Premierminister Sunak fährt Tories gegen die Wand

Die schottischen Nationalisten als zweiter Wahlverlierer

Die Bürgerinnen und Bürger haben Premierminister Rishi Sunak und seine Conservative and Unionist Party bei den Unterhauswahlen im Vereinigten Königreich hart abgestraft: Die Tories taumeln zwar seit Boris Johnson angeschlagen durch die britische Politik, doch das jetzige Wahlergebnis ist ein Tiefschlag. Profitiert hat vom Unmut der Bürgerschaft die Labour Party, die Keir Starmer gerade noch rechtzeitig aus der extremen linken Ecke herausgeführt hat. Zu den Verlierern zählt die Scottish National Party (SNP), die nach einem Höhenflug als Partei der Unabhängigkeit eine fatale Bruchlandung hinlegte. Statt über 47 der 59 schottischen Sitze im Unterhaus zu verfügen, entsendet die SNP nur noch neun Abgeordnete nach Westminster. Im Grunde war das Wahlergebnis absehbar, denn weder die Konservativen noch die SNP hatten es vermocht, mit einer herausragenden Führungsperson in den Wahlkampf zu ziehen. Sunak, der ehemalige Investmentbanker und Multimillionär, verheiratet mit der Tochter eines indischen Milliardärs, vermochte es nicht, seine Landsleute wirklich anzusprechen und für sich zu gewinnen. Er ähnelt im Gehabe Emmanuel Macron, der als Präsident und gleichfalls Ex-Investmentbanker, kaum noch Zugang zum französischen Volk findet und wie Sunak zum falschen Zeitpunkt und ohne inhaltliche und personelle Konzepte Neuwahlen ausrief. Wer wie Sunak oder Macron nur auf Sprechblasen setzt, der öffnet Tür und Tor für den politischen Gegner.

Blick auf den Elizabeth Tower in London, der häufig wegen seiner schwersten Glocke Big Ben genannt wird. Im Vordergrund ein roter Doppeldeckerbus.
Die SNP, die Scottish National Party, hat erlebt, dass ihr die Herzen der Schotten nicht mehr zufliegen. Sie entsendet nur noch neun Abgeordnete nach Westminister, in der vorhergehenden Wahlperiode waren es 47.  Die Conservative Party wurde von 372 auf 121 Parlamentsmitglieder dezimiert. (Bild: Ulsamer)

Schlechtes Personal ist schwer loszukriegen

Es wäre ungerecht, Premierminister Sunak eine politische Alleinschuld am vernichtenden Urteil der Wählerschaft anzulasten, denn David Cameron setzte mit einer Volksabstimmung die Brexit-Maschine erst richtig in Gang, obwohl er diesen selbst nicht anstrebte. Theresa May gackerte als seine Nachfolgerin die Sprüche der eifrigen Brexiteers nach und versprach, die bei einem EU-Austritt eingesparten Finanzmittel in den maroden Nationalen Gesundheitsdienst und den Wohnungsbau zu stecken. Auf beides wartete die Bürgerschaft vergeblich und ermöglichte nun einen Erdrutschsieg der Labour Party. Boris Johnson übernahm von Theresa May das Ruder in 10 Downing Street um als ungehobelter Brexit-Rabauke die Verbindungen zur EU zu kappen. Seine lautstarken Versprechungen von einer glorreichen Zukunft Britanniens ohne den Bremsklotz EU haben sich allerdings in Luft aufgelöst. Als der Conservative Party die Pandemie-Skandale ihres Boris dann doch zu viel wurden, setzte sie ihn vor die Tür und ihre Mitglieder verfielen auf die absurde Idee, Liz Truss zur Premierministerin zu krönen. Ihr fehlte es allerdings an Format und Fortune, und so endete ihre Amtszeit nach gerade mal 49 Tagen. Als letzter Strohhalm sollte Rishi Sunak die Konservativen wieder in die Erfolgsspur bringen, doch er fuhr seine Partei vollends gegen die Wand. Über einzelne politische Maßnahmen kann man immer trefflich streiten, aber es fehlte Sunak am politischen Gespür und historischen Bewusstsein. Als die früheren Alliierten am 6. Juli 2024 den 80. Jahrestag der Invasion feierlich begingen und US-Präsident Joe Biden, der französische Präsident Macron und zahlreiche hochrangige Politiker in der Normandie zusammenkamen, da machte er sich nach einer Stippvisite schleunigst davon und ließ sich vom reaktivierten ehemaligen Premierminister und jetzigen Außenminister David Cameron vertreten. Auf diese abwegige Idee kann nur jemand kommen, der keine Ahnung vom Geschichtsbewusstsein vieler seiner Landsleute hat: Selbst Sunak nahestehende konservative Medien und Politiker zeigten sich offen empört. Nicht jeder Investmentbanker ist eben ein einfühlsamer Premierminister!

Gelb-graues Wahlplakat der SNP mit einem Foto von Martyn Day.
Zahlreiche bisherige SNP-Wähler haben für Labour gestimmt, denn sie hoffen, so Einfluss auf die britische Politik nehmen zu können. Sie schwören damit nicht der Hoffnung auf die Unabhängigkeit Schottlands ab, doch schien es ihnen vorrangig, die konservative Regierung in London abzulösen. (Bild: Ulsamer)

Der Verschleiß an Führungspersonal charakterisierte in den letzten Jahren nicht nur die Konservativen, sondern in gleicher Weise die nach Unabhängigkeit strebende Scottish National Party, die Schottland in die Unabhängigkeit führen will und für einen Verbleib in der EU warb. Das erste Unabhängigkeitsreferendum 2014 scheiterte, ein weiteres verhinderten die Regierungen in London. Weder die Konservativen noch die Labour Party konnte sich bisher für die Abtrennung Schottlands erwärmen. Bei der aktuellen Wahl zum Unterhaus waren wir in Schottland, und es lässt sich erkennen, dass der Impetus, wieder einen eigenständigen schottischen Staat zu bilden, schwächelt. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Einnahmen aus dem Nordseeöl, die die SNP für ihr ‚Land‘ reklamiert, geringer geworden sind. Zahlreiche Bürger haben dazuhin erkannt, dass ein schottischer Staat nicht ohne Hürden in die EU zurückkehren könnte. Sozial und wirtschaftlich schwächeren Gruppen geht es bei ihrer Stimmabgabe für Labour darum, die zukünftige Regierungspartei in London zu stärken und zu beeinflussen. Sie hoffen auf deren Engagement für Verbesserungen und sind bereit, dafür das Streben nach Unabhängigkeit – zumindest zeitweise – aufzugeben. Dass die SNP ihr zentrales Anliegen, die Unabhängigkeit, nicht durchsetzen konnte, kann ihr kaum angelastet werden, denn dafür hat sie nur die wenigen Grünen in Schottland als Bündnispartner, doch die Personalprobleme an der Spitze trugen maßgeblich zum Niedergang bei der Unterhauswahl am 4. Juli 2024 bei. Selbstredend gehören Wechsel an der Parteispitze in der Demokratie zum kulturellen Grundbestand, aber es gefällt den Wählerinnen und Wählern gewiss nicht, wenn immer ein fader Beigeschmack bleibt, weil Skandale und Skandälchen zum Abgang beitragen oder im Politiker-Karussell beständig die gleichen Namen auftauchen bzw. Befreiungsschläge als Fehlbesetzungen enden. Alex Salmond, der die SNP in zwei Etappen für insgesamt 20 Jahre prägte, verließ die Partei und moderierte von 2017 bis 2022 eine Sendung im russischen Propagandasender ‚Russia Today‘, um dann in gleicher Funktion für den türkischen Staatssender TRT die Trommel zu rühren. Nicola Sturgeon und ihr Mann bekamen es mit der Justiz zu tun, und Humza Yousaf überwarf sich als Parteivorsitzender und Erster Minister der schottischen Regionalregierung mit dem grünen Bündnispartner und musste nach gut einem Jahr abtreten. Der jetzige SNP-Vorsitzende John Swinney hatte 2002 bis 2004 wenig erfolgreich die SNP geführt und übernahm nun 20 Jahre später wieder das Ruder. Ein solches politisches Recycling und mageres Personaltableau konnte die Wählerschaft nicht überzeugen!

Die Grabenkämpfe bei den Tories und den schottischen Nationalisten erinnern mich an den Songtext von Frank Ramond: „Schlechtes Personal ist sehr schwer loszuwerden“ und „gutes Personal leider schwer zu bekomm’n.“ Für diese Feststellung muss man nicht unbedingt zu den Konservativen im Vereinigten Königreich schauen, es reicht, einen Blick auf die Ampelregierung unter Olaf Scholz zu werfen! Was ist nur in weiten Teilen Europas mit der Politik los?

Ein Containerschiff auf der offenen See mit überwiegend roten Containern.
Labour ging als strahlender Sieger aus den Wahlen zum britischen Unterhaus hervor, doch aus der großen Zahl an Mandaten resultiert auch eine große Verantwortung. Keir Starmer hat keine Chance, die Schuld auf Koalitionsparteien – wie in Deutschland – zu schieben, sondern er muss für Erfolg und Misserfolg einstehen. Wichtig wird es sein, den Export wieder zu stärken, der durch den Brexit einen Dämpfer erhalten hat. (Bild: Ulsamer)

The winner takes it all

Zu den gravierenden Bewegungen bei den Parlamentssitzen trägt natürlich das britische Mehrheitswahlrecht bei, denn es zählt nur der Sieg im Wahlkreis – mit welchem prozentualen Anteil auch immer. Kleinere Parteien tun sich daher schwer. Solche Wahlsysteme mag die Berliner Koalition aus SPD, Grünen und FDP im Übrigen gar nicht, daher hat sie ein Wahlgesetz verabschiedet, das auf Listen und Prozente setzt und dabei einkalkuliert, dass gewählte Abgeordnete ihren Platz im Deutschen Bundestag nicht einnehmen können, wenn deren Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr nach ihrem bundesweiten Prozentsatz zustehen würden. Mehr dazu in meinem Beitrag: ‚Wahlrechtsreform: Trotz Direktmandat nicht im Bundestag? Der Vorschlag der Ampelregierung gefährdet die Demokratie‘. Die Labour Party hat mit 412 Sitzen eine komfortable Mehrheit und ist nun gefordert, die Probleme im Gesundheitswesen und beim Wohnungsbau beherzter anzugehen als die Konservativen. Erwartet werden wirtschaftliche Impulse, die sich im Lebensstandard der mittleren und unteren Schichten niederschlagen. Keir Starmer und seine Labour Party haben eine Rückkehr in die EU verworfen, und sie müssen beweisen, dass sie die Probleme des Landes wirklich zu lösen vermögen. Der National Health Service ist seit Jahrzehnten selbst ein Patient, und dies unter konservativen genauso wie unter sozialistisch-sozialdemokratischen Regierungen. Rund 7,6 Millionen Menschen stehen auf den Wartelisten des NHS und warten auf eine Behandlung. Nicht wenige Kranke liegen auf einem Schragen im Gang und nicht in einem Bett im Zimmer.

Ein Wandgemälde in Derry: Britischer Soldat mit Schnellfeuergewehr bedroht fliehende Menschen, darunter einen katholischen Pfarrer mit weißem Taschentuch. Diese Gruppe versucht, einen Verletzten in Sicherheit zu bringen.
In der Bogside im nordirischen Derry erinnert ein Wandgemälde an eine Szene, die die wahren Verhältnisse am Bloody Sunday zeigte: Ein Pfarrer winkt mit einem blutgetränkten weißen Taschentuch als er mit anderen Männern versucht, ein verletztes Opfer in Sicherheit zu bringen. In Derry erschossen am 30. Januar 1972 britische Fallschirmjäger 14 unbewaffnete Demonstranten, die gleiche Zahl wurde durch Schüsse verletzt. Dieses erschreckende Ereignis befeuerte die Gewaltspirale in Nordirland, die die Iren etwas verharmlosend „Troubles“ nennen. Lange Jahre versuchte die britische Regierung, die Schuld den Bürgerrechtlern anzulasten, die zu dem Demonstrationsmarsch aufgerufen und an ihm teilgenommen hatten. Erst der Saville-Report, der 2010 dem britischen Unterhaus vorgelegt wurde, machte deutlich, dass die britischen Soldaten grundlos auf die wehrlosen Demonstranten geschossen hatten, die nach Lord Saville keine Gefahr für das eingesetzte Militär dargestellt hatten. Ich hoffe sehr, dass die Labour-Regierung nachhaltig zum Erhalt des fragilen Friedens in Nordirland beitragen wird. Mehr dazu in: ‚Ein trauriger Gedenktag: Bloody Sunday, 30. Januar 1972. Britische Soldaten erschossen in Derry unschuldige Iren‘. (Bild: Ulsamer)

Erwähnenswert ist, dass Sinn Féin, die insbesondere die nordirischen Katholiken vertritt, wieder sieben Sitze im Unterhaus gewonnen hat, diese jedoch wie in der Vergangenheit nicht einnehmen wird. Deren gewählte Abgeordnete lehnen die Autorität der britischen Regierung ab und sind nicht bereit, den Eid auf die Krone abzulegen. Sinn Féin setzt sich für die Wiedervereinigung von Nordirland mit der Republik Irland ein und hat in den vergangenen Jahren im irischen Süden deutlich an Zuspruch gewonnen. Weitere Hinweise zu Sinn Féins Rolle in der irischen Politik finden Sie in meinem Artikel ‚Irland: Sinn Féin löst politisches Erdbeben aus. Befürworter der Wiedervereinigung im Aufwind‘. Ich hoffe sehr, dass die Labour-Regierung mit mehr Nachdruck als die Konservativen den Weg zu einer dauerhaften Aussöhnung in Nordirland zwischen der protestantischen und der katholischen Bevölkerungsgruppe beschreitet, der durch das Karfreitagsabkommen geöffnet werden konnte.

Großflächiges Plakat der britischen Gewerkschaften. It's Time for Labour to make the right Choice.The future of Uk Oil & Gas is at stake. No Ban without a Plan.
Margaret Thatcher gelang es als konservative Premierministerin in ihrer Amtszeit zwar der Flut von Streiks einen Riegel vorzuschieben, doch der Einfluss der Gewerkschaften auf die Labour Party ist weiterhin sehr groß. Es wird sich zeigen, ob Keir Starmer einen Kurs fahren kann, der wirtschaftliche Erfolge und sozialen Ausgleich ermöglicht. Es ist kein Wunder, dass rechtzeitig zur Unterhauswahl am 4. Juni 2024 dieses Plakat im schottischen Grangemouth hing, einem Zentrum der Petrochemie. (Bild: Ulsamer)

Ja, ‚the winner takes it all‘, dafür sorgt das Mehrheitswahlrecht im Vereinigten Königreich. Dies zeigt sich bei der Labour Party mit 412 Sitzen und den mit 121 Mandaten am Boden liegenden Konservativen. Interessant ist es, dass die Liberaldemokraten um 63 Sitze auf 71 zulegen konnten. Der bei manchen Wahlumfragen hoch gelistete Nigel Farage mit ‚Reform UK‘ brachte es lediglich auf fünf Sitze. So wird Farage, der als Vorsitzender der UK Independence Party (UKIP) das Brexit-Desaster mit verursachte und nach einem Zwischenspiel mit der Brexit-Partei nun als Chef von ‚Reform UK‘ zwar sein politisches Unwesen in Westminster treiben kann, doch er wird zum Glück nur wenige Claqueure um sich haben.

Die Unterhauswahlen im Vereinigten Königreich haben die Konservativen und die schottischen Nationalisten als Verlierer zurückgelassen. Die Labour Party muss nun in der Regierung unter ihrem Premierminister Keir Starmer beweisen, dass sie nicht nur die Schwäche von Rishi Sunak zu nutzen verstand, sondern auf nahezu allen Politikfeldern zukunftsorientierte Impulse vermitteln kann.

 

Auf einem großen Schild steht in weißen Buchstaben auf blauem Grund: Welcome to Scotland. Darunter weht eine schottische Fahne mit einem weißen Andreaskreuz auf blauem Grund.
Die schottischen Nationalisten haben bei den Parlamentswahlen 2024 dramatisch an Zustimmung verloren, doch Premierminister Keir Starmer ist gut beraten, über ein Mehr an Autonomie für Schottland nachzudenken. Ansonsten dürfte der Wunsch nach Unabhängigkeit wieder zunehmen. (Bild: Ulsamer)

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