Ertüchtigung der Infrastruktur kommt in Deutschland zu kurz
Ob die 50 bis 100 Jahre alten Schleusen am Neckar instandgesetzt oder verlängert werden, ist auf den ersten Blick ein regionales Thema, doch bei näherer Betrachtung ist die stiefkindliche Behandlung des Neckars symptomatisch für unsere gesamte Infrastruktur. Brücken, die unter der Belastung ächzen oder gesperrt werden müssen, überlastete Schienenverbindungen, Straßen, die Rüttelpisten gleichen, fehlende Stromleitungen und mangelhaft instandgehaltene Schleusen, dies alles gehört leider zum Alltag in Deutschland. Wie soll ein Land wirtschaftlich und technologisch in der weltweiten Spitzengruppe mithalten, wenn die Infrastruktur vor sich hin bröselt und rostet? Planungen für die Ertüchtigung von Bahnstrecken oder Autobahnen benötigen Jahrzehnte, und sollten sie endlich in Angriff genommen werden, dann scheinen sie nicht selten wie aus der Zeit gefallen. 2007 hatten der Bund und das Land Baden-Württemberg eine Vereinbarung über den Ausbau der Neckarschleusen für Schiffe bis 135 Meter Länge beschlossen, der eigentlich bis 2025 abgeschlossen sein sollte. Auf Kosten des Landes Baden-Württemberg – sprich von uns Steuerzahlern – wurde eifrig geplant, doch geschehen ist im Grunde nichts, und 2024 verkündete das Bundesministerium für Digitales und Verkehr unter Volker Wissing (FDP), dass man sich auf die Instandhaltung der Schleusen konzentrieren wolle und den Ausbau bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zurückstellt. Gerne fordert die Politik, die Wirtschaft solle mehr Güter mit Binnenschiffen transportieren, die Infrastruktur dafür allerdings wird sträflich vernachlässigt. Den Schienen und Straßen geht es ebenso. Deutschland ist zu einem verkehrspolitischen Jammertal geworden.
Instandsetzung und Verlängerung
Aus dem von den Kelten einstmals ‚wilder Fluss‘ genannten Neckar wurde in den Jahren 1921 bis 1968 von Mannheim bis Plochingen (in der Nähe von Stuttgart) eine Bundeswasserstraße. Die 27 Staustufen haben aus dem Neckar in manchen Bereichen einen Kanal gemacht, der nur noch selten bei Starkregen seine ursprüngliche Kraft zeigt. Mehr dazu finden Sie in meinem Beitrag ‘Der Neckar: Vom ‚wilden Fluss‘ zur Wasserstraße. Ein unterschätzter Fluss als Lebens- und Wirtschaftsader‘. Ökologisch gesehen ist die Schiffbarmachung des Neckars gewiss kein Musterbeispiel für die Berücksichtigung der Natur, doch wenn ein Fluss schon zur Schifffahrtsstraße gemacht wurde, dann sollte man ihn auch optimal für den Gütertransport nutzen und gleichzeitig – wo immer möglich – an die Renaturierung gerade der Uferbereiche oder der Altarme denken. Zwar hat das Landratsamt des Kreises Esslingen, dessen Hauptgebäude direkt am Neckar liegt und die Wasserstraße nichts miteinander zu tun. Aber im weiteren Sinne ist es schon eine Perversion, wenn es an der Instandsetzung oder Ertüchtigung der teilweise hundert Jahre alten Schleusen mangelt, der Kreistag andererseits nach 44 Jahren den sogenannten ‚Altbau‘ des Landratsamtes abreißen und einen Neubau errichten ließ. Die jüngste der Neckarschleusen bringt es immerhin auf 50 Jahre. Mehr zu diesem aus meiner Sicht skandalösen Vorgehen finden Sie in meinem Artikel ‚Landratsamt Esslingen: Abriss statt Sanierung. Würden Sie Ihr Haus nach 44 Jahren abreißen?‘ Behördensilos sind halt mehr en vogue als die Verkehrsinfrastruktur, das sieht man auch beim von Bundeskanzler Scholz durchgezogenen Vorhaben, das Bundeskanzleramt raummäßig zu verdoppeln. Ergänzende Infos finden Sie in ‚Bundeskanzleramt: Prunk und Protz. Der Erweiterungsbau passt nicht in unsere Zeit‘. Nun – so ist das eben in unserem Land: Weite Teile der politischen Entscheidungsträger setzen Prioritäten, die uns nicht voranbringen.
Zwar bin ich weit davon entfernt, heute noch Flüsse schiffbar machen zu wollen oder neue Verbindungen wie den Main-Donau-Kanal gutzuheißen, der zwischen 1960 und 1992 erbaut wurde, um den Rhein mit der Donau zu verbinden. Wirtschaftlich gesehen hat das Projekt wenig gebracht, es sei denn, man betrachtet es als ausreichend, wenn Flusskreuzfahrtschiffe dort verkehren. Aber am Neckar liegt der Ausgangspunkt völlig anders: Es geht darum, alte Technik auf den neusten Stand zu bringen und dabei die Schleusen so zu verlängern, dass sie auch von 135 Meter langen Schiffen, die auf dem Rhein verkehren, durchfahren werden können. Bisher liegt das Höchstmaß bei 105 Metern, und wer sich den Schleusenvorgang auf dem Neckar schon mal angeschaut hat, der kann die Schiffsführer nur zu ihrer Leistung beglückwünschen, denn in der Breite geht es gleichfalls um jeden Zentimeter. Zwischen der Schleuse Mannheim-Feudenheim und dem Hafen Plochingen, bei dem der schiffbare Teil des Neckars endet, überwindet der Fluss auf 203 Kilometern eine Höhendifferenz von ca. 160 Metern. Die Schleuse bei Deizisau im Kreis Esslingen verfügt im Übrigen bis heute lediglich über eine Kammer, was bei einem Ausfall natürlich Stillstand bedeutet. Beim angedachten und nun wohl ins Wasser fallenden Ausbau der Schleusen sollte ohnehin jeweils nur eine Kammer verlängert werden, was in ähnlichem Maße Probleme mit sich bringen kann.
Potential ausbauen
Häufig fehlt es Planungskapazitäten, wenn Verkehrsprojekte möglichst zügig ausgearbeitet und dann realisiert werden sollen. Um dieses Hindernis zu umgehen, hat das Land Baden-Württemberg dem Bund entsprechende Planstellen zur Verfügung gestellt und dafür bisher rd. sieben Millionen Euro berappt. So sollte Bundesminister Wissing nicht mit unseren Steuergeldern umgehen, wenn er jetzt den Schleusenausbau versenkte. Aber mit Verkehrsministern ist das so eine Sache, man denke nur an Andreas Scheuer (CSU) und sein Mautdebakel oder eben seinen Nachfolger Volker Wissing, dessen FDP bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg als Splitterpartei bloß noch um ein Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte. Was wohl Theodor Heuss, Liberaler, Journalist, Schriftsteller und erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland (1949-1959), zur Entwicklung seiner Partei und der Vernachlässigung des Neckars sagen würde? Geboren wurde Heuss 1884 in Brackenheim, verstorben ist er 1963 in Stuttgart, somit hat er einen Teil seines Lebens in der Nähe des Neckars zugebracht. Heuss war dazuhin Chefredakteur der ‚Neckar-Zeitung‘ in Heilbronn und nach dem Ende der NS-Diktatur Lizenznehmer der in Heidelberg erscheinenden ‚Rhein-Neckar-Zeitung‘. Nun gut, nicht jeder Politiker muss den Neckar und das industrielle Umfeld kennen, doch es könnte nichts schaden, wenn sich Wissing & Co. überlegten, wo denn wichtige Wirtschaftsunternehmen in unserem Land sitzen. Mehr Weitblick könnte der jetzigen Bundesregierung nicht schaden. Wie es um die Neckarschleusen bestellt ist, zeigt ein Zitat von der Internetseite der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (wsv.de): „Aufgrund anhaltender technischer Probleme an den Neckarschleusen und anderer Bauwerke hat sich das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Neckar entschlossen, künftig jedes Jahr dringend notwendige Reparaturen durchzuführen. Da jeweils eine Kammer vieler Schleusen nicht betriebsbereit ist, fallen an den betroffenen Schleusen beide Kammern während der Reparaturmaßnahmen aus. Das WSA Neckar sieht die Maßnahme jährlich im Oktober vor.“ Unsere Infrastruktur zerfällt, und die Bundesregierung schaut zu!
Die Binnenschifffahrt beförderte 2022 knapp 182,5 Mio. Tonnen an Gütern, 2007 waren es – laut destatis.de – immerhin noch fast 249 Mio. Tonnen. Daher ist deutlich Luft nach oben, und dies sollte zur Entlastung von Bahn und Straße genutzt werden. 2022 wurden – zum Vergleich – 359 Mio. Tonnen mit der Bahn transportiert. Das Schwergewicht bei der Binnenschifffahrt ist in Deutschland der Rhein, auf den allein rd. 70 % der Transportmengen entfallen. Daneben scheint der Neckar mit ca. 5 Mio. Tonnen an transportierten Gütern eher bescheiden, doch wäre das Potential deutlich erweiterbar, wenn Schiffe vergleichbar zum Rhein die Schleusen befahren könnten. Die grün-schwarze Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann und weite Teile der Opposition im baden-württembergischen Landtag setzen sich – wie die Vertreter der Wirtschaft – weiterhin für die Schleusenverlängerung im Zuge der Instandhaltungsmaßnahmen ein.
Umsetzungswille fehlt
Im Zeichen des Klimawandels sollte nichts unversucht bleiben, den CO2 –Ausstoß zu reduzieren, und dazu kann die Binnenschifffahrt auf dem Neckar weiter beitragen. Die zahlreichen Schleusen ermöglichen eine relativ gute Regulierung des Wasserstands, selbst in regenärmeren Wochen. Die Instandsetzung der Schleusen und ihre Erweiterung sollte endlich starten, denn entsprechende Planungsleistungen wurden bereits erbracht. Wenn Bundesverkehrsminister Wissing nun die gestiegenen Kosten gegen die Verlängerung der Neckarschleusen ins Feld führt, dann erinnert mich dies an ‘Stuttgart 21‘ – den Bau des Tiefbahnhofs in Stuttgart und der Schnellbahntrasse von Stuttgart nach Ulm. Wer bei solchen Vorhaben zwischen Planungsstart und Fertigstellung zwei oder drei Jahrzehnte verstreichen lässt, der sollte sich nicht wundern, dass die Kosten – auch durch gestiegene Anforderungen – explodieren. Kostensteigerungen scheinen dagegen für die Politik weniger bedeutsam, wenn es sich um ein Behördensilo wie den Erweiterungsbau des Bundeskanzleramts oder ein Lieblingsspielzeug von Landesregierung und Stadt wie die Opernsanierung in Stuttgart handelt, die jeweils eine Milliarde Euro verschlingen werden. Flugs beteiligt sich der Bund an der ins Trudeln geratenen Meyer Werft, doch für die Erweiterung der Neckarschleusen soll es an Geld fehlen?
Inzwischen ist es wohl typisch für die deutsche Politik und nachgeordnete Behörden, 20 Jahre oder mehr über ein Projekt zu philosophieren, um es dann erst gar nicht anzupacken oder lustlos umzusetzen. Bundesminister Wissing betont jetzt, die Sanierung der Schleusen hätte Vorrang, und lenkt damit vom Thema ab. Wer wird denn die Schleusen jemals verlängern, wenn sie zuerst teuer saniert werden? Die Sanierung, die längst überfällig ist, hätte schon vor Jahren gemeinsam mit der Verlängerung der Schleusenkammern durchgeführt werden müssen. Nun sind nach der Übereinkunft zwischen Bund und Land fast 20 Jahre verflossen und nichts ist geschehen! Zahllose wichtige Infrastrukturprojekte werden in Deutschland zerredet oder kommen im Bummelzugtempo voran, wie z. B. die Zulaufstrecken zum Gotthard-Basistunnel auf deutscher Seite. So titelte die NZZ am 16. Mai 2024: „Bessere Schienenwege quer durch Europa: Deutschland steht auf der Bremse“. Dieses und zahlreiche weitere Beispiele machen deutlich, dass die Neckarschleusen nur ein Symptom dafür sind, dass es zahllosen politischen Entscheidungsträgern – nicht zuletzt in der jetzigen und früheren Bundesregierungen – am Willen fehlt, die deutsche Infrastruktur auf Vordermann zu bringen.
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In den Neckarschleusen – wie hier in Esslingen – kommt es auf jeden Zentimeter an. Die zwischen 50 und 100 Jahre alten Schleusen hätten längst instandgesetzt und so verlängert werden müssen, dass sie von den auf dem Rhein üblichen Schiffen mit einer Länge von 135 Metern passiert werden können. (Bild: Ulsamer)