Mit Musik und Handschuhen in die Welt
Seit über 200 Jahren erklingt „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Dieses Weihnachtslied hat wie kaum ein anderes die Herzen der Menschen in weiten Teilen unserer Welt erobert. Ich möchte auch am zweiten Corona-Weihnachten an das Lied erinnern, obwohl Singen in Kirchen oder bei Konzerten kaum noch möglich ist und selbst in den eigenen vier Wänden nur im kleinen Kreis gefeiert werden soll. Erst seit 25 Jahren weiß man, dass Joseph Mohr den Text im Jahr 1816 in Mariapfarr im Salzburger Bezirk Lungau als Gedicht geschrieben hat. In Oberndorf in der Nähe von Salzburg trafen sich Hilfspfarrer Mohr und der Dorfschullehrer und Organist Franz Xaver Gruber, der dann die Melodie komponierte. Als ausgerechnet an Heilig Abend 1818 die kleine Orgel der Schifferkirche St. Nikola in Oberndorf an der Salzach ausgefallen war, da sangen Mohr und Gruber, der auf der Gitarre begleitete, „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ im Duett. Die Kirchgänger waren begeistert, und sie läuteten gewissermaßen einen weltweiten Siegeszug ein.
Handschuhhändler singen „Stille Nacht“
Den Weg in die Welt nahm „Stille Nacht“ aber nicht von Oberndorf aus, sondern das Lied machte zuerst einen Umweg über Tirol. Carl Mauracher, der die Orgeln in der Wallfahrtskirche Arnsdorf und in St. Nikola reparierte, war der musikalische Bote, der das Weihnachtslied in seinen Heimatort Fügen im Zillertal brachte, wo es bereits 1819 in der Christmette gesungen wurde. Verschiedene Familien besserten im Zillertal ihr kärgliches Einkommen aus der Landwirtschaft durch die Herstellung von Lederhandschuhen auf, die sie dann als fahrende – besser: als zu Fuß gehende – Händler verkauften. Als frühe ‚Marketingmaßnahme‘ sangen die Geschwister Strasser aus Laimach (heute Teil der Gemeinde Hippach) auf den Jahr- und Wochenmärkten, die ihr Vater mit den Erzeugnissen der Familie in der Winterzeit besuchte. Als Kinder und Erwachsene intonierten sie „ächte Tyroler Lieder“, und das Marketingkonzept ging auf: der Gesang zog Käufer an, Musik und Handschuhe waren eine ansprechende Kombination.
„Stille Nacht! Heilige Nacht!“ brachten die Geschwister Strasser 1831 dann nach Leipzig, als sie dort ihre Waren feilboten. Franz Alscher, der Organist und Kantor in der katholischen Diaspora-Gemeinde in Leipzig, hörte die Geschwister Anna, Joseph, Amalie und Caroline auf dem Markt und lud sie zur Christmette in die Kapelle in Pleißenburg ein. Ihr Bruder Alexander war im gleichen Jahr in Königsberg verstorben. Die Geschwister aus dem Zillertal sangen vor ihrer Rückreise in einer Konzertpause im angesehenen Leipziger Gewandhaus. Ihr Auftritt fand eine freundliche Aufnahme in der in Leipzig erscheinenden ‚Allgemeine musikalische Zeitung‘: „Man hatte nämlich in der Pause die drey liebenswürdigen Töchter und einen Sohn der Familie Strasser aus dem Zillerthale (Kaufleute, nicht Sänger von Profession) so lange gebeten, bis sie der vollen Versammlung die Freude gewährten, einige Tyroler Nationallieder so allerliebst vorzutragen, daß der Saal von stürmischem Beyfalle widerhallte.“
Musikalische Botschafter des Zillertals
Im Winter 1832/33 traten die Strasser-Geschwister nicht nur bei einem eigenen Konzert in Leipzig auf, sondern das Lied wurde auch erstmals in gedruckter Form veröffentlicht. Der musikalische Erfolg ermöglichte es den Strassers, auf ihren Handschuhhandel zu verzichten, und die Geschwister zogen singend durch Deutschland. Als 1835 Amalie in Leipzig jung verstarb, löste sich die Gesangsgruppe auf. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. bezeichnete „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ als sein Lieblingslied, und einer Nachfrage der Königlich Preußischen Hofkapelle in Salzburg nach den Noten verdanken wir die Erkenntnis, dass Franz Xaver Gruber die Melodie komponiert und Joseph Mohr den Text geschrieben hat.
Nicht nur die Strassers waren musikalische Gesandte des Zillertals, sondern auch die verschiedenen Formationen der Familie Rainer aus Fügen. „Der Familiengesang entstand – so wird es überliefert – als die Ur-Rainer auf Schloss Fügen für den österreichischen Kaiser Franz I. und den russischen Zaren Alexander I. sangen“, so das Stille-Nacht-Museum in Oberndorf. Empfehlungsschreiben ebneten den Zugang zu Fürstenhöfen in Europa, und 1827 wagten die Rainers die Reise nach England. „Die Zillertaler lernten auch die zukünftige Königin Victoria kennen, zu deren Krönungsfeierlichkeiten sie 1838 erneut nach England reisten.“ Ludwig Rainer setzte die Gesangstradition fort und stach mit weiteren Familienmitgliedern in See, um Amerika zu ‚erobern‘. Die Tournee dauerte von 1839 bis 1843, und es gilt als gesichert, dass die Rainer 1839 in New York „Stille Nacht! Heilige Nacht“ erstmalig in den USA sangen. Danach tourten sie 10 Jahre lang durch das russische Zarenreich.
Aus Milliarden Kehlen erklingt ein Lied
In Hütten und Palästen, in guten und schlechten Zeiten wurde „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ in immer mehr Ländern gesungen. In Flandern kam es an Heilig Abend 1914 zu einer Verbrüderung der Soldaten auf beiden Seiten, die in ihren Schützengräben „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ sangen – gemeinsam, wenn auch durch Zäune und Gräben getrennt. Nach der Waffenruhe ging das grauenvolle Sterben im Ersten Weltkrieg weiter. Während des Zweiten Weltkriegs stimmten US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston S. Churchill im Garten des Weißen Hauses „Silent Night“ an.
„An Weihnachten wird es von rund zwei Milliarden Menschen weltweit gesungen: Auf allen Kontinenten und in über 320 Sprachen und Dialekten“ weiß das Stille-Nacht-Museum zu berichten. 2011 wurde „Stille Nacht“ durch die Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe geehrt. Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber haben mit ihrem Lied – in Text und Melodie – einen Nerv getroffen: „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ spricht auch nach 200 Jahren viele Menschen an, und dies ist ein positives Signal.
Im Jahr 2021 wird „Stille Nacht“ zum zweiten Mal weniger und leiser zu hören sein – eine Folge der weltweiten Coronapandemie aus dem chinesischen Wuhan und der mangelnden Vorbeugung gegen die Seuche sowie der inkonsequenten Gegenmaßnahmen auch in Deutschland.
Zum Beitragsbild
Mit Musik und Handschuhen zogen Familien aus dem österreichischen Zillertal im 18. und 19. Jahrhundert in die Welt. Sie konnten nur überleben, wenn sie zusätzliche Einnahmequellen erschlossen, da die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu wenig abwarf. Zu den Produkten, die sie in Heimarbeit herstellten, zählten gerade auch Lederhandschuhe. (Bild: Ulsamer)
Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
vielen Dank für den sehr informativen Beitrag über die Verbreitung eines wohl die meisten Menschen berührenden Lieds.
Der frühere in Ippingen tätig gewesen Pfarrer Josef Keller hat ebenfalls dazu beigetragen, das Lied in die Welt zu tragen. Wenn die Zahlen stimmen hat der Universal – und Sprachgelehrte, Herr Pfarrer Keller das Lied in 200 Sprachen übertragen.
Dies als kleine Ergänzung.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen zum Fest
Gerhard Walter
Sehr geehrter Herr Walter,
vielen Dank für Ihren interessanten Hinweis auf Herrn Pfarrer Keller, der meinen Beitrag sehr gut abrundet.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie frohe Weihnachten und ein gesundes Jahr 2022.
Mit herzlichen Grüßen nach Immendingen
Lothar Ulsamer