Öffentliche Gebäude als Wegwerfartikel
Nicht jedes ältere Gebäude ist ein echtes Schmuckstück. Das gilt gleichermaßen für Neubauten. Den Betonbrutalismus, der sich ab den 1950er Jahren in vielen Kommunen breitmachte und gerne auch mal die Rathäuser erfasste, haben wir hinter uns gelassen, was sicherlich kein Fehler ist. Aber muss denn jedes in die Jahre gekommene Gebäude gleich Besuch von der Abrissbirne bekommen? Gerade in Zeiten, in denen eifrig über Nachhaltigkeit diskutiert wird, sollten nicht vorschnell Landratsämter, Hochschulen oder Rathäuser durch Neubauten ersetzt werden, wenn sich mit Sanierung und Modernisierung noch etwas retten lässt. Energetische Verbesserungen können vielfach im Altbestand umgesetzt werden. Sicherlich gibt es in Ihrem Umfeld, liebe Leserinnen und Leser, Bauten, die noch nicht mal 50 Jahre auf dem Buckel haben und abgerissen werden sollen, um einem prächtigeren und gerne größeren Domizil für Behörden zu weichen. In Esslingen am Neckar ist z. B. die Entscheidung gefallen, den ‚Altbau‘ des Landratsamts aus dem Jahr 1978 abzureißen. Ist das wirklich sinnvoll? Unsere Doppelhaushälfte ist nur drei Jahre jünger, doch wir kämen nie auf die Idee, unser Häuschen auf die Abrissliste setzen zu wollen. Vermutlich geht es Ihnen im privaten Bereich ähnlich, so stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung die politischen Entscheidungsträger Gebäude nach vier oder fünf Jahrzehnten für hinfällig halten?
Erhalt vor Neubau
In Corona-Tagen, in denen das hohe Lied des Homeoffice gesungen wird, ist generell Zurückhaltung geboten, wenn neue Bürogebäude für einen wachsenden Mitarbeiterstamm gebaut werden sollen. Oder ist das laute Lob der Politiker für das mobile Arbeiten oder den Einsatz von Zuhause nur ein Feigenblatt für das eigene Unvermögen, in Krisensituationen sachgerechte Lösungsvorschläge zu erarbeiten? Aber kehren wir zum grundsätzlichen Thema zurück: Darf in Deutschland im öffentlichen Bereich so gebaut werden, dass für Gebäude und Brücken das Haltbarkeitsdatum nach noch nicht einmal einem halben Jahrhundert abgelaufen ist? Selbstredend sammeln Abriss- und Neubauwillige eifrig ‚Argumente‘ für ihre Wünsche, ganz oben auf der Liste steht eine mögliche Energieeinsparung im Neubau. Im Regelfall allerdings werden die Energiemengen nicht eingerechnet, die für die Erstellung des Altbaus und dessen Abriss sowie die Errichtung des neuen Bürogebäudes anfallen. Zement und Beton fallen nun einmal nicht vom Himmel, und Sand oder Gestein müssen allemal neu gewonnen werden – trotz der üblichen Recycling-Sonntagsreden. Wer nur die Einsparungen bei den Heiz- oder Klimatisierungskosten einrechnet, der handelt fahrlässig und vergeht sich an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit.
„Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen. Priorität kommt dem Erhalt und dem materiellen wie konstruktiven Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss. Die „graue Energie“, die vom Material über den Transport bis zur Konstruktion in Bestandsgebäuden steckt, wird ein wichtiger Maßstab zur energetischen Bewertung sowohl im Planungsprozess als auch in den gesetzlichen Regularien.“ Ein interessantes Zitat: den Autoren kann ich nur zustimmen. Von wem wird die bedenkenswerte Aussage wohl stammen? Sie ist nicht der Feder von Kulturkritikern entsprungen, die uns alte Gebäude schmackhaft machen wollen, sondern sie findet sich in einem Positionspapier des Bunds Deutscher Architekten mit dem Titel „Das Haus der Erde – Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land“ aus dem Jahr 2019. Die Architektenvereinigung weist mehr als deutlich auf die Bedeutung der ‚grauen Energie‘ hin, die bereits für das Altgebäude verbraucht wurde und bei einem Abriss verloren geht.
Bauwerke benötigen Pflege
Erhalten kann man jedoch nur Bauwerke – das wird bei vielen Brücken in Deutschland erkennbar – wenn diese zuvor gepflegt und Instand gehalten wurden. „Wir brauchen eine neue Kultur des Pflegens und Reparierens“ betont der Bund Deutscher Architekten in Bezug auf den Gebäudebestand. Hieran mangelt es nicht selten, was man in vielen Kommunen, so auch in Stuttgart sieht. Über Jahre wurde dort die ‚Pflege‘ des Opernhauses vernachlässigt, so dass sich jetzt incl. Ergänzungsbau und Interimsspielstätte ein Finanzbedarf von einer Milliarde Euro ergibt. Kritische Diskussionen werden bisher durch eine fadenscheinige ‚Bürgerbeteiligung‘ verhindert, an dem 40 bis 50 zufällig ausgewählte Bürger teilnehmen dürfen.
Wer sich hin- und wieder in Schul- oder Hochschulgebäude verirrt, der kann sich aus erster Hand davon überzeugen, dass die Träger der Einrichtungen zu wenig Wert auf beständige Reparaturen und Modernisierungen legen. Da schaut dann der Bewehrungsstahl, früher gerne als Moniereisen bezeichnet, aus dem aufgebrochenen Beton, und Sanitäranlagen sind wenig einladend. Kaum ein privater Immobilienbesitzer würde sein Eigenheim oder seine Wohnung derart vernachlässigen wie dies die öffentliche Hand viel zu oft tut. In Esslingen, um nochmals ein Beispiel aus der alten Reichsstadt am Neckar, in der wir wohnen, heranzuziehen, wird ein Baukomplex der Hochschule aus dem Jahr 1974 durch Neubauten ersetzt. Im Prinzip natürlich kein Fehler, da die neuen Gebäude demnächst verkehrsgünstiger zum Bahnhof und zu anderen Teilen der Hochschule Esslingen liegen. Lange Zeit galt der Abriss des Altbaus, der dominant und ‚akropolis-ähnlich‘ über Esslingen thront, als einzig mögliche Lösung. Im Grunde ist es wohl der Internationalen Bauausstellung zu danken, die 2027 in Stuttgart und der Region stattfinden soll, dass nun doch eine Nachnutzung verhalten ins Gespräch kommt.
Nachhaltigkeit muss Maßstab werden
Lassen wir nochmals den Bund Deutscher Architekten zu Wort kommen: „Erst ein Gebäude, das sich aufgrund seiner architektonischen Qualität über Jahrzehnte in der Nutzung bewährt und damit die derzeit wirtschaftlich kalkulierte Lebensdauer von 30 bis 50 Jahren bei weitem übersteigt, wird dem Nachhaltigkeitsgedanken gerecht und ist im Sinne der Gesellschaft werthaltig.“ So sehe ich das auch: Es kann wahrhaftig nicht sein, dass öffentliche Gebäude nach 40 Jahren abgerissen werden, Brücken nach kaum einem halben Jahrhundert zerbröseln und ersetzt werden müssen. Frappierend ist es, dass es Brücken in unserer Welt gibt, die für Fußgänger und Pferdekutschen gebaut wurden, doch dank ständiger Instandhaltung auch nach über 150 Jahren täglich 11 000 Autos ertragen: ein Musterbeispiel ist die von von Isambard Kingdom Brunel entworfene Brücke über den Avon im britischen Bristol. Und wer würde wohl historische Kirchenbauten nach einem halben Jahrhundert in Frage stellen? Niemand, denn zumeist wurde an Kirchen oder Burgen länger gebaut als heute die Nutzungszeit moderner Gebäude beträgt.
Nicht nur die Kreisverwaltung, sondern auch die Esslinger Kreistagsfraktionen tragen den Neubau des Landratsamts mehr oder weniger überzeugt mit, doch in der Bürgerschaft scheint die Stimmung eine andere zu sein. Bereits 2019 vermeldete die Esslinger Zeitung das Ergebnis einer Befragung: „Von den knapp 1000 Teilnehmern votierten drei Viertel gegen den Abriss. Denn ein Gebäude nach dieser verhältnismäßig kurzen Zeit wieder abzureißen, sei unsinnig und alles andere als nachhaltig.“ Manchem Politiker scheint einfach das Bewusstsein zu fehlen, dass die Steuerzahler für solche Neubauten aufkommen müssen, selbst wenn deren Sinnhaftigkeit in Frage steht. Jüngst initiierte Klaus Plodek eine Petition für den Erhalt des Bestandsgebäudes des Landratsamts in Esslingen aus dem Jahre 1978. Ob es wirklich noch Chancen gibt, den Abriss zu verhindern, wird sich zeigen, denn das Landratsamt hat bereits Ausweichflächen für die Mitarbeiter gebucht. Und im nahegelegenen Plochingen entsteht sogar noch ein baulicher Ableger. Die Verwaltung wächst in Deutschland an allen Stellen, auch vor Corona und einem daraus resultierenden Zuwachs bei den Gesundheitsämtern. Eine Sprecherin des Landrats Heinz Eininger betonte daher gegenüber den Medien, der Kreis benötige „zusätzliche Arbeitsplätze für eine stark gewachsene Verwaltung, auch in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung“. Digitalisierung und Homeoffice – doch die Flut der Bürokratisierung wird weiterhin in neue Gebäude kanalisiert!
Wenn Gebäude der öffentlichen Verwaltung nach 40 Jahren zum Abriss freigegeben werden, läuft etwas falsch in unserem Land. Kein vernünftiger privater Hausbesitzer würde in solch kurzen Zeiträumen denken, aber wir müssen ja auch die Baulichkeiten aus der eigenen Tasche bezahlen! Der Bund Deutscher Architekten, der den Erhalt und die Modernisierung des Altbestands jetzt in den Mittelpunkt rückt, ist deutlich weiter als die Bauherren in Kommunen, Landkreisen, Ländern und beim Bund. Mit vollen Händen wird das Geld ausgegeben, ein Musterbeispiel ist die geplante Verdoppelung der Fläche des Bundeskanzleramts für 600 Mio. Euro. Bauwerke, seien es Verwaltungsgebäude oder Brücken, um nur diese Bereiche zu nennen, müssen länger als bisher instandgehalten und genutzt werden, wenn Nachhaltigkeit nicht nur ein schmückendes Beiwort in Sonntagsreden sein soll! Öffentlich finanzierte Bauwerke sind keine Wegwerfartikel! Langlebigkeit muss das Ziel für Bauwerke sein, die wir Steuerzahler finanzieren!