Wie aus einem Spleen ein Publikumsmagnet entstand
Manchmal gelten Briten ja doch als etwas spleenig, und das meine ich durchaus im guten Sinne. Sie schaffen dann etwas, das vielleicht niemand braucht, aber dennoch – oder gerade deswegen – großes Interesse weckt. Damit meine ich nicht David Cameron mit seinem sinnfreien Referendum oder Theresa May, die eifrig – aber ohne innere Überzeugung – für den Brexit ins Horn stößt. Sie setzten mit dem Brexit zwar auch ein Ereignis in die Welt, das im Grunde niemand braucht, aber diese beiden Politiker ohne Strategie meine ich selbstredend nicht.
Da war Sir Bertram Clough Williams-Ellis doch von ganz anderem Kaliber. Dieser, damals noch ohne ‚Sir‘, setzte ab 1925 über ein halbes Jahrhundert lang seinen Traum um: er baute ein Dorf im italienischen Stil, und dies nicht im Süden Europas, sondern im Norden von Wales. Immerhin ist Portmeirion 2000 Kilometer nordwestlich von Rimini gelegen, dem Sehnsuchtsort deutscher Urlauber ab den 1950er Jahren. Das kleine Dorf wurde künstlich geschaffen, doch dies spürt man auch als kritischer Geist nicht, wenn man erst einmal das Kassenhäuschen passiert hat, denn Portmeirion lebt von und für Touristen. Und so hatte es auch Williams-Ellis vorgesehen, denn durch die Einnahmen aus den Hotelübernachtungen finanzierte er den weiteren Ausbau.
Herz für Autodidakten
Geboren wurde Clough Williams-Ellis in England, doch als er vier Jahre alt war, zog seine Familie wieder zurück nach Wales, von wo sein Vater stammte. Nach nur wenigen Monaten an der ‚Architectural Association School of Architecture‘ in London und einigen Monaten Tätigkeit bei einem Architekten gründete Williams-Ellis sein eigenes Architekturbüro. Er entwarf zahlreiche Gebäude in Buckinghamshire und Oxfordshire, aber auch in Nordirland, um nur diese zu nennen. Bekannt wurde er auch für den Entwurf des Gipfelgebäudes auf dem Mt. Snowdon, dem mit 1085 Metern höchsten Berg in Wales, das allerdings später fragwürdige Umbauten über sich ergehen lassen musste und in den 1960er Jahren derart vernachlässigt wurde, dass es Prinz Charles später als „the highest slum in Wales“ bezeichnete.
Williams-Ellis wurde in verschiedene staatliche Komitees berufen, und dies obwohl er als Autodidakt sein architektonisches Werk gestartet hatte. Generell haben die Briten ohnehin ein offenes Herz für Amateure, noch besser einen Gentleman, der aus seinen Vorlieben eine Profession macht. Darüber haben meine Frau und ich schon in unserem 1991 veröffentlichten Buch „Schottland, das Nordseeöl und die britische Wirtschaft“ berichtet, das den Untertitel „Eine Reise zum Rande Europas“ trug. Damals hätten wir uns allerdings nicht vorstellen können, dass sich das Vereinigte Königreich aus seiner geographisch gegebenen Randposition auch noch per Brexit auf ‚Große Fahrt‘ weg von Europa begeben könnte in eine ungewisse Zukunft.
Portmeirion: Ein skurriler Traum wird Realität
Nun aber zurück nach Portmeirion, wo Williams-Ellis nicht nur seine Italien-Sehnsucht befriedigte, sondern auch architektonischen Relikten aus England zum Überleben verhalf. Als er mit seinem Dorf startete, da überließen ihm auch Freunde Überbleibsel von Gebäuden, die im Vereinigten Königreich der Spitzhacke zum Opfer gefallen wären. Somit ist seine Schöpfung in gewissen Bereichen auch eine Art Freilichtmuseum. Er wollte seinen Zeitgenossen Architektur nahebringen, auf planerische Grundsätze bei der Gestaltung von neuen Siedlungen aufmerksam machen und für deren verträgliche Einbettung in die Naturlandschaft werben: „Ich wollte ein wirklich breites Interesse für solche Dinge wie Architektur, Landschaftsplanung, die Wirkung von Farben, für Gestaltung allgemein erreichen.“ Dies ist Sir Bertram nach meiner Meinung gelungen, denn noch heute wirken die Häuser und gärtnerischen Anlagen nicht wie Fremdkörper, sondern sind eingebettet in die walisische Küstenlandschaft in der Nähe von Porthmadog.
Die von ihm entworfenen und umgesetzten Bauwerke wirken bis heute nicht als Neubauten, sondern könnten auch in einem italienischen Küstenort aus vergangenen Jahrhunderten stehen oder gerade von dort hierher verpflanzt worden sein. Zu kurz kamen bei der Errichtung zum Teil Langlebigkeit und dauerhafte Nutzbarkeit, daher mussten die Gebäude in der 1980er und 1990er Jahren bei Sanierungsarbeiten auf einen entsprechenden Stand gebracht werden. Die Portmeirion-Stiftung, die das Dorf heute trägt, sorgte somit dafür, dass auch weiterhin nicht nur zahlende Tagesgäste nach Portmeirion kommen, sondern auch das Hotel und die Apartments gut gebucht sind.
Illusionen ohne Kitsch
Bei einer solchen Neukreation spielen natürlich auch Illusionen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein Musterbeispiel ist das an der Kaimauer vertäute Schiff: Die ‚Amis Réunis‘, die einst in einem Sturm vor Port Meirion – die frühere Schreibweise des Ortes – zerstört wurde, ist gewissermaßen in steinerner Form vor dem Hotel für immer vor Anker gegangen, dort, bei der alten Schmiede, wo im 19. Jahrhundert Kähne für den Schieferabtransport aus der Snowdon-Region anlegten. Manch ein Zeitgenosse mag sich beim Spaziergang durch Portmeirion an die, zwar ganz andersartigen, skurril-verspielten Schöpfungen von Friedensreich Hundertwasser erinnert fühlen – auch ein Träumer und ebenfalls ein architektonischer Autodidakt.
Dass Williams-Ellis über Britannien hinausdachte, beweist nicht nur sein italienisches Dorf Mitten in der walisischen Provinz, sondern auch die Einbeziehung von Künstlern aus anderen Teilen Europas. Hans Nathan Feibusch, der als Jude vor den Nazi-Schergen aus Deutschland flüchten musste und 1938 die britische Staatsbürgerschaft annahm, gestaltete verschiedene Wandgemälde, so z.B. an der Gewölbedecke des Gate House. Er schuf aber auch andernorts in Großbritannien großformatige Wandmalereien, so z.B. in der Kathedrale von Chichester.
Sir Clough Williams-Ellis (1883 bis 1978) hat sein Leben – neben vielen anderen Gebäuden – seinem italienischen Dorf gewidmet. Portmeirion lohnt allemal einen Besuch, wenn Sie Ihr Weg nach Wales führt. Auch wenn man für Kitsch und überzogenen Folklorismus nichts übrig hat – wie auch ich dies tue -, so ist dieser Ort nicht nur eine malerische Kulisse, sondern auch ein lebendig gewordener Traum. Das Dorf passt sich in die Landschaft ein, als hätte es dort schon immer gestanden. Manche geplante Siedlung an anderen Orten dieser Welt wirkt dagegen wie ein Stachel in der Natur.
Von Filmen und Keramik
Für so manchen Film diente Portmeirion als Kulisse, so z.B. für „Geheimauftrag für John Drake“ oder „Number 6“, „The Prisoner“ oder „Doctor Who“. Und für den Manager der Beatles, Brian Epstein, errichtete Williams-Ellis, so weiß zumindest Wikipedia zu berichten, einen Anbau am Gate House.
Aber nicht nur britische Filme und Serien trugen Bilder von Portmeirion in die Welt hinaus, sondern auch das Keramikgeschirr, das seine Tochter, Susan Williams-Ellis und ihr Ehemann 1960 in Portmeirion kreierten. Pflanzen- und Fruchtzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert dienten als Vorbild für das bemalte Tafelgeschirr. Die Keramikserie ‚Botanic Garden‘ hatte mit den größten Markterfolg, kein Wunder bei all den Inspirationen in Portmeirion.
Ein Träumer – aber kein Zauderer
Träume und Spleens, die in die Realität umgesetzt werden, bringen unsere Welt ebenso voran wie zündende Ideen und wissenschaftliche oder wirtschaftliche Höchstleistungen. Brauchen wir nicht auch kulturelle Schöpfungen, die über rein rationale Überlegungen hinausgehen? Muss nicht auch ein italienisches Dorf in Wales seinen Platz in unserer Welt haben? Ich denke – schon! Und Williams-Ellis hat von Anfang an dafür gesorgt, dass er mit Portmeirion niemandem– auch nicht Staat und Gesellschaft – auf der Tasche liegt, sondern sich sein Traum selbst trägt.
Zur kulturellen Vielfalt gehört auch Portmeirion, das mehr ist als ein Anziehungspunkt für Touristen aus nah und fern. Es ist ein Beleg dafür, dass es sich lohnt, Träume in die Tat umzusetzen.
Immer wieder schön, im deutschsprachigen Internet Wales und besonders Pormeirion gewürdigt zu finden! Ein kleine Korrektur muss dennoch sein: Portmeirion war außer für seine Serie „Geheimauftrag für John Drake“ auch die Kulisse für Patrick McGoohans bahnbrechendes Serienexperiment „Number 6“ – “The Prisoner” ist der Originaltitel. “Nummer 6” feiert kommendes den 50. Jahrestag der deutschen Erstsendung am 16. August 1969. Mehr auf der verlinkten Website. – Wir sehen uns!