Die Titanic-Werft in Belfast ist pleite
Die nordirische Werft Harland & Wolff hat den Untergang der von ihr gebauten Titanic um gut 100 Jahre überlebt, nun stehen allerdings die letzten 123 Mitarbeiter vor der Arbeitslosigkeit. Einst werkelten 30 000 Menschen an zahllosen Ozeandampfern, Fracht- und Marineschiffen, doch bereits in den 1960/70er Jahren verpasste nicht nur Harland & Wolff den Anschluss an die technische und politische Entwicklung. In anderen europäischen Staaten machte sich die Werftenkrise ebenfalls bemerkbar. Containerschiffe brachten neue Anforderungen, eilige Reisende setzten aufs Flugzeug und vom heutigen Kreuzfahrtboom war noch nichts zu spüren gewesen. Nach und nach verlagerte sich der Schiffsbau nach Asien, wo billige Arbeitskräfte zu finden waren. Im Vereinigten Königreich kam als weiterer belastender Faktor der Zerfall des Empires dazu. Von 1979 bis 1990 regierte Margaret Thatcher als Premierministerin, und sie versuchte die dauerstreikenden Arbeiter mit ihrem Kurs der Deindustrialisierung in die Schranken zu verweisen. So wurde Harland & Wolff zu einem Symbol dieser Deindustrialisierung in Nordirland und im Vereinigten Königreich.
Filme statt Schiffe
Bei einer Reise nach Nordirland darf man sich nicht von der Innenstadt Belfasts oder dem nach den ‚Troubles‘ wiedererstandenen Derry sowie den Touristenattraktionen wie dem Giant’s Causeway oder der ‚Titanic Experience‘ täuschen lassen. Die Wirtschaft im nördlichen Teil der irischen Insel ist nicht stark genug, um diesen Landesteil wirklich zu unterhalten. So fließen jährlich aus unterschiedlichen Budgettöpfen der britischen Regierung 10 Mrd. Pfund nach Nordirland. Der Anteil der Industriearbeitsplätze ist zwar höher als in England, doch letztendlich wurde der Niedergang der fertigenden Industrie nie richtig verkraftet.
Wenn auch im Belfaster Hafen Samson und Goliath, die zwei gigantischen Krupp-Kräne, nicht mehr arbeiten, so wuseln gleich gegenüber allerlei Menschen herum. Dies taten sie zumindest in den letzten Jahren in und rund um eine riesige Halle, in der keine Teile für Schiffe oder Maschinen entstehen, sondern die Serie ‚Game of Thrones‘ seit 2010 abgedreht wurde. Diese kommerziell erfolgreiche Fantasy-Fernsehserie für den US-Kabelsender HBO, die über andere Sender ebenfalls weltweit verbreitet wird, schuf natürlich neue Arbeitsplätze auf Zeit, doch wurden andere Qualifikationen benötigt als nebenan beim Schiffsbau. Die irische Filmförderung hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die Serie in Nordirland entstand.
Bringen weitere Filmstudios den Aufschwung?
Aber nicht nur die Nordiren tun fast alles, um US-Produktionen ins Land zu holen, sondern auch die Regierungsvertreter in der Republik Irland. Für ‚Star Wars‘ wurde in Kerry nicht nur zeitweise der Luftraum gesperrt, sondern ganze Strände. Zwar sind die Originalschauplätze nicht immer sofort auf dem heimischen Bildschirm oder der Kinoleinwand erkennbar, doch der touristische Nutzen ist groß, dies belegen die zahlreichen Tour-Anbieter, die sich auf die Spuren der TV- und Filmhelden gesetzt haben. Ein frühes Beispiel hierfür ist der US-Film ‚Ryan’s Daughter‘, der im Südwesten Irlands in der Nähe von Dingle aufgenommen wurde und 1970 in die Kinos kam, denn noch heute machen sich Fans auf den Spuren des Films auf nach Kerry.
Sollte jetzt noch bei Harland & Wolff das Licht ausgehen, das ohnehin nurmehr auf Sparflamme brannte, dann ist auch für dieses traditionsreiche Unternehmen der Vorhang gefallen. Im Gegensatz dazu möchte ‚Belfast Harbour‘ für 35 Mio. Pfund sechs neue Film- und Fernsehstudios bauen, um die Nachfrage nach entsprechenden Bauten befriedigen zu können. ‚Game of Thrones‘ lockte 2018 über 350 000 Fans nach Nordirland, die die Originalschauplätze besuchen wollten. Und auch das ursprüngliche Studio für Game of Thrones – die Linen Mill Studios in Branbridge, County Down am Fluss Bann – will ab 2020 eine Besichtigungstour anbieten.
Die Deindustrialisierung schlug zu
Der früher von Werften dominierte Hafen hat sich in Belfast gerade durch ‚Titanic Experience‘ zu einem Besuchermagneten entwickelt. Und diese Ausstellung ist wirklich überaus sehenswert, da sie sich u.a. intensiv mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen während des Baus des Ozeanriesen beschäftigt. Mag die Titanic auch bereits bei der Jungfernfahrt 1912 von einem Eisberg in die Tiefen des Ozeans gerissen worden sein, für die Tourismusbranche ist sie heute ein Glücksfall.
Wenn man sich mit Industriegeschichte beschäftigt, dann können die musealen Relikte vergangener Zeiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Deindustrialisierung zwar Flächen freimacht, dass sie aber auch neue Abhängigkeiten schafft. Und dies gilt für den Niedergang der Werftindustrie ebenso wie für die schwächelnden Stahlunternehmen im Ruhrgebiet oder die Völklinger Hütte im Saarland, die jetzt UNESCO-Welterbe ist. So richtig erholt haben sich diese Regionen nicht vom Niedergang von Kohle und Stahl in unseren Breiten. Etwas ketzerisch könnte man sagen, dass aus Irland statt Ozeanriesen heute Milchprodukte bis nach China geliefert werden, und aus Deutschland wird statt industrieller Waren zunehmend Schweinefleisch nach Asien exportiert. So werden wir den wirtschaftlichen Wettbewerb auf Dauer sicher nicht bestehen! Längst kommen Digitalkameras, Smartphones, Computer und Speichermedien aus Asien, und die Software – noch? – aus den Vereinigten Staaten.
Die wirtschaftliche Macht schippert davon
Diese Gedanken gingen mir zumindest bei einem Besuch im Hafengebiet von Belfast durch den Kopf. Dem einen oder anderen mag das etwas zu weit hergeholt sein, aber die Brüche in der industriellen Entwicklung in Europa halte ich für bedrohlich. Schließlich befahren mehr Frachtschiffe – zumindest von der Gesamttonnage her – als früher unsere Weltmeere, doch sie werden anderswo gebaut. An der Suche nach Ölquellen durch das Explorationsunternehmen ‚Providence‘ vor dem irischen Cork haben sich jetzt chinesische Investoren (APEC) beteiligt, und für das Vereinigte Königreich sind chinesische Atomkraftwerke im Gespräch – konzipiert, bezahlt und gebaut durch fernöstliche Investoren. Und was chinesische Investoren mit bundesdeutschen Regionalflughäfen vorhaben, so z.B. Hahn im Hunsrück, lässt sich noch nicht einmal schemenhaft erkennen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Harland & Wolff zu einer Ikone des Schiffsbaus, und die White Star Line wurde nicht nur mit der Titanic und den Schwesterschiffen Olympic und Britannic zu einem guten Kunden, sondern auch weitere namhafte Reedereien wie die Royal Mail Line oder P & O Lines ließen ihre Schiffe in Belfast auf Kiel legen. Doch nach langer Talfahrt wurde Harland & Wolff 1977 in die British Shipbuilders Corporation eingegliedert und 1983 wieder privatisiert. Ende der 1980er Jahre übernahm ein Unternehmen der Fred. Olsen Gruppe aus Norwegen die Werft. So manche Fläche konnte vermarktet werden, z.B. für Titanic Experience, doch im eigentlichen Produktionsbereich ging es weiter abwärts. Schiffe wurden nicht mehr gebaut, sondern ebenso wie Ölplattformen nur noch überholt. Nach Umfirmierungen ging das Tochterunternehmen von Fred. Olsen unter dem Namen Dolphin Drilling selbst in die Knie. Ein Käufer für Harald & Wolff wurde gesucht, bisher jedoch nicht gefunden. Auch die Herstellung von Komponenten für Windkraftanlagen auf dem Meer brachten keinen Umschwung.
Kreativität braucht Freiräume
Für mich ist Harland & Wolff symptomatisch für komplette Industriebranchen, die in Nordirland, im Vereinigten Königreich oder in ganz Europa im wahrsten Sinne des Wortes untergingen. Darüber können auch einzelne Leuchttürme nicht hinwegtäuschen, wie die Meyer Werft in Papenburg, die an einem an sich geographisch ungünstigen Standort erfolgreich Kreuzfahrtschiffe baut. Nahezu tatenlos hat die Politik zugesehen, wie ganze Industriezweige zerfielen, obwohl die Erzeugnisse durchaus noch gebraucht würden. Modernisierungsschübe wurden auch unternehmerisch verpasst, dies ist keine Frage, aber das politische Umfeld ließ ebenfalls zu wünschen übrig.
Und diese kritische Einschätzung bezieht sich gleichwohl auf die heutige Zeit. Da machen sich Bundesregierung und EU Gedanken über immer neue Datenschutzrichtlinien, doch die Anbieter im Internet residieren häufig in den USA, die Hardware kommt – wie bereits angesprochen – aus asiatischen Fabriken. Und wo kommen heute überwiegend Solaranlagen oder Batteriezellen her? Auf jeden Fall nicht aus Europa. Statt konsequent eine Wasserstoffinfrastruktur für die Nutzung durch Pkw, Busse, Lkw, Züge oder stationäre Anlagen aufzubauen, streitet man zu lange über das letzte Gramm Feinstaub oder sucht das Heil alleine in Batteriefahrzeugen. Wasserstoff im Übrigen wäre sehr gut als Speichermedium für regenerativ erzeugten Strom nutzbar, der zum Zeitpunkt der Erzeugung nicht gebraucht wird.
Ja, so schnell kommt man vom Niedergang einer Werft, die einst 30 000 Menschen beschäftigte, über die Industriegeschichte zu Zukunftsprojekten, die halbherzig oder gar nicht aufgegriffen werden. Ich bin mir sicher, Gottlieb Daimler, Carl Benz oder Robert Bosch, aber auch Edward James Harland und der deutschstämmige Ingenieur Gustav Wolff würden sich als unbequeme Konstrukteure und Unternehmer engagiert unserer heutigen Probleme annehmen und zur Lösung beitragen. Die unbequemen Kreativen brauchen auch in unserer Welt wieder mehr Freiraum!
Eine Antwort auf „Nordirland: Wenn Samson und Goliath in die Knie gehen“