PISA-Studie so schief wie ihr Namensvetter

Mehr Bildung braucht das Land – nicht mehr Studien

Unser Bildungswesen braucht dringend Reformen, das ist für mich keine Frage. Ob aber die PISA-Studien der OECD den Weg in die Zukunft weisen können, das wage nicht nur ich zu bezweifeln. Als ich vor über sechs Jahrzehnten eingeschult wurde, mangelte es im Klassenraum an Stühlen: Die Kultus- und Schulverwaltung hatte zwar einige Jährchen Zeit gehabt, alles vorzubereiten, aber wer kann bei einem solch ‚kurzen‘ Vorlauf schon alles rechtzeitig bereitstellen. Wenn ich von unseren fünf Enkelkindern höre, wie heute der Schulalltag abläuft, dann frage ich mich wirklich, was die Schulpolitik in den zurückliegenden Jahrzehnten vollbracht hat? An allen Ecken und Enden fehlt es an Lehrkräften, und dies nicht nur, wenn eine Pandemie die Reihen lichtet und manche Lehrkraft darniederliegt. Stunden fallen aus, denn bei den Kollegien wurde ohne Krankheitsvertretungen geplant. Würde in der industriellen Produktion auch so gearbeitet, käme die Fertigung oft zum Stillstand, doch es gibt natürlich Springer, die die erkrankten Kollegen ‚am Band‘ ersetzen. Nur ein banales Beispiel, allerdings ist es symptomatisch für unser Bildungssystem. Nach jeder PISA-Studie geht ein Aufschrei durch das Land, denn wer möchte als Bildungspolitiker schon für das Abfallen der Schülerleistungen gescholten werden. Aber alsbald kehrt wieder eine bleierne Ruhe ein, und es wird nichts oder wenig verändert. Statt PISA-Ergebnisse, die mich an den schiefen Turm im gleichnamigen italienischen Pisa erinnern, wie eine Monstranz durchs Land zu tragen, sollten die Lehr- bzw. Lerninhalte überarbeitet und an die heutige Zeit angepasst werden. Schulen müssen baulich auf Vordermann, die Sanitärräume in hygienischen Topzustand gebracht und im Zeitalter der Digitalisierung muss die Ausstattung der Lernenden aufgerüstet werden, doch letztendlich hängt der Bildungserfolg vom Lehrpersonal und den Schülerinnen und Schülern ab – einschließlich ihrer Eltern. Hier müssen wir uns ehrlich machen, und die Politik sollte sich nicht hinter dem wohlfeilen ‚sozioökonomischen Status‘ verstecken, sondern klar aussprechen, dass es schwerfällt, die ohnehin schwächelnden Lesekenntnisse zu verbessern, wenn seit 2015 Millionen Menschen nach Deutschland kamen, die über keinerlei Deutschkenntnisse verfügen. Dieser Satz soll nicht heißen, man könne in Anbetracht der weltweiten Migration eh nichts machen, nein, ganz im Gegenteil! Wir brauchen eine breite Initiative, um das Lesen und Schreiben in Deutsch zu verbessern, und das wird nur mit mehr Personal, aber auch der Bereitschaft der Neuankömmlinge gehen, sich mit der deutschen Sprache intensiv zu beschäftigen.

Fünf Erdmännchen mit brääunlichem Fell unter einer Wärmelampfe. Drei schauen aufmerksam in eine Richtung, die beiden anderen in unterschiedliche Richtungen.
Selbst bei Erdmännchen passen nicht alle auf, umso schwieriger ist es, bei einer ganzen Schulklasse das Interesse wachzuhalten. (Bild: Ulsamer)

Digitales Feuerwerk ersetzt strukturierte Inhalte nicht

Schulen waren personell und von der Ausstattung her bereits vor Corona vielfach am Limit, und so hing es gerade auch vom Engagement der Lehrkräfte ab, wie sie die Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden trotz aller Widrigkeiten während der Pandemie in den Unterricht einbezogen. Zwar ist Digitalisierung kein Allheilmittel, doch in Zeiten ohne Präsenzunterricht war sie hilfreich. So manche Lehrerin trug Unterrichtsmaterialien in Papierform selbst aus, um ‚ihre‘ Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Engagement war in der Corona-Pandemie ein Schlüsselbegriff, und das gilt für die ‚normalen‘ Jahre in gleicher Weise. Wie in jedem Beruf gibt es die tatkräftigen Lehrerinnen und Lehrer, die die Schülerschaft motivieren können. Und es gibt die Mitarbeiter/innen, die eher an der eigenen Freizeit orientiert sind oder schon in jungen Jahren auf die Pension warten. Zeitgenossen, die ihr zentrales Anliegen nicht bei der engagierten Bildung junger Menschen sehen, fallen in Schulen schneller auf als in einer verwaltenden Behörde, und zumeist gibt es keine Chance, sich von den weniger motivierten Kräften zu trennen. Ist der Vorreiter am Pult, an der Tafel oder beim Einsatz eines digitalen Feuerwerks selbst wenig motiviert, dann kann das selbstverständlich kaum von der Schulklasse erwartet werden.  Noch ein Hinweis zur Digitalisierung: Diese kann nur ein Hilfsmittel sein, wenn auch ein wichtiges, denn es reicht nicht, die Schulbücher weitgehend zu verbannen, um an der Spitze der PISA-Kolonne zu marschieren, was sich bei der 2023 veröffentlichten PISA-Studie zeigte, auf deren Schwachstellen ich unten noch kurz eingehen werde. Finnland lag bei vorhergehenden Studien im Verhältnis zu Deutschland zwar deutlich besser, doch die PISA-Leistungen haben nachgelassen: „Viele Schulen in Finnland haben die Schulbücher abgeschafft und durch Arbeitsblätter aus dem Internet ersetzt, die nicht immer gut aufeinander abgestimmt waren“, so der finnische Bildungsforscher Dr. Jari Salminen im ‚Deutschen Schulportal‘ der Robert Bosch Stiftung. „Eine Qualitätskontrolle fand nicht statt. Und einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch aus meiner eigenen Fakultät, unterstützten damals diese Idee, die Schulbücher abzuschaffen. Sie sagten, sie seien altmodisch, zu strukturiert. Es gäbe keine Freiheit für das Kind, sein Lernen selbst zu steuern.“ Der ehemalige Schulleiter Salminen spricht noch ein weiteres Thema sehr präzise an: „Viele Konzepte, die in der Bildungsforschung entwickelt werden, sind in der Schule nur schwer umsetzbar. Solche Konzepte müssen sorgfältig entwickelt und ausgiebig erprobt werden. Das ist bei uns nicht geschehen.“ Eine weitere Aussage Salminens scheint mir auf nicht wenige deutsche bildungspolitische Aktivitäten gleichfalls zuzutreffen: „In den letzten 20 Jahren ist die Kluft zwischen Rhetorik und Realität immer größer geworden, die Lehrkräfte sind immer erschöpfter und die Ergebnisse immer schlechter.“

Schulklassen sind nicht selten zu einem Wanderzirkus geworden, der von Raum zu Raum marschiert. Dies ist nicht nur in Finnland ein Problem, auf das Salminen hinweist: „Und in den letzten fünf bis zehn Jahren wurden in vielen Schulen die Klassenräume ganz abgeschafft. Die neu gebauten Schulen sehen nicht wirklich wie Schulen aus – keine Klassenzimmerwände, oft keine richtigen Tische, nur weitläufige, offene Räume. Und gerade diese Schulen haben viel Kritik auf sich gezogen.“ Damit fallen Strukturen weg, die zahlreiche Kinder benötigen: „Für ein durchschnittliches Kind ist es nicht einfach, selbstgesteuert zu lernen. In einer normalen finnischen Schulklasse mit 25 Kindern sind vielleicht fünf dazu in der Lage, der Rest nicht. Und es gibt vielleicht sechs oder sieben Kinder, die eine viel strukturiertere Umgebung brauchen. Sie brauchen Ruhe, um sich konzentrieren zu können. Sie brauchen ihren eigenen Platz zum Lernen, einen normalen Schreibtisch.“ Ehe wir uns in Deutschland daranmachen, wahllos Veränderungen vorzunehmen, um zu den PISA-Führenden aufzuschließen, ist es sicherlich sinnvoll, zu prüfen, was wirklich zu einem besseren Lernerfolg beiträgt. Finnland zog lange Jahre ganze Delegationen aus Deutschland an, die sich über das Bildungssystem informieren wollten, sie hätten sich nach den jetzigen finnischen Ergebnissen die Reise wohl sparen können, wenn die PISA-Messlatte wirklich bedeutsam ist. Eines ist klar, es kommt auf engagierte Lehrkräfte und interessierte Schülerinnen und Schüler an. Medien ersetzen die Zuwendung zum Schüler und die sachgerechte Aufbereitung der Lerninhalte nicht. Ansonsten wird das stundenfüllende Abnudeln von Filmen während meiner Schulzeit durch multimediales Ruhigstellen ersetzt!

Der Schiefe Turm von Pisa. Der helle Turm neigt sich stark zur Seite.
Die internationalen Rankings der PISA-Studien erinnern mich an den schiefen Turm von Pisa, denn sozialwissenschaftlich gesehen stehen die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beauftragten Untersuchungen auf wackeligem Grund. (Bild: Ulsamer)

Stichproben zurecht geschnippelt

Als Soziologe habe ich allerdings Zweifel daran, ob die PISA-Studien wirklich so aussagekräftig sind, wie ihre mediale und politische Verbreitung es vorgaukelt. Meine Bedenken gründen bereits in der unterschiedlichen Vorgehensweise bei der Auswahl der Stichproben. Auf den ersten Blick scheint Klarheit zu herrschen, wie aus der Grundgesamtheit der 15jährigen Schülerinnen und Schüler in den jeweiligen Staaten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer herausgezogen werden, doch bei näherer Betrachtung verschwindet mancher Aspekt im Nebel. Einzelne Staaten beziehen z. B. Legastheniker nicht mit ein, was natürlich bei den geprüften Lesefähigkeiten einen deutlichen Unterschied macht. Die generelle Erfassung „liegt zwischen fast 100% in Ländern, in denen kaum Schulen bzw. Schüler ausgeschlossen werden und alle 15- bis 16-Jährigen eine Bildungseinrichtung besuchen, und weniger als 50% in einigen Ländern der unteren und mittleren Einkommensgruppe“, so berichten die PISA-Verantwortlichen. In der Türkei, Mexiko und zahlreichen anderen Teilnehmerländern ist ein Gutteil der 15-Jährigen nicht mehr in der Schule, sondern ist im Erwerbsleben gelandet – mit welcher Bildung auch immer. Feststellen lässt sich, dass gerade die Schüler aus Haushalten mit geringeren wirtschaftlichen Möglichkeiten die Schule zuerst verlassen. Der Bildungsforscher Heiner Barz im Berliner ‚Tagesspiegel‘ formuliert folgendermaßen: „Der Umstand, dass es in Chinas Metropolregionen, etwa in Peking oder Shanghai, Millionen Wanderarbeiter mit ihren Familien gibt, die keinen regulären Aufenthaltsstatus und damit auch kein Recht auf Schulbesuch haben, ist gut dokumentiert. Wenn dieser Teil der Bevölkerung in PISA nicht vorkommt, ist das natürlich ein Problem und auch eine mögliche Erklärung für die Spitzenplätze der Chinesen.“ Und Professor Barz fährt fort: „Für die traditionell auf PISA-Spitzenplätze abonnierten asiatischen Staaten wissen wir, dass die höhere Rechenleistung mit einem höheren Stress- und Angstpegel korreliert. Und wir wissen auch, dass es in China und Japan ein fast obligatorisches, wenig kindgemäßes Nachhilfewesen gibt, in dem Eltern ihre Kinder anmelden, weil die weitere berufliche Karriere ganz entscheidend vom Schulerfolg abhängt.“ Eines lässt sich aus diesen Beispielen ablesen: Wer glaubt, man könne Bildungssysteme aus anderen Staaten dem unseren einfach überstülpen, der irrt.

Wenn nicht in allen beteiligten Staaten die Teilnehmer an der PISA-Studien nach gleichen Kriterien in die Stichprobe kommen, dann können die Ergebnisse auch nicht repräsentativ und über das einzelne Land hinaus vergleichbar sein. In Staaten ohne demokratische Strukturen fällt es ohnehin schwer, die Auswahl der Schulen sowie der Schülerinnen und Schüler zu überprüfen. Der Pädagoge Rainer Bölling zweifelte im NDR erneut die Sinnhaftigkeit des internationalen PISA-Rankings an, denn „Da werden Äpfel mit Birnen verglichen“. Bölling begründet dies: „Beim letzten Mal war Deutschland Spitzenreiter, hatte 99,3 Prozent Erfassungsquote. Das heißt, so gut wie alle Schüler wurden durch diese Stichprobe repräsentiert. In anderen Ländern lag man unter 90, manchmal auch unter 80 Prozent. Und das wird anschließend miteinander verglichen, als wenn es dasselbe wäre. Durch den Zustrom von Migranten ist in Schweden der Erfassungsgrad um acht Punkte auf 86 Prozent zurückgegangen – in Deutschland ist er gestiegen. Das Ergebnis: Schweden hat sich mit den Zahlen verbessert und Deutschland hat sich verschlechtert. Das ist aber ganz offensichtlich darauf zurückzuführen, dass man in Schweden gesagt hat: Wir haben viele Migranten, die nicht hinreichend die Test-Sprache können – also lassen wir sie raus.“ Die Stichproben werden in den beteiligten Staaten unterschiedlich aus der Grundgesamtheit gezogen, weshalb kein verkleinertes Abbild der Schülerschaft entsteht, das sich mit anderen Staaten vergleichen ließe. Zurecht bestehen Zweifel an der Solidität der von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung getragenen PISA-Studien, die international sehr viel deutlicher geäußert werden als in Deutschland.

Der Beton zerfällt und das Moniereisen schaut heraus - rostet!
Bei öffentlichen Gebäuden mangelt es an einer umsichtigen Instandhaltung, denn wenn erst mal der Beton bröckelt und das Moniereisen herausschaut, dann droht der Verfall – wie an diesem Hochschulgebäude. In Deutschland bröseln eben nicht nur Brücken vor sich hin. (Bild: Ulsamer)

Gebäude sanieren, Inhalte überarbeiten

Meine Zweifel an der sozialwissenschaftlichen Basis der PISA-Studien bedeuten selbstredend nicht, dass wir das deutsche Bildungswesen nicht gründlich überdenken müssten. Wir haben einen Bildungsnotstand, das steht außer Frage, doch bringt es uns nicht voran, wenn Politiker auf die PISA-Ergebnisse starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Die Mängel liegen auf der Hand, und dies seit Jahrzehnten. Einige wenige Punkte möchte ich an dieser Stelle anführen. Wie in allen gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bereichen kommt es auf die Menschen im jeweiligen System an. Auch in einem altertümlichen Schulgebäude kann ein engagierter Pädagoge seine Schüler begeistern, selbst wenn an diesem Tag der Beamer ausfällt und es statt einer PowerPoint-Präsentation die Lehrerin oder den Lehrer in ‚Reinform‘ gibt. Nach der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse meinte ein Verbandsfunktionär der Berufsschullehrer im Radio, man könne in Schulräumen, die nicht in den passenden Farben – mal beruhigend, mal anspornend – gestrichen sind, keine Lernerfolge erzielen. Da konnten meine Frau als frühere Gymnasiallehrerin und ich als Soziologe nur den Kopf schütteln. Eine solche Aussage ist ein Armutszeugnis für einen Pädagogen! Nichtsdestotrotz benötigen zahlreiche Schulen eine bauliche oder gestalterische Auffrischung, nicht selten beginnend bei den Toiletten. Frappierend ist es schon, dass in Esslingen das Landratsamt nach 44 Jahren abgerissen wurde, um einem Neubau Platz zu machen, und in Stuttgart soll die Hanns-Martin-Schleyer-Halle mit einer Maximalkapazität von 15 500 Sitzplätzen nach vier Jahrzehnten, jetzt Bekanntschaft mit der Abrissbirne machen, um noch umfangreichere Bühnenproduktionen zeigen zu können, doch für die Schüler- und Lehrerschaft tun es auch Gebäude aus der Kaiserzeit. Abriss kann im Zeitalter des Klimawandels stets nur die letzte Lösung sein – es muss deutlich mehr in die Unterhaltung, Reparatur und Sanierung von Kindergärten, Schulen und Universitäten investiert werden. Dabei kann es aber nicht – wie von der SPD gefordert – um das nächste am Bundeshaushalt vorbei getrickste ‚Sondervermögen‘ oder die Aufhebung der Schuldenbremse gehen, sondern um eine solide Finanzierung aus den Steuereinnahmen.

Grünes Efeu rankt durch das Fenster in ein WC. Es hat bereits die Kloschüsel erreicht.
Ganz so malerisch sieht es auf vielen Schultoiletten nicht aus, daher benötigen zahlreiche Schulgebäude eine bauliche Auffrischung. Das Foto habe ich in einer ehemaligen Schule im Süden Irlands aufgenommen. (Bild: Ulsamer)

Ertüchtigung der Gebäude und Verbesserung der digitalen Infrastruktur ist wichtig, vor allen Dingen aber müssen die Lehr- bzw. Lerninhalte auf den Prüfstand. Solange die Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben teilweise ungenügend sind, macht es keinen Sinn zu intellektuellen Höhenflügen anzusetzen. Üben, üben, üben, kann hier nur das Motto sein! Gleiches trifft auf die Grundrechenarten zu, denn es ist schon bestürzend, wenn ein Auszubildender die Kosten von zehn Nägeln zu je 10 Cent im Taschenrechner ermitteln muss. Mehr Zeit zum Üben ist nur möglich, wenn die Lehrpläne entschlackt werden, doch da gibt es ausreichend Spielräume. Praktiker sollten hier den selbstverliebten Gestaltern von Lehrplänen in Kultusministerien stärker zur Hand gehen. Die PISA-Fragebögen werden bei dieser Aufgabe nicht wirklich weiterhelfen, denn welchen Praxisbezug soll es haben, wenn bei PISA allen Ernstes ein leicht skurriles Thema angesprochen wird: „Du besuchst deine Verwandten, die vor Kurzem auf einen Bauernhof gezogen sind, um Hühner zu züchten. Du fragst deine Tante: ‚Wie hast du gelernt, Hühner zu züchten?‘ Sie sagt: ‚Wir haben mit vielen Leuten gesprochen, die Hühner züchten. Außerdem gibt es viele Informationen dazu im Internet. Es gibt zum Beispiel ein Forum über Hühnergesundheit, das ich gerne besuche. Es war vor Kurzem sehr hilfreich für mich, als sich eine meiner Hennen am Bein verletzte. Ich zeige dir die Unterhaltung, die ich hatte.‘ In einer Zeit, in der die meisten Hühner in Massenställen gehalten werden, ist eine solche Themenstellung doch eher absurd, sie könnte aus einem 100 Jahre alten Lehrplan stammen. Lerninhalte müssen überarbeitet und reduziert werden, um mehr Zeit fürs Üben zu gewinnen, und selbstredend macht Lernen mehr Freude, wenn auch die baulichen Gegebenheiten stimmen.

Vier Frauen von hinten mit langen Kleidern und verhülltem Kopfhaar. gehen einen Weg entlang. Davor eine blonde Frau und ein Mann mit Mütze.
Ein ohnehin personell auf Kante genähtes Bildungswesen kann nicht ständig mehr Kinder, Jugendliche und Heranwachsende aufnehmen, die keinerlei Deutschkenntnisse mitbringen und deren Eltern ihnen auch kaum beim Erlernen der neuen Sprache helfen können. (Bild: Ulsamer)

Schwieriges gesellschaftliches Umfeld

Lehrer können sich ihre Schüler nicht aussuchen, und das gilt auch umgekehrt – wie ich selbst leidvoll erfahren durfte. Wer heute über die Qualität der Lehrkräfte jammert und von der guten alten Zeit schwärmt, der muss schnell die früheren Unzulänglichkeiten vergessen haben. Einer meiner ersten Lehrer in der Grundschule schrieb während des Unterrichts fleißig Briefe, während wir weniger fröhlich Aufgaben bearbeiteten. Doch die Briefe schickte er nie ab, sondern stapelte sie im Pult und schloss sie ein. Leider habe ich nie erfahren, wem oder was er geschrieben hat. Bei unseren Kindern gab es Lehrkräfte, die eifriger beim Öffnen von Bierflaschen waren als bei der Motivation der Schülerinnen und Schüler, und so mancher vervielfältigte jahrzehntelang die gleichen Übungsblätter, obwohl sie durch die gesellschaftlichen Veränderungen – z.B. die Wiedervereinigung – hinfällig geworden waren. Bei unseren Enkelkindern finden sich ganz genauso die inhaltlich und pädagogisch versierten Lehrerinnen und Lehrer wie eben auch diejenigen, die hoffen, mit möglichst wenig Eigenleistung durchzukommen. Alle Versuche, Leistungswillen bei Lehrern deutlich stärker zu honorieren, sind im deutschen Bildungswesen bisher gescheitert, das ist eine deutliche Ungerechtigkeit gegenüber den leistungswilligen Pädagogen. Wenn sich der Wille zur Leistung stärker auszahlen würde, dürften sich sicherlich mehr junge Menschen für den Lehrberuf entscheiden. In der Lehrerausbildung müsste das Vermitteln der Inhalte stärker betont werden als bisher, und dies gilt für alle Schulbereiche.

Nicht übersehen dürfen wir, dass sich die Herausforderungen aus dem gesellschaftlichen Umfeld vermehrt haben, und zunehmend der Eindruck entsteht, dass die in der Familie vernachlässigten Aufgaben kurzerhand der Schule aufgehalst werden. So gibt es nicht mehr Lehrkräfte, aber viel mehr Aufgaben. Die politischen Entscheider sind zwar überaus eifrig bei der Zuweisung von Tätigkeitsfeldern, doch an mehr Geld, mehr Personal und baulichen Veränderungen hapert es dann. Aus meiner Sicht trifft das auch für die Inklusion zu. Um die Tatsache, dass durch eine enorme Zuwanderung seit 2015 mehr Menschen in Deutschland leben, die über keine Deutschkenntnisse verfügen, drücken sich Politiker gerne herum und verstecken dies – wenn es um den Lernerfolg geht – unter der Rubrik ‚sozioökonomischer Status‘ oder hinter einer – wie auch immer definierten – sozialen Ungleichheit. Wie soll ein Bildungssystem – von der Kita über den Kindergarten bis zur Schule – mit der Tatsache zurechtkommen, dass sich der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund – nach den Zahlen der PISA-Studie – von 13 % im Jahr 2012 auf 26 % im Jahr 2022 verdoppelt hat? Zahlen zum Migrationshintergrund hängen natürlich von der Definition ab, denn bei PISA werden nur diejenigen Schüler einbezogen, bei denen beide Elternteile im Ausland geboren wurden.  „Bei 9 % der 15-jährigen Schüler*innen handelte es sich 2022 um Schüler*innen mit Migrationshintergrund der ersten Generation, d. h., sie wurden in einem anderen Land bzw. einer anderen Volkswirtschaft geboren, und ihre Familien sind erst in den letzten Jahren nach Deutschland gezogen. Von diesen Schüler*innen der ersten Generation sind 19 % eingereist, als sie nicht älter als 5 Jahre waren; 20 % sind erst nach Vollendung des 12. Lebensjahres nach Deutschland gekommen und haben somit die Grundschulzeit in einem anderen Bildungssystem abgeschlossen“, so die ‚PISA Country Notes Deutschland‘. Bei aller berechtigten Kritik an manchen Bildungsbereichen, eine solche Zusatzaufgabe – die Beschulung nicht deutschsprachiger Schüler – kann mit dem annähernd gleichen Personal nicht zufriedenstellend gestemmt werden! Wenn es bereits bei angestammten Schülerinnen und Schülern an den Lesefähigkeiten hapert, dann kann diese bei neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in Deutsch natürlich nicht besser sein. Neu zugezogene Schüler können in einem fremdsprachigen Elternhaus beim Erlernen von Deutsch kaum Unterstützung finden, und in Herkunftsländern, in denen Mädchen keine oder kaum eine Chance auf Schulbildung haben – wie z. B. in Afghanistan – oder Bürgerkrieg herrscht – wie in Syrien – stellt sich ohnehin die Frage, was an Bildung mitgebracht werden kann. „Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund weisen in der Regel ein ungünstigeres sozioökonomisches Profil auf als solche ohne Migrationshintergrund. Insgesamt gelten 25 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland als sozioökonomisch benachteiligt, unter den Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund liegt dieser Anteil bei 42 Prozent“, so Florentine Anders in ihrem Beitrag ‚PISA-Studie: Die wichtigsten Ergebnisse und Reaktionen“, veröffentlicht im bereits erwähnten ‚Deutschen Bildungsportal‘. „Beim Lesen liegen die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund um 67 Punkte zurück. Nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Profils erreichen sie 40 Punkte weniger als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund.“ Nur durch eine große gesellschaftliche Kraftanstrengung dürfte es möglich sein, die bildungspolitischen Probleme, die aus einer hohen Migration – einschließlich der ukrainischen Flüchtlinge – resultieren, in den Griff zu bekommen. Dies jedoch auch nur dann, wenn die Zuwanderung in geregelten Bahnen verläuft und die Migrationszahlen gedrückt werden können. Dabei muss es gelingen, leistungswillige Menschen aus anderen Staaten nach Deutschland zu holen, die bereit sind, sich in unsere Gesellschaft und Kultur einzubringen.

Eine weiße mit Graffiti verschmierte Tür versperrt den Zugang zu einer Treppenkonstruktion aus Metallrohren.
Diese Treppe an einer Schule dient nicht temporären Bauarbeiten, sondern ist eine langfristige Feuertreppe. Prioritäten anders setzen: Statt neuen Gebäuden für die öffentliche Verwaltung wäre eine Auffrischung vieler Schulgebäude wichtiger, vor allem dann, wenn – wie in Esslingen am Neckar – ein Gebäude des Landratsamts nach gerade mal 44 Jahren abgerissen wird, das hätte saniert werden können. Mehr hierzu in meinem Blog-Beitrag ‚Landratsamt Esslingen: Abriss statt Sanierung. Würden Sie Ihr Haus nach 44 Jahren abreißen?‘ (Bild: Ulsamer)

Politik muss ihre Aufgaben lösen!

„Ob Eltern vorlesen, steht nicht in unserer Macht, ist aber sehr relevant“, sagt der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/ Die Grünen). Mit dieser Aussage spricht Kretschmann einen wichtigen Punkt an, denn viele muttersprachliche Deutsche lesen ihren Kindern nicht vor oder führen sie zum Lesen hin. Und wie sollen Neuzugezogene, die selbst weder Deutsch lesen noch schreiben können, ihre Kinder beim Erlernen unserer Sprache unterstützen? Fremdsprachen waren nicht meine Lieblingsfächer, daher kann ich mir vorstellen, wie schwer es ist, sich in einer neuen Sprache zurecht zu finden und diese alltagstauglich zu sprechen. Ob sich Angela Merkel (CDU) das so richtig überlegt hat, als sie während ihrer Zeit als Bundeskanzlerin meinte, „Wir schaffen das“? Ihrem Nachfolger Olaf Scholz (SPD) ist nach meinem Dafürhalten auch keine Lösung eingefallen, um die Migrationsbewegung mit den gesellschaftlichen Möglichkeiten – gerade auch im Bildungsbereich – in Einklang zu bringen!

Die internationalen Rankings der PISA-Studien sind nach meiner Meinung wenig aussagekräftig, doch dürfen wir sie dennoch nicht achtlos beiseitelegen, denn sie decken sich – auf unser Land bezogen – mit anderen alarmierenden Erkenntnissen. Das deutsche Bildungssystem muss reformiert werden, wobei Schüler und Lehrer bzw. die Lerninhalte ebenso im Blick behalten werden müssen wie die materiellen Ressourcen in Form von Gebäuden, digitalen Hilfsmitteln usw. Für mich stellt sich dabei auch die Frage, ob wir uns sechzehn Bundesländer mit unterschiedlichen Lehrplänen leisten wollen, wo zunehmend ohne Bundesmittel (z. B. bei der Digitalisierung) wenig geht. Mein Herz schlägt zwar für eine föderale Struktur, doch sechzehn Kultusministerinnen oder ein Kultusminister bringen offensichtlich wenig Vorteile. Betrachte ich die letzten fünf Ministerinnen, die im Bund für Bildung und Forschung zuständig waren, dann kann ich allerdings keine tiefgreifenden und praxisorientierten Impulse erkennen. Oder geht es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser anders, wenn Sie für den Zeitraum ab 1998 die Namen Edelgard Bulmahn (SPD), Annette Schavan (CDU), Johanna Wanka (CDU), Anja Karliczek (CDU) und Bettina Stark-Watzinger (FDP) lesen? In Bund und Ländern fehlt es bei der Bildung an innovativen Ideen und Elan in der Umsetzung.

Bildung muss in unserem Land nicht nur in Sonntagsreden, sondern in der täglichen Politik einen höheren Stellenwert erhalten. Es macht keinen Sinn, hinter den Spitzenreitern im PISA-Ranking her zu hecheln, da die Vergleichbarkeit der Ergebnisse nicht gegeben ist. Die Probleme im Bildungsbereich lassen sich ohne PISA gut erkennen und müssen angepackt werden: Mehr engagierte Lehrkräfte sind von Nöten, eine Überarbeitung der Lerninhalte, eine bauliche Auffrischung der Schulen incl. digitaler Aufrüstung sind zwingend. Schule geht uns alle an, und das heißt auch, dass alle Eltern ihren Beitrag zum schulischen Erfolg beitragen können und müssen, was bei der Erziehung anfängt und weitergeht über das Vorlesen bis zur dauerhaften Förderung. Eine ungeregelte Zuwanderung im bisherigen Ausmaß wird es jedoch unmöglich machen, die schulischen Defizite in der Breite zu verändern, denn die Zahl der Lehrkräfte lässt sich nicht beständig erhöhen. Hier muss die Politik ihre Aufgaben erfüllen und darf diese nicht zur Bearbeitung an überlastete Kollegien weiterreichen! Nicht Schülern und Lehrern oder den Eltern gebühren die schlechten PISA-Bewertungen, sondern im Grunde der Politik.

 

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Auf leicht bläulichem Hintergrund steht "Tedsch Lerrnd nixx fon Aloine".Mehr Sprachförderung tut not: Viele Politikerinnen und Politiker gaben sich erneut überrascht und besorgt, als die 2022 durchgeführte PISA-Studie im Dezember 2023 vorgelegt wurde und mal wieder schlechte Ergebnisse bei Schülerinnen und Schülern in Deutschland aufleuchteten. Aber mal ganz ehrlich: Wer hat denn geglaubt, dass trotz eines seit 2015 anhaltenden Zustroms von Migranten plötzlich die Lesefähigkeit in Deutsch besser werden könnte? Wenn ich plötzlich als Schüler in einem afghanischen Dorf aufwachen würde, dann käme ich mit meinen Deutschkenntnissen vermutlich gar nicht weit. Die Schulen werden nicht nur durch den Zuzug von Menschen ohne jegliche Deutschkenntnisse belastet, sondern auch durch die Übernahme von Erziehungsaufgaben, die früher stärker in den Familien geleistet wurden. (Bild: Ulsamer)

Eine Antwort auf „PISA-Studie so schief wie ihr Namensvetter“

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
    vielen Dank für Ihre kundigen Betrachtungen zur Pisa Studie.
    Zurecht weisen Sie darauf hin, dass die Zunahme nicht oder eingeschränkt deutsch sprechender Kinder, die Schulen herausfordert.
    Dies sicher unabhängig vom Ergebnis einer Studie, wie aussagekräftig diese auch immer sein mag. Die Kindergärten und Schulen sind für die Entwicklung der Kinder von ganz erheblicher, zunehmender Bedeutung.
    Für eine positive Entwicklung unseres Landes ist es mangels Rohstoffe von ganz erheblicher Bedeutung, dass es gelingt den Kindern eine gute Schulbildung, für eine gelingende berufliche Entwicklung, zu ermöglichen.
    Vermutlich ist die Qualität der Schulen für die Wählerinnen und Wähler nicht so wichtig, dass sich der Beitrag der Politik für eine gute Entwicklung dieses Bereichs entscheidend auf das Wahlergebnis auswirkt.
    Dann sind aber wir alle für die mangelhafte Entwicklung verantwortlich.
    Neben der Unterstützung der Kinder im Elternhaus ist es deshalb notwendig die Politik auf die Defizite und ihre Verantwortung für das Wohlergehen der Kinder hinzuweisen. Unabhängig von Pisaterminen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Gerhard Walter

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