Historische Briefe werden mit Staatsgeldern zu modischen Accessoires
Nicht jeder muss sich als Leser für einen Brief von Alexandre Dumas oder Charles Dickens begeistern, und nicht jede Leserin muss sich für Notizen von Kaiserin Maria Theresia oder Fürst von Metternich interessieren, aber dürfen deshalb deren Schriftstücke zerschnippelt und in besonders teure Handtaschen eingeklebt werden? Ich glaube, nein! Die Firma ‚Sekrè‘ sieht dies anders. Sie hat sich entsprechende historische Dokumente beschafft und diese Originale zur ‚Aufwertung‘ ihrer Handtaschen zerschnitten. Besonders ‚passend‘: das Leder wurde vor der Verarbeitung noch in Champagner eingelegt! Irgendwie komme ich mir vor wie im ‚Alten Rom‘, in der Endphase des Römischen Reiches, als Brot und Spiele die Menschen bei Laune hielten. Und für die Reichen und ‚Schönen‘ dürfen es dann auch aufgepeppte Täschlein sein. Der verstörende politische Thrill: Das Land Nordrhein-Westfalen ist Mitfinanzier der Bonzen-Handtaschen, für die doch einige Tausend Euro zu berappen sind.
Zerschnippeltes historisches Erbe
Getroffen hat die Schnippelwut – neben den bereits genannten Persönlichkeiten – auch Charles Lindbergh, der als erster den Atlantik per Flugzeug überquerte oder Brigitte Bardot, die Schauspielerin und Tierschützerin. Die britische Königin Victoria muss ebenso mit ihren persönlichen Hinterlassenschaften herhalten wie die Schauspielerinnen Marlene Dietrich oder Katharine Hepburn und ihre Kollegin Grace Kelly, die sich ihren Lebensweg als Fürstin von Monaco krönte. Die russische Zarin Elisabeth Alexejewna oder der preußische König Friedrich Wilhelm III. werden gänzlich ungefragt über ihre Aufzeichnungen zu Handtaschenverkäufern degradiert.
In meinen Augen ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Briefe oder Notizen von politisch und gesellschaftlich interessanten Persönlichkeiten mit der Schere in kleine Zettelchen zu zerschneiden, um dann Handtaschen zu ‚Unikaten‘ zu machen. Hier werden historische Originale kurzerhand zu einem besseren Preisanhänger umformatiert, und dies ganz ohne Zutun der Autoren. Dies halte ich für einen Fehltritt, und damit stehe ich nicht alleine. So betonte in der Londoner ‚Times‘ Leo Litvack, der Herausgeber eines Projekts zu Briefen von Charles Dickens: „I can’t imagine who would buy such a thing except someone who has no care for objects of the past.“ Hat er nicht recht? Diese Taschen mit einem zerschnittenen Brief von Charles Dickens, dem Autor von ‚Oliver Twist‘, ‚David Copperfield‘ oder ‚Eine Weihnachtsgeschichte‘ (A Christmas Carol), kann wirklich nur jemand erwerben, der keinerlei Verständnis für Literatur und Geschichte hat. Selbst kleine Notizen und Briefe können für die Forschung und Literaturfreunde wichtig sein, da sie Aspekte des Lebens eines Autors erhellen können. Wer dieses historische Erbe schändet, der vergeht sich an der Vergangenheit.
Historischer Frevel mit ‚Staatsknete‘
Nicht so schnell, könnte mancher Freund aufgewerteter Handtaschen einwerfen, Banksy hat doch auch ein Bild geschreddert. Ja, aber es ist sein eigenes Werk, und die Fahrt durch den Schredder hat das ‚Love is in the Bin‘ absichtlich verändert. Dies war von Anbeginn vom Künstler
so geplant. Sicherlich haben weder Kaiserinnen noch Könige oder Schauspielerinnen bei der Niederschrift daran gedacht, dass ihre Zeilen einst zerschnitten würden, um so Handtaschen von ‚Sekrè‘ besser an Frau und Mann oder an Sammler zu bringen. Aber das Verständnis für historische Schriftstücke oder Ereignisse hat ohnehin stark gelitten, dies belegen beispielsweise Fake-Soldaten, die mit Touristen im Arm am Berliner Checkpoint Charlie ‚Wache schieben‘. Und dann auch noch auf der historisch falschen Seite – nämlich im Osten – ihres Wachhäuschens. Ganz zu schweigen von Twitter-Filmchen, in denen Elon Musk Adolf Hitler zum Fonds-Manager umstilisiert, der an der Börse gegen Tesla gewettet und verloren hat, oder – ein weiteres geschmackloses Beispiel – der Missbrauch des unsäglichen Leids von jüdischen KZ-Gefangenen in einem Promotion-Video von Rammstein.
„SEKRÈ ist die internationale Luxus-Marke der MYSTERY BAG International GmbH. Das deutsch-schweizerische Startup wurde 2018 gegründet“, so heißt es auf der Internetseite des Unternehmens. Was dann folgt, das irritiert mich allerdings sehr: „Neben anderen in- und ausländischen Gesellschaftern ist das Land Nordrhein-Westfalen über die NRW.Bank beteiligt.“ Wie war das nochmal? Seit Jahren durften die wirtschaftlich erfolgreicheren Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg das Land Nordrhein-Westfalen über den Länderfinanzausgleich über Wasser halten, die Fördermilliarden des Bundes versackten im Ruhrgebiet, und dann hat Nordrhein-Westfalen nichts Besseres zu tun, als eine Firma zu finanzieren, die historische Schriftstücke zerschneidet, um damit ihre Handtaschen zu verkaufen! „mystery bag“, so lautet der Untertitel des Unternehmens: Mysteriös ist für mich eher, wie ein Bundesland darauf kommt, einen solchen historischen Frevel zu finanzieren. Zumindest in der ‚Times‘ fand dieses Ansinnen keinen Anklang. Eigentlich hatte ich den Titel meines Blogs eher ironisch gemeint, aber bei solchen Vorgängen fühle ich mich dann doch bereits in einer Bananenrepublik!
Historische Erzeugnisse brauchen Schutz
Generell würde ich mir mehr Rücksicht auf politische und historische Ereignisse wünschen, die für unsere Gegenwart und Zukunft relevant sind. Dies gilt auch für Briefe und Notizen von historischen Persönlichkeiten. Wer Originalschriftstücke in Schnipsel verwandelt, um seine Handtaschen aufzupeppen – wie dies ‚Sekrè‘ tut – der handelt in meinen Augen ethisch fragwürdig.
Was wäre denn, wenn das nächste ‚Verkaufstalent‘ ein Gemälde von Claude Monet oder Vincent van Gogh zerschneidet oder eine Skulptur von Michelangelo zerdeppert, um mit diesen Bruchstücken seine Erzeugnisse besser verkaufen zu können? Eine Gesellschaft, in der Kulturgüter der Vergangenheit mutwillig zerstört werden, muss sich ernsthaft um ihre Zukunft Sorgen machen.