argumente‘ aus. Der CDU-Politiker Schäuble stilisiert sich gleich mal zum Helden, denn er gehöre natürlich mit seinem Alter und einem aus einem Attentat resultierenden Erkrankungen zur Risikogruppe, dennoch fordere er dazu auf, die wirtschaftlichen Folgen eines Lockdowns verstärkt in die Waagschale zu werfen. Und Boris Palmer von den Grünen geht es vorgeblich ebenfalls um hehre Ziele: „Der Shutdown bei uns treibt nicht nur die Wirtschaft in den Abgrund. Er wird nach Auffassung der UNO auch viele Kinder in den armen Ländern das Leben kosten.“ Jedes Leben, das durch die in China ausgelöste Pandemie ausgelöscht wird, aber auch durch Unterernährung oder daraus resultierende andere Krankheiten, geht mir nahe, aber sollten Politiker wirklich gefährdete Menschen – hier wie dort – gegeneinander ausspielen? Ich denke, nein! Unser Ziel muss es sein, im eigenen Land, genauso wie in Europa und den anderen Regionen unserer gemeinsamen Welt alles zu tun, um Menschen – ob jung oder alt, mit oder ohne Handicap – ein Leben in Würde zu ermöglichen und ohne einen Tod durch von Menschen zu verantwortende Mängel. Dabei sollten wir auch den Satz von Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats mit abwägen, der gegenüber dem ‚Handelsblatt‘ unterstrich: „Wir dürfen Lebenslänge nicht grundsätzlich über Lebensqualität stellen.“ Dies werden auch viele Bewohner von Alten- und Pflegeheimen so sehen, denen Palmer strikte Isolation verordnete: Wer möchte schon Monate oder Jahre zwangsweise ohne Besuch der Familienangehörigen zubringen, nur um die Gefahr einer Covid-19-Erkrankung abzuwehren?
Schäuble überhörte leichtfertig Pandemie-Warnungen
Bei Wolfgang Schäuble frage ich mich nicht erst jetzt, warum er immer wieder wie aus dem ‚Off‘ Stichworte in die Gesellschaft schleudert, ohne sich dann auch an einer intensiven Debatte zu beteiligen. „Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur“, so vermeldete er in einer Ansprache zum 3. Oktober. Für mich ein gänzlich unzutreffender Satz! Demokratien zerfallen doch nicht wegen zu großer Perfektion, sondern als Folge des Gegenteils: Hätten sich die Demokraten in der Weimarer Republik zusammengetan, um gemeinsam an möglichst optimalen Strukturen zu arbeiten, dann wäre uns die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten erspart geblieben. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Perfektion in der deutschen Politik. Mit seinem Hinweis, wir müssten „mit dem Nicht-Perfekten …, mit dem Unzulänglichen“ leben, erteilt ausgerechnet der Bundestagspräsident den Vertretern unserer Politik einen Freibrief für Lösungen, die nicht selten vor dem Bundesverfassungsgericht stranden. Und etwas mehr Perfektion hätte ich mir auch bei der dringend notwendigen Wahlrechtsreform gewünscht. Wolfgang Schäuble hat es nicht vermocht, eine sachgerechte Reform des Wahlrechts auf den Weg zu bringen, um das beständige Anwachsen der Abgeordnetenzahl im Bundestag zu verhindern.
Mangelnde „Perfektion“ zeigt sich gerade auch bei der Corona-Pandemie: Es gab genug wissenschaftliche Warner, doch die Politik überhörte diese geflissentlich, was dazu führte, dass nicht nur Schutzmasken oder Desinfektionsmittel fehlten, sondern auch praktikable und praxistaugliche Pandemiepläne. So beantwortet Schäuble die Frage des ‚Tagesspiegels‘, ob wir nicht besser vorbereitet gewesen wären, „wenn die Regierung den eigenen Pandemieplan von 2012 ernst genommen hätte?“ mit einem mehr als lapidaren Satz: „Wir haben doch alle miteinander gehofft, dass es schon nicht so schlimm kommen wird.“ Brauchen wir wirklich solche Politiker, die ein Szenario des Robert-Koch-Instituts, das ihnen 2013 als Bundestagsdrucksache 17/12051 vorlag, unbeachtet ließen? Der Titel war mehr als deutlich: „Pandemie durch Virus Modi-SARS“. Das Fraunhofer Institut für naturwissenschaftlich-technische Trendanalysen legte im gleichen Jahr eine Studie mit dem Titel „Pandemische Influenza in Deutschland 2020 – Szenarien und Handlungsoptionen“ vor. Das Fraunhofer-Institut schrieb damals: „Ziel der Studie ist es künftig besser auf Pandemien vorbereitet zu sein“, aber die politischen Entscheidungsträger unternahmen nichts. „Wir dürfen jetzt nicht leichtsinnig sein“, intoniert Bundeskanzlerin Merkel ihr Lieblingslied, aber der „Leichtsinn“ von Merkle, Schäuble, Spahn und Lauterbach war 2013 sträflich! Sie saßen alle im Bundestag und unternahmen nichts!
Der gesellschaftliche Diskurs ist wichtig
Wolfgang Schäuble und Boris Palmer sprechen diskussionswürdige Fragen an, doch sie sollten nicht zwischen Frühstücksfernsehen und abendlichen Talkshows abgearbeitet werden. Ich wünschte mir, dass moralische und ethische Themen intensiv diskutiert würden, und dies nicht zuletzt auch im Deutschen Bundestag. Im Vorfeld macht es Sinn, den Deutschen Ethikrat, die Kirchen und andere Organisationen einzubeziehen. Die Initiative könnte dazu beispielsweise vom Bundestagspräsidenten ausgehen, doch habe ich den Eindruck, dass es sich mal wieder um eine Eintagsfliege der Polit-Akteure handelt. Auch Politiker müssen sich fragen lassen, ob sie nicht zu Stammtisch-Philosophen werden, wenn sie ohne nachhaltigen Diskurs heute dieses und morgen jenes ethische Thema aufwerfen.
Wir brauchen mehr Debatten über Konfliktthemen, was in der Ära von Angela Merkel in Deutschland zu kurz gekommen ist, für die Diskussionen ein Gräuel zu sein scheinen. Gesellschaftliche Streitthemen sollten aber nicht für kurzfristige mediale Aufmerksamkeit geopfert werden! Dies gilt allemal, wenn es um die „Würde des Menschen“ oder das „Recht auf Leben“ geht.
3 Antworten auf „Stammtisch-Philosophen und der Schutz des Lebens“