New Lanark: Verbesserung des Arbeitsalltags in der Industriellen Revolution
Soziale und politische Utopien gibt es zuhauf, und dies nicht nur in unseren Tagen. Allerdings gelang es wenigen Reformern, sozialpolitische Veränderungen mit wirtschaftlichem Erfolg während der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zu verbinden. Zu den Unternehmern mit einer besonderen Weitsicht gehörte Robert Owen, der im schottischen New Lanark die Spinnerei seines Schwiegervaters zu einem Musterbetrieb weiterentwickelte und Impulse in den Arbeitsalltag einbrachte, die bis heute nachwirken. Owen verkürzte den Arbeitstag, richtete eine frühkindliche Betreuung und eine Schule ein, schuf eine finanzielle Absicherung bei Krankheit und organisierte medizinische Versorgung. Bildung für alle Beschäftigten und ein umfassendes Kulturprogramm gehörten für Owen ebenso zum Alltag in seinem Unternehmen wie ein Laden für den täglichen Bedarf, dessen Gewinne den Kunden zuflossen. Owens sozialpolitische Reformen sind somit auch ein Nukleus für die kooperative Bewegung im Vereinigten Königreich und darüber hinaus. Owen lehnte körperliche Strafen in der Erziehung ab und setzte auf die charakterliche Bildung sowie auf kleine dörfliche Einheiten als Grundlage eines gerechten Gesellschaftssystems. New Lanark, das Ensemble aus ehemaligen Spinnereien, Schule, Wohnungen usw. am Clyde in Schottland, in dem im 19. Jahrhundert bis zu 2 500 Menschen lebten und arbeiteten, gehört seit 2001 zu den UNESCO-Welterbestätten.
Mit Bildung und Humanität zum Erfolg
Die Fabrikanlagen und Wohngebäude entstanden ab 1785 am Oberlauf des Clyde, denn Wasserkraft war von entscheidender Bedeutung für die Spinnmaschinen. Verarbeitet wurde bereits unter David Dale (1739 – 1806) Baumwolle zu Garn, der seinen Betrieb 1799 an seinen aus Wales stammenden Schwiegersohn Robert Owen (1771 – 1858) und weitere Investoren verkaufte. Owen intensivierte die Bemühungen Dales für die soziale Besserstellung der Arbeiter und ihrer Familien, und er verstand es, die Effektivität der Spinnereien zu verbessern, wobei er gleichzeitig die Arbeitsbedingungen deutlich humaner gestaltete. In einer Zeit, in der es üblich war, dass Kinder mit fünf oder sechs Jahren den ganzen Tag in industriellen Betrieben arbeiteten, setzte Owen darauf, dass sich Kinder unter zehn Jahren auf die schulische Bildung konzentrieren konnten. Als sozial engagierter Unternehmer legte Owen großen Wert auf die frühkindliche Erziehung und die kulturelle Bildung. In der Schule – ein Klassenzimmer ist im Stil des frühen 19. Jahrhunderts in New Lanark noch zu sehen – ging es für Owen nicht nur um die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen, für ihn waren auch Geschichte und Geografie, naturwissenschaftliche Studien sowie Musik und Tanz bedeutsam. Die Schule ergänzte Owen durch ‚The Institute‘, eine ‚New Institution for the Formation of Character‘. Die charakterliche Bildung war für ihn wichtig, denn Probleme im Betrieb und in der Gesellschaft ließen sich nach Owens Meinung nur dauerhaft überwinden, wenn alle Menschen auf gemeinsame Anstrengungen und ein freundliches Miteinander setzten. „In this new world, all will know that far more happiness can be obtained by union, than by disunion“, so Robert Owen. Wer wollte da widersprechen? Durch die Vereinigung der Kräfte lässt sich damals und heute mehr erreichen, mehr Glück und soziale Sicherheit als in Uneinigkeit.
Owen warb durch politische Schriften und Vorträge für eine humanere Arbeitswelt und nahm schon mal den Achtstundentag in den Blick, doch andere Unternehmer wollten ihm nicht folgen, die Politik bewegte sich nach Owens Ansicht zu wenig, um den Arbeitnehmern ein besseres Leben zu ermöglichen. Seinen Mitinvestoren gingen Owens Sozialreformen ebenfalls zu weit, denn sie konnten sich weder für die Schule in New Lanark noch das Institut zur charakterlichen Bildung begeistern. 1813 versuchten die Miteigentümer Owen aus der Gesellschaft zu werfen, und der Spinnereibetrieb wurde zum Kauf ausgeschrieben. Owen gelang es jedoch, neue Geldgeber zu finden, die sein Konzept befürworteten und sich mit einer Rendite von fünf Prozent auf ihr eingesetztes Kapital zufriedengaben. Auf diese Weise konnte Owen seine Verbesserungen des Arbeitsalltags und der Wohnverhältnisse fortsetzen und Bildung und Kultur für die Menschen in New Lanark weiter anbieten. Seine Rückkehr als Leiter des Spinnereiunternehmens wurde – so der ‚Glasgow Herald‘ – von der Belegschaft und den Einwohnern von New Lanark begeistert begrüßt. Owen setzte auf Disziplin und Engagement, er galt als fair und lehnte körperliche Züchtigungen ab. An jedem Arbeitsplatz hing ein kleiner hölzerner Block, der „silent monitor“, der jeden Tag anzeigte, ob und in welchem Maße sich die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter einbrachte: Die vier Bewertungen reichten von schlecht – schwarze Seite des Holzblocks – bis zu exzellenter Leistung – weiß. Jedes Mitglied der Belegschaft hatte das Recht, sich direkt an Robert Owen zu wenden, wenn es sich ungerecht behandelt oder eingestuft fühlte. Owen richtete Komitees für jeden Wohnbezirk ein, die sich monatlich mit einem der Investoren trafen, um über Probleme und Pläne zu sprechen, die das Zusammenwirken verbessern konnten. Mit Bildung und Humanität sowie der Einbeziehung der Mitarbeiter gelang es Robert Owen Verbesserungen des Alltags – bei der Arbeit, beim Wohnen, in Bildung und Freizeit – umzusetzen und gleichzeitig den Bekanntheitsgrad der Garne aus New Lanark zu erhöhen und so die Wirtschaftlichkeit zu stärken.
Schiffbruch mit ‚New Harmony‘
Die Erfolge von Robert Owen in New Lanark führten zahlreiche nationale und internationale Besucher in die Spinnereien am Clyde, z. B. auch den späteren Zaren Nikolaus I. von Russland. Owen spürte jedoch den Widerstand bei anderen Unternehmern, seine Ideen aufzugreifen, und das britische Parlament handelte zu zögerlich, z. B. 1819 mit dem ‚Cotton Mills and Factory Act‘, der die Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren verbot. Seine Enttäuschung trug mit zu Owens Entschluss bei, seine Anteile an den Spinnereien in New Lanark 1825 an Charles und Henry Walker zu verkaufen, deren Vater – ein Quäker – zu seinen bisherigen Miteigentümern gehörte. Er erwarb dafür im US-Staat Indiana eine bestehende Gemeinde, die der aus Württemberg stammende Leinenweber und Laienprediger Johann Georg Rapp gegründet hatte. Diese Gemeinschaft zog in die Nähe von Pittsburgh und gründete ein neues Dorf, das sie statt ‚Harmony‘ nun ‚Economy‘ tauften. Ihre pietistische Gemeinschaft florierte, die Menschen lebten ohne Privateigentum in Gütergemeinschaft, doch Owens Projekt ‚New Harmony‘ stand unter keinem guten Stern. Eine „Boatload of Knowledge“ war 1826 gelandet, aber es fehlte vielen der Mitstreiter Owens an praktischen Kenntnissen, die die Grundlage des Erfolgs in New Lanark gewesen waren. Bereits zwei Jahre später kehrte Owen ins Vereinigte Königreich zurück, doch trotz des Verlusts eines großen Teils seines Vermögens blieb er optimistisch und wollte seine Vorstellungen von einem Leben in kleineren Gemeinschaften weiter umsetzen. Nicht nur Owen hatte den Gedanken aufgegriffen, in den USA eine neue Lebensform zu entwickeln, sondern dies versuchte auch der französische Sozialreformer Jean-Baptiste André Godin, der eine dörfliche Gemeinschaft – Phalansterie – in Texas mit ins Leben rief und finanziell unterstützte. Godin bezahlte Lehrgeld und brachte ab 1856 seine neuorientierten Ideen im französischen Landstädtchen Guise in ein innovatives Projekt ein. Mehr dazu finden Sie in meinem Beitrag ‚Le Familistère de Guise: Wohnen und Arbeiten in Gemeinschaft. Godin – französischer Sozialreformer und Unternehmer im 19. Jahrhundert‘.
Die herausragenden sozialreformerischen Ideen Robert Owens und deren Umsetzung in New Lanark wurden überschattet durch seine wenig ausgeprägte Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, und es fehlte ihm wohl auch an politischem Instinkt, wie John Butt, Ian Donnachie und John Hume in ‚Industrial Archaeology‘ schrieben. Wenig Zuspruch fand Owen in religiös geprägten Kreisen, da er Religion als Quelle gesellschaftlicher Konflikte ansah und ablehnte. Er war jedoch tolerant, denn seine Frau erzog die Kinder im christlichen Glauben, und in seinen Regeln für das Zusammenleben unterstrich Owen, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft die religiösen Ansichten der anderen respektieren müsse. Die Sozialreformer Robert Owen und Jean-Baptiste André Godin werden häufig den sozialistischen Vordenkern zugerechnet. Dies ist im politischen Sinne allerdings nicht haltbar: Sie waren Sozialreformer während der Industriellen Revolution, in der Kinder und Erwachsene zumeist unter unerträglichen Arbeitsbedingungen schuften mussten und die Unternehmer rücksichtlos ihre Gewinne maximierten. Owens Ideen sind bis heute wegweisend, denn er setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen ein und lehnte Kinderarbeit ab. Ich würde Owen daher den Vorvätern der Sozialen Marktwirtschaft zurechnen. Wichtige Ansätze stammen von Robert Owen auch für die Gewerkschaftsbewegung. In seinen späten Lebensjahren zog es Owen zum Spiritualismus und nach Meinung der vom New Lanark Trust herausgegebenen kurzen Geschichte über Robert Owen „he was never again taken very seriously“. Gleichwohl ändert dies nichts an seinen konkreten Verbesserungen des Arbeitsalltags für die Belegschaft in seinem Spinnereibetrieb.
Rettung des Gebäudeensembles.
Die Spinnmaschinen liefen in New Lanark bis ins 20. Jahrhundert, wobei unter wechselnden Besitzern die gesponnenen Garne zu ganz unterschiedlichen Textilien oder Seilen weiterverarbeitet wurden. 1968 rief die Glocke auf dem kleinen Türmchen zum letzten Mal zur Arbeit in die Spinnereien. Der Verfall drohte, doch mit einem 1983 politisch vorangetriebenen Zwangsverkauf der Gebäude, die von einem Schrottunternehmen genutzt wurden, und der bereits 1974 erfolgten Gründung des ‚New Lanark Conservation and Civic Trust‘ wurden die Erhaltung und Renovierung der Gebäude und eine Revitalisierung des ganzen Dorfs eingeläutet. In New Lanark wohnen heute etwa 180 Menschen, und jährlich reisen 300 000 historisch Interessierte in die UNESCO-Welterbestätte. Wir besuchten Ende der 1980er Jahre erstmals New Lanark, und man darf mit Berechtigung sagen: inzwischen hat sich viel getan. Heute befindet sich im Spinnereigebäude 1 (Mill 1) ein komfortables Hotel, in einem der ehemaligen Wohngebäude war bis 2022 eine Jugendherberge untergebracht. Die gesamte Ausstellung in den früheren Spinnereien, in der Schule und im ‚Institut zur Charakterbildung‘ oder in Owens früherer Villa usw. ist überaus sehenswert, denn sie vermittelt einen Einblick in die Wohn- und Arbeitsverhältnisse des frühen 19. Jahrhunderts.
Nicht nur die Reformen, die Robert Owen in seinem Betrieb durchführte, sind bis heute bemerkenswert, sondern gleichfalls die in New Lanark erhaltenen Gebäude. Noch heute überrascht es, wenn man in der eher ländlichen Region im Tal des Clyde die Siedlung aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erblickt. Das Engagement von David Dale und Robert Owen für bessere Arbeitsbedingungen und insbesondere gegen die Kinderarbeit bleibt selbst in unseren Tagen von größter Bedeutung in weiten Regionen unserer Welt. Die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit und die Schaffung von Bildungseinrichtungen setzte in der Industriellen Revolution Maßstäbe, auch wenn die vorbildhaften Ansätze nur sehr zögerlich breite Unterstützung fanden.
Zum Beitragsbild
Blick aus Richtung des Clyde auf New Lanark, wo das Wasser für den Antrieb der Wasserräder abgezweigt wurde. Im Mittelpunkt des Bildes ist ein gläserner Verbindungsgang zwischen der Spinnerei Nr. 3 und dem ‚Institut‘ zu sehen. Im ‚Institute‘ – ‚New Institution for the Formation of Character‘ – befindet sich heute das Besucherzentrum, und dort startet der Rundgang. Die gläserne Brücke ist natürlich neueren Datums, doch dort befand sich bereits im 19. Jahrhundert ein Übergang, über den die Antriebsseile verliefen, die die Kraft vom Maschinenhaus zur Spinnerei übertrugen. (Bild: Ulsamer)