Ein Wallfahrtsort wurde zum Touristenmagnet
Der Mont-Saint-Michel hat eine wechselvolle Geschichte erlebt und könnte sicherlich so manches erzählen. Zwar hat dieser Berg nur einen Umfang von 900 Metern, doch er erhebt sich eindrucksvoll direkt aus dem Meer. Das Dorf am Fuße der Abtei liegt hinter Festungsmauern, die nie überwunden wurden, und über dem Kirchengebäude blickt der Heilige Michael in goldener Rüstung aus mehr als 150 Metern Höhe über die Bucht, die sich zum Ärmelkanal hin öffnet. Über Jahrhunderte zog der Mont-Saint-Michel große Pilgerströme an, heute füllen – zumindest nach Corona wieder – Touristen die engen Gassen. 1300 Jahre haben unterschiedliche Äbte, Baumeister und Restauratoren zwar ihre Spuren hinterlassen, doch das Gebäudeensemble beindruckt bis in unsere Tage durch sein stimmiges Erscheinungsbild.
Die Natur und ein nachdrücklicher Erzengel
Nachdem ich den Mont-Saint-Michel nach fast einem halben Jahrhundert wieder besucht habe, war ich positiv überrascht von den Veränderungen im Umfeld: Bei meiner ersten Auslandsfahrt nach dem Erwerb des Führerscheins parkte ich noch direkt am Eingang zum historischen Dorf. Der riesige Parkplatz direkt am Mont-Saint-Michel und der Damm durchs Watt sind verschwunden, der vor den Autos sogar noch ganzen Dampfzügen die Zufahrt ermöglichte. Als wir nun über einen leicht geschwungenen Steg auf den Klosterberg zugingen, konnten wir bestätigen, dass die baulichen Veränderungen richtig waren. Ein Buspendelverkehr und Pferdekutschen ermöglichen noch eine Anfahrt, aber die früheren Pilger waren ja auch zu Fuß unterwegs gewesen. Der Rückbau des Damms soll dazu beitragen, dass der angesammelte Sand, den das Meer in die Bucht einträgt, langsam wieder abgetragen wird. Das Flüsschen Couesnon wird bei Flut aufgestaut, und das Wasser fließt bei Ebbe konzentriert wieder ab und soll so die Ablagerungen wieder ins Meer tragen. Ohne diese Eingriffe wäre der Mont-Saint-Michel längerfristig nicht mehr von den Wellen umspült, sondern von Schafweiden umgeben worden. Die ursprüngliche ökologische Situation wird sich nicht gänzlich wiederherstellen lassen, doch der Steg und das Stauwehr sind Belege dafür, dass wir Menschen einmal gemachte Fehler teilweise rückgängig machen können: Mitte des 19. Jahrhunderts waren drei kleine Flüsse umgeleitet worden, um fast 2500 Hektar Polderfläche für den Gemüseanbau gewinnen zu können, und dies hatte die natürlichen Prozesse rund um den Mont-Saint-Michel gestoppt.
Da war die Situation für die Erbauer der ersten Kapelle auf dem Mont-Saint-Michel und die frühen Pilger gänzlich anders: Bei stürmischer See oder Hochflut war der vorgelagerte Felsen vom Festland abgeschnitten. Die Entwicklung zum weltberühmten Klosterberg begann mit dem unwilligen Bischof Aubert von Avranches, dem der Erzengel Michael in einem Traum erschienen sein soll. Seinen Wunsch, auf dem schroffen Granitfelsen eine Kirche zu errichten, griff der Bischof zunächst nicht auf. Erst beim dritten Besuch des Erzengels zu nächtlicher Stunde soll es Michael zu dumm geworden sein, und er hat dem Bischof mit dem Finger – so die Legende – ein Loch in den Schädel gebohrt. Nun kam der Geistliche in die Gänge und errichtete 708/709 eine erste Kirche, die sich von der Gestaltung her an das süditalienische Heiligtum auf dem Monte Gargano – ebenfalls dem Erzengel Michael geweiht – anlehnte. Und wie damals üblich besorgte sich der Bauherr auch zwei Reliquien aus Süditalien: ein Fragment des Tuches, das der Heilige Michael auf dem Altar auf dem Monte Gargano zurückgelassen hatte sowie ein Stück des Marmorblocks, auf dem er erschienen sein soll. Der Anfang für eine Abtei und ein zugehöriges Dorf war gemacht, das trotz aller Herausforderungen die Jahrhunderte überstand.
Von der Pilgerstätte zum Kerker
Im Mittelalter entwickelte sich der Mont-Saint-Michel zu einer der zugkräftigsten Pilgerstätten der Christenheit. Ab 966 nahmen die Benediktiner das Kloster unter ihre Fittiche, und die Abtei erlebte eine Blüte. Die Zahl der Mönche soll zumeist bei etwa 50 gelegen haben, und sie bauten den Klosterkomplex Schritt für Schritt weiter aus. Platz wurde auch für die Unterbringung der zahlreichen Pilger gebraucht, und letztendlich zwang die Beschaffenheit des Felsens zu baulichen Besonderheiten. Ein ‚normales‘ Kloster geht bei gutem Zuspruch gewissermaßen in die Breite, doch auf dem Mont-Saint-Michel begrenzte das Meer alle Aktivitäten, und so mussten die Baulichkeiten den beschränkten Raum möglichst optimal ausnutzen und strebten in die Vertikale. Gewaltige Pfeiler tragen bis heute Säle, die statisch nur schwer in der Höhe zu realisieren waren. Hin und wieder stürzten ganze Gebäudeteile in die Tiefe, und zehn Brände zerstörten Kulturgüter, doch die Mönche ließen sich nicht beirren und bauten mit herausragenden Handwerkern und bewundernswerter Beharrlichkeit weiter an ihrer Abtei. Die Wallfahrten brachten nicht nur Menschen in die Normandie, sondern auch Spenden, die die Bauten ermöglichten.
Im Hundertjährigen Krieg bekam der Mont-Saint-Michel mit voller Härte zu spüren, dass er im politischen Streit auch ein wichtiges Symbol ist. Von der vorgelagerten Insel Tombelaine aus belagerten die englischen Truppen von 1423 bis 1450 die befestigte Abtei, und obwohl 1434 das Dorf brennt, bleiben die französischen Verteidiger ungeschlagen. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen ging es mit dem Kloster wieder aufwärts, doch politische Wirren setzten dem Kloster zu. Das System der Kommende setzte sich 1516 durch: Äbte wurden vom König eingesetzt und nicht mehr von den Mönchen gewählt, und kirchliche Pfründen konnten ausgenutzt werden, ohne ein kirchliches Amt auszuüben oder gar am Ort zu wohnen. Dem klösterlichen Leben schadeten diese Regeln, und 1591 versuchten während der Religionskriege hundert Protestanten unter Führung des Grafen von Montgomery, Gabriel de Lorges, den Mont-Saint-Michel zu stürmen, doch auch sie scheiterten. Es gab innerkirchliche Erneuerungsversuche, doch Ende des 18. Jahrhunderts harrte noch nicht einmal mehr ein Dutzend Mönche auf dem Mont-Saint-Michel aus. Das klösterliche Leben endete mit der Französischen Revolution. Die Revolutionäre hatten eine neue Aufgabe für die Gebäude auf der Felseninsel: der Mont-Saint-Michel wurde zum Gefängnis, in dem von 1793 bis 1863 insgesamt rd. 14 000 Bürger einsaßen. Aus dem Wallfahrtsziel war ein Kerker geworden! Auch vorher waren schon einzelne Personen auf dem Mont-Saint-Michel im staatlichen Auftrag inhaftiert worden, doch waren dies in über 100 Jahren nur 153 Menschen.
Trubel im Weltkulturerbe
Zu den einflussreichsten Rettern der Abtei auf dem Mont-Saint-Michel zählt sicherlich Victor Hugo, der nicht nur zu den wichtigsten französischen Schriftstellern zählt, man denke nur an ‚Der Glöckner von Notre-Dame‘ oder ‚Die Elenden – Les Misérables‘. Aber Hugo war auch politisch als Abgeordneter und Senator engagiert, und so zählte sein Wort, als er nach einem Besuch in der zum Gefängnis degradierten Abtei erklärte: „Eine Kröte in einem Reliquienschrein. Wann wird man in Frankreich endlich verstehen, dass es heilige Bauwerke gibt?“ Und Hugo schrieb in seinem flammenden Appell: „Der Mont-Saint-Michel ist für Frankreich, was die Große Pyramide für Ägypten ist.“ Sein erboster Ausruf verhallte zwar nicht, doch erst 1863 öffneten sich die Gefängnistore für immer und die Architekten des ‚Monuments historiques‘ übernahmen die Renovierung des arg heruntergekommenen Klosterkomplexes. Beeindruckt hat mich bei unserem jetzigen Besuch, dass am Mont-Saint-Michel umsichtig und mit ruhiger Hand gearbeitet worden war: Dies hat auch das großartige Ensemble aus Abtei und Dorf in unsere Tage gerettet, und so wurde der Mont-Saint-Michel völlig zurecht 1979 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.
In Jahren ohne Corona-Pandemie kommen rd. 3 Mio. Touristen zum Mont-Saint-Michel, wobei nur ein Drittel die Gässchen und Stufen bis zur Abtei erklimmt, die anderen verweilen in den Cafés, Restaurants und Andenkenläden im Dorf. In der Gemeinde Mont-Saint-Michel leben rd. 30 Menschen, in den 1970er Jahren waren es noch 100. Auf die Benediktiner, die 1969 wieder auf den Mont-Saint-Michel zogen, folgten 2001 Mitglieder der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem (Fraternités monastiques de Jérusalem), die 1975 in Paris gegründet worden waren. Die Ordensleute leben heute gewissermaßen zur Untermiete, denn seit der Französischen Revolution ist der Mont-Saint-Michel im Staatsbesitz. Durch die wenigen Ordensmitglieder ist im touristischen Trubel zumindest noch ein Funke klösterlichen Lebens erhalten geblieben. Aber der große Andrang von Menschen ist für den Klosterberg ja nicht neu, denn bei mittelalterlichen Wallfahrten herrschte nicht selten ein solches Gedränge, dass sogar Pilger in der Menge erdrückt wurden.
Staat und Religion sind in Frankreich zwar streng getrennt, doch die späteren Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy wählten für ihre ersten Auftritte im Wahlkampf um das höchste Amt den Mont-Saint-Michel. Sarkozy sah an diesem historischen Ort die „laizistische Republik und eine Spiritualität aufeinandertreffen“. So verbanden sich über 1300 Jahre Religion, Politik und Natur am Mont-Saint-Michel, und sie formten ein grandioses Ensemble, das wahrlich einen Besuch lohnt.
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