Die älteste deutsche Partei weiterhin im Abwärtstaumel
Dass Andrea Nahles als SPD-Chefin und Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag wankt, das war spürbar, doch einen Abgang als Totalschaden hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet. Wenn eine Berufspolitikerin wie Nahles, einer anderen Profession ging sie nie nach, der Partei die ihr übertragenen Ämter vor die Füße wirft, dann ist dies bei lang aufgestautem Frust durchaus verständlich. Doch wer zusätzlich noch das Bundestagsmandat zurückgibt, das er von der Wählerschaft übertragen bekam, der muss tief verletzt sein. Immer wieder wird Konsequenz eingefordert – und da ist sie nun in Reinform bei Nahles zu erkennen. Aber sie ist auch ein weiterer Tiefschlag für die von Krisen geschüttelte SPD. Aus der ältesten demokratischen Partei Deutschlands, einer Volkspartei, die ihre ersten Bewährungsproben in der Kaiserzeit durchlebte, ist ein Häufchen Elend geworden, das in einer Forsa-Umfrage nur noch bei 12 % landet. Und dies noch vor dem neuesten Debakel!
SPD-Vorsitzende kommen und gehen
Ganz so schlimm hat es die CDU bisher nicht erwischt, doch auch der aufsteigende Stern AKK könnte schnell in einem ‘schwarzen Loch’ verschwinden, wenn sie weiterhin derart unbeholfen auf YouTube-Attacken à la Rezo antwortet. Aber zurück zur SPD. Ich würde der SPD wünschen, dass sie nun mit schonungsloser Offenheit ihre inhaltliche und personelle Ausrichtung überdenkt. Ein weiteres Durchmogeln wird nicht möglich sein. Bei Anne Will machte sich Olaf Scholz, der sich zwar betroffen gab, wieder ans Fabulieren: Er erkannte frauenfeindliche Züge bei den Angriffen auf Andrea Nahles. Hat Scholz, der in Hamburg als Erster Bürgermeister während des G 20-Gipfels ganze Stadtviertel marodierenden Banden des Schwarzen Blocks überließ, ein so kurzes Gedächtnis? Was war denn mit Martin Schulz, der wie ein Messias an die SPD-Spitze eilte und in kürzester Zeit als ungeliebte Randfigur endete?
Rechnen wir die kommissarischen Vorsitzenden bei den Sozialdemokraten dazu, dann kommt man seit 1990 immerhin auf die stolze Zahl 15. Bis auf Andrea Nahles im Übrigen alles Herren. An der Frauenfeindlichkeit bestimmter Kreise kann es beim rapiden Verschleiß an Vorsitzenden bei der SPD nicht liegen. Daher wäre die SPD auch gut beraten, sich zuerst über den weiteren Kurs der Partei die Karten zu legen und erst dann einen neuen ‚König‘ oder eine neue ‚Königin‘ aufzudecken.
Politischer Spagat
Gerade vor der Europawahl hat es sich gezeigt, dass sich die SPD nicht im Klaren darüber ist, ob sie mit Kevin Kühnert und seinen Verstaatlichungsphantasien auf Kollisionskurs zur Linken gehen will oder doch ihr Plätzchen weiterhin in der politischen Mitte sieht. Für mich ist es schon verwunderlich, dass die frühere Juso-Bundesvorsitzende Nahles nicht rechtzeitig mit dem heutigen Vordenker der SPD-Nachwuchsorganisation über seinen Wunsch nach mehr Sozialismus gesprochen hat. Kevin Kühnert brachte selbst die Betriebsratsvorsitzenden großer Automobilunternehmen gegen sich und seine Partei auf, dies war ganz gewiss keine politische Hilfe vor einer Europawahl.
Andrea Nahles hatte durch ihre Doppelfunktion in der SPD eine denkbar schwierige Aufgabe übernommen, darauf habe ich in meinem Blog-Beitrag „Andrea „Bätschi“ Nahles muss Konflikt und Konsens verbinden“ im April 2018 hingewiesen. Damals schrieb ich, ohne zu ahnen, dass auch das Nahles-Intermezzo nur sehr kurz sein würde: „Andrea Nahles muss jetzt jedoch zwei völlig auseinanderdriftende Aufgaben übernehmen: Sie muss als Fraktionschefin die Bundestagsabgeordneten der SPD darauf einstimmen, auch missliebige Entscheidungen der Regierung im Sinne des Koalitionsvertrags mitzutragen, obwohl breite Kreise diese neue Große Koalition ablehnen. Und auf der anderen Seite soll und muss Andrea Nahles als Parteivorsitzende das Profil der SPD schärfen, sprich die Partei auf Konflikt bürsten. Wenn sie dies nicht tut, dann ist sie der letzte Sargnagel der ältesten Partei Deutschlands.“
Müde Volksparteien
Der letzte Sargnagel der SPD wird Nahles nicht sein, denn irgendwer wird schon auf den Thron steigen, doch sollte der Niedergang sich fortsetzen, dann wird zumindest der politische Sarg immer kleiner. Und dies sage ich ohne Häme, denn nach meiner Meinung kommt der SPD auch weiterhin eine wichtige Funktion in unserer Demokratie zu, allerdings muss sie sich zuvor ihrer eigenen Grundwerte vergewissern und ihre Politik in jedem Fall besser verkaufen. Dies gilt in gleicher Weise für die CDU, denn beide alten Volksparteien lassen sich von der grünen Flut im Moment ohne Gegenwehr hinwegspülen, obwohl die grüne Begeisterung schnell verebben könnte, wenn die führenden Köpfe in der Bundesregierung an der Realität gemessen würden. Es ist ein Trauerspiel, solch müde Volksparteien zu sehen.
Partei- und Fraktionsvorsitzende müssen immer mit Heckenschützen rechnen, die zwar ihre Pfeile abschießen, auch wenn ihnen der Mumm fehlt, sich offen als Gegenkandidat zu bekennen. Andrea Nahles trägt am jetzigen Debakel andererseits selbst ein gerütteltes Maß an Schuld. Zu häufig hat sie klare inhaltliche Aussagen vermissen lassen und stattdessen dem politischen Gegner, mit dem man doch im Koalitionsbett schlummert, eins “in die Fresse“ versprochen oder mit „Bätschi“-Ausrufen oder einem Pippi-Langstrumpf-Lied den Boden der politischen Ernsthaftigkeit verlassen. Andrea Nahles konnte den Sozialdemokraten den Glauben an sich selbst nicht zurückgeben, daran änderte auch der eine oder andere hinausgebrüllte Satz wenig. Ihre letzte Rede im Bremer Wahlkampf war eher ein Abgesang denn ein glühender Aufruf. Jan Dörner und Christopher Zeidler meinen in der Stuttgarter Zeitung gar, diese habe „eher an eine Büttenrede als an Wahlkampf erinnert“. Und so kam es wie es kommen musste, die SPD verlor nach sieben Jahrzehnten den Platz eins bei Wahlen zur Bürgerschaft in Bremen.
Klimaschutz unterschätzt
Unverdrossen betonte Andrea Nahles „Man kann eine Partei auch in der Regierung erneuern“, und prinzipiell stimmt dies natürlich, aber nicht in einer Koalition mit einer CDU, die unter Angela Merkel ihre christlichen, sozialen und konservativen Wertvorstellungen längst über Bord geworfen hat und Koalitionspartner aussaugt. Annegret Kramp-Karrenbauer lässt zwar manche Wertvorstellungen erkennen, doch bisher war dies auch nicht gerade förderlich für die CDU. Es nützt selbst ein ausgefeilter Koalitionsvertrag wenig, wenn die Ehe nicht aus Liebe, sondern aus Zwang resultiert. Viele Mitglieder in der SPD haben nicht vergessen, dass sie diese Zwangsehe nur eingegangen sind, um den Genossen Bundespräsidenten nicht im Regen stehen zu lassen, denn ohne Frank-Walter Steinmeier hätte es diese vom ersten Tag an kleinste GroKo aller Zeiten nicht gegeben. Und zumindest für die SPD zeigt sich immer deutlicher, dass die GroKo wie ein Stein an ihrem Hals hängt und sie nach unten zieht.
Völlig unverständlich ist es für mich, dass Andrea Nahles – und dies gilt auch für Annegret Kramp-Karrenbauer – nicht gespürt hat, dass das Themenfeld Klimaschutz und Umwelt nicht nur bei der Europawahl zu einem entscheidenden Faktor werden könnte. Da reicht es eben nicht, über einen Kohlekompromiss zu beratschlagen, der einen Ausstieg aus der Kohle in zwei Jahrzehnten bringen soll, wenn die Grünen nicht nur unterstützt von Fridays for Future vorgeben, die Klimakatastrophe mit ihrer Politik abwenden zu können. Robert Habeck und Annalena Baerbock haben dabei den grandiosen Vorteil, dass sie nicht in eine Bundesregierung eingebunden sind, die versuchen muss Arbeit und Umwelt auszutarieren.
Krokodilstränen trocknen schnell
Wenn ich die selbst gestellte Einstiegsfrage beantworten soll, ob Andrea Nahles den Spagat geschafft hat, Konflikt und Konsens zu verbinden, so kann man nur mit einem Nein antworten. Sie hat weder den Konsens innerhalb der SPD gestärkt noch in der Auseinandersetzung mit dem Koalitionspartner oder den Oppositionsparteien das notwendige Profil schärfen können. Ob dies an Nahles liegt oder an der Zerstrittenheit der SPD, dies muss sich noch zeigen. Das kurze Verfallsdatum bei SPD-Parteivorsitzenden deutet jedoch auf tiefergehende Probleme hin, die nur zum Teil mit der scheidenden Chefin zu tun haben.
Lächerlich ist es, wenn nach jedem Abgang gerade jene Krokodilstränen weinen, die mit ihren Querschüssen nicht gerade zum Gesamterfolg beigetragen haben. Dies gilt auch für Kevin Kühnert, der twittert: „Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben. Ich schäme mich dafür.“ Solche Krokodilstränen trocknen schnell, wenn es um Machtpositionen geht.
Frappierend ist es auch, dass Andrea Nahles zwar gehörig austeilen konnte, doch beim Einstecken war die Schmerzgrenze schneller erreicht als manche ihrer Parteigenossen wohl glaubten.
Gibt es eine Erneuerung in der Regierung?
Generell würde ich gerne noch die Frage stellen, wie das Politgeschäft – zumindest in den Volksparteien – die beteiligten Menschen verändert, und dies gerade in Spitzenpositionen. Ich hatte in meinem Hauptberuf über Jahrzehnte mit Politikern zu tun, und ich wundere mich bis heute, wie die Menschen, die ich persönlich gesprochen habe, anschließend sich selbst verbogen oder verklausuliert äußerten, um ein schwammiges Parteiinteresse zu vertreten. Mein ganz persönlicher Eindruck von den Politikern war im Regelfall weit besser als mein Urteil nach Äußerungen der gleichen Persönlichkeiten vor großen Versammlungen oder in den Medien. Das Geschacher – nicht zu verwechseln mit der notwendigen Erarbeitung von Kompromissen – hält viele junge Menschen heute davon ab, sich in die Politik zu begeben.
Der SPD stehen stürmische Wochen bevor, denn die Zahl der kompetenten Nachfolgerinnen und Nachfolger für Andrea Nahles ist überschaubar. Ob sich wohl alle nach dem SPD-Vorsitz drängen, darf gleichfalls bezweifelt werden. Und so titelt die ‘taz’, ganz im Sinne einer Stellenanzeige: „Scheißjob zu vergeben“. Trotz aller Unkenrufe hat sich die Koalition aus Union und SPD im Amt gehalten, aber im Grunde weniger aus staatspolitischer Verantwortung denn aus Angst vor den Wählern. So meint der frühere baden-württembergische SPD-Landesvorsitzende Nils Schmid, der letztendlich auch über schlechte Wahlergebnisse gestürzt war, in der Stuttgarter Zeitung: „Neuwahlen würden jetzt nur die schlechten Umfrageergebnisse bestätigen und damit die notwendige Erneuerungsarbeit noch schwerer machen.“ Zwar mag ich seiner These nicht mehr so ganz anhängen, denn dieser Ruf erklingt nach jeder verlorenen Wahl. Glaubt denn wirklich jemand, dass die SPD – eingebunden in die schlingernde GroKo – bis zum Herbst einen fulminanten Neustart in inhaltlicher und personeller Hinsicht hinlegt? Und was geschieht, wenn es in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die nächste Abstrafung durch die Wähler gibt? Und dort droht ja nicht nur der SPD Übles, sondern auch der CDU.
Neustart verpennt
Es drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass SPD und CDU eine inhaltliche Besinnung – verbunden mit der Auswahl des passenden Führungspersonals – zu lange hinausgeschoben haben. Und jetzt, bedrängt durch das Anwachsen der Grünen, aber auch der AfD in manchen neuen Bundesländern, geht die Angst in den Parteizentralen von SPD und CDU um. Angst war jedoch in der Politik noch selten ein guter Ratgeber. Ich hoffe sehr, dass die Partei eines Friedrich Ebert, der die Weimarer Republik durch schlimmste Wirren geführt hat, wieder auf einen Kurs zurückfindet, der Pragmatismus mit klaren Inhalten verbindet. Dabei sollten weder soziale Gerechtigkeit noch Klimaschutz zu kurz kommen – und dies immer verbunden mit dem Thema zukunftsorientierte Arbeit. Nichts schaden könnte es aber auch, wenn sich die SPD für eine oder zwei Persönlichkeiten entscheiden würde, die wie Friedrich Ebert auch einen Beruf außerhalb der Politik erlernt haben. So manche Verengung des Denkens rührt doch – in anderen Parteien ebenfalls – aus einer totalen Konzentration auf die Politik: Jüngstes Beispiel ist Kevin Kühnert.
Die SPD hat mit Andrea Nahles einen Neuanfang verstolpert, doch der Niedergang lässt sich nur mit einem beherzten inhaltlichen und personellen Neustart stoppen. Viel Zeit bleibt nicht mehr.
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