Wenn Raubkunst den Heimweg antritt
Mit Raubkunst sollte man sich auf keinen Fall brüsten. Daher macht es durchaus Sinn, viele Kunstgegenstände in die Ursprungsregionen zurück zu geben. Allerdings halte ich dies für weit schwieriger, als es zum Teil in der öffentlichen Diskussion aufscheint. Und damit meine ich nicht, dass sich Museen ungern von ihren Schätzen trennen, sondern es steht auch die Frage im Raum: Wer ist der rechtmäßige Empfänger? Das zeigte sich schon jetzt bei einem eher überschaubaren Vorhaben: Hendrik Witboois Bibel und Peitsche überbrachte die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer der Regierung in Namibia. So kamen die Bibel und die Peitsche wieder nach Afrika, wenn auch dieses Mal in friedvoller Absicht. Die weitverzweigte Familie der Witbooi und einige Nama-Gruppierungen sahen die Regierung nicht als rechtmäßige Empfänger an. Darauf wussten deutsche Oberlehrer natürlich Rat: Das sei doch eine Angelegenheit, die in Namibia gelöst werden müsse.
Wer bekommt Artefakte aus Tibet?
Damit sind wir bei einer zentralen Fragestellung: Kulturelle Gegenstände, die vor hundert oder deutlich mehr Jahren aus einer Region unter Zwang oder auch gegen eine damals übliche ‚Entschädigung‘ nach Deutschland verbracht wurden, können heute in den wenigsten Fällen den direkten Nachfahren übergeben werden. Was passiert dann aber mit religiösen Artefakten, die z.B. aus Tibet vor zwei Jahrhunderten von Reisenden, Händlern oder Wissenschaftlern mitgenommen wurden und deren offizieller Erwerb nicht mehr nachvollziehbar ist? Gehen diese kulturell interessanten Gegenstände dann an die chinesische Regierung? Das wäre wohl kaum politisch zu verantworten, da das kommunistische Regime Tibet völkerrechtswidrig besetzt hält. Geben wir die ‚Mitbringsel‘ eben an den Dalai Lama, könnte mancher einwenden. Damit ließe sich dann ein handfester Streit mit der Volksrepublik China vom Zaune brechen, den schon alleine aus wirtschaftlichen Gründen wohl kaum jemand provozieren möchte.
Nun kann man einwenden, das sei spitzfindig. Mag sein, aber wer sich mit der heutigen Weltkarte vertraut macht und diese mit der Welt vor 100, 200 oder 500 Jahren vergleicht, erkennt unschwer, dass man kulturpolitisch auf dünnem Eis unterwegs ist. Schauen wir z.B. ins völkerkundliche Linden-Museum nach Stuttgart: 91 % der Bestände aus den untersuchten Regionen Kamerun, Namibia und dem Bismarck-Archipel (Papua-Neuguinea) kamen zwischen 1884 und 1920 dorthin – also während der deutschen Kolonialgeschichte. Schon skurril, wenn die Landes- und Stadtpolitik über einen Neubau für dieses ‚alt-ehrwürdige‘ und zu Recht einen hervorragenden Ruf genießende Völkerkunde-Museum debattiert, um die vorhandenen Stücke besser ausstellen zu können, während gleichzeitig Zweifel an der rechtmäßigen Beschaffung bestehen. Und in Berlin erstand das von den DDR-Machthabern gesprengte Stadtschloss in einer Fake-Version wieder auf, um die völkerkundlichen Sammlungen unterbringen zu können. Vielleicht sollte sich die bundesdeutsche Politik die Karten legen, wohin die Reise – der Ausstellungsstücke – geht, ehe fleißig weitergebaut wird.
Der Gelb-Westen-Präsident als Kulturpolitiker
Allen, die bei Statuen, Alltagsgegenständen oder Schmuck von anderen Kontinenten zuerst sachorientiert über deren zukünftigen Verbleib nachdenken, wird Emmanuel Macron als leuchtendes Beispiel vorgehalten: Er propagiert die Rückgabe von Kulturgütern, die in vergangenen Jahrhunderten nach Frankreich gelangten. Selbstverständlich sehe auch ich es als ein wichtiges Thema an, die Herkunft von Kunst- und Alltagsgegenständen zu klären, die z.B. während der Kolonialzeit in europäische Länder verschifft wurden. So verstärken deutsche Museen ebenfalls ihre Provenienzforschung – und dies ist zu begrüßen. Aber Macrons Gangart möchte ich nicht mitgehen: Zack, zack wird eine Studie von Felwine Sarr aus dem Senegal und der Französin Bénédicte Savoy ausgearbeitet – und schon hat Macron die Lösung zur Hand: Rückgabe an die heutigen Staaten, aus denen damals Kunstgegenstände – unter zum Teil zwielichtigen Umständen – nach Europa kamen. Folgten alle Macrons Sicht der Dinge, dann würden sich sehr schnell die völkerkundlichen Sammlungen leeren.
Macron fragt nicht, was aus vielen kulturell wichtigen Objekten geworden wäre, hätten sie die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte in Regionen verbracht, die regelmäßig von Bürgerkriegen überzogen wurden. Vieles wäre zerstört – man denke nur an die von Taliban in Afghanistan durch Beschuss mit Panzern und Raketen vernichteten Buddha-Statuen von Bamiyan. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vernichtete im syrischen Palmyra u.a. den 2000 Jahre alten Baal-Tempel. Und nicht nur aus dem Irak wanderten viele kulturell bedeutsame Objekte auf den Schwarzmarkt: Der IS machte den Raub von Kulturgütern zum Geschäftsmodell.
Provenienzforschung und ihre Grenzen
Aber der französische Präsident Macron, den ich für einen Blender im Elysée-Palast halte, ist nach meiner Meinung auch nicht der richtige Wegweiser in Sachen Geschichte. Völlig ins Abseits geriet Macron mit der Feststellung, Marschall Petain sei ein „grand soldat“ – obwohl dieser als Nazi-Kollaborateur und Chef des Vichy-Regimes die Deportation zehntausender jüdischer MitbürgerInnen unterstützte.
Etwas kurzschlüssig ist es in diesem Zusammenhang, die Rückgabe von Kulturgütern, die jüdischen Mitbürgern in der Zeit des Nationalsozialismus entrissen wurden, mit Gegenständen zu vergleichen, die nicht selten schon seit 200 und mehr Jahren in deutschen Museen liegen. Natürlich gilt gleiches Recht für alle, aber in der Aufklärung von Besitzansprüchen macht es schon einen Unterschied, ob die Verbrechen im 20. Jahrhundert begangen wurden und die Rechtslage – bei gutem Willen – relativ schnell aufklärbar war oder ob es sich um Vorgänge in weiter zurück liegenden Epochen handelt. Dennoch halte ich – wie bereits betont – die Provenienzforschung in unseren Museen und Sammlungen für wichtig, allerdings dürfte eine sachgerechte Prüfung viel Zeit kosten – und in manchen Fällen ins Nichts führen. Bei manchen Sammlungsstücken wird sich ein eindeutiger Herkunftsnachweis nicht erbringen lassen – oder wer erwartet einen Kauf- oder Kassenbeleg aus dem 17. Jahrhundert zu finden, der unseren heutigen Ansprüchen genügt? So wissen die deutschen Museen im Regelfall, wer das Objekt wann an die Einrichtung abgegeben hat, doch die eigentliche Erwerbssituation vor Ort lässt sich weit schwerer nachvollziehen.
Ein eigenes Konzept entwickeln
Wie steht es z.B. bei Fundgegenständen, die von deutschen Archäologen in Ägypten ausgegraben wurden und nach ganz offiziellen Regelungen zwischen Ägypten und den Archäologen aufgeteilt wurden? Ludwig Borchardt fand die Skulptur der Nofretete und durfte sie mitnehmen, die ägyptische Seite bekam u.a. ein Altarbild, das das Königspaar Echnaton und Nofretete mit dreien seiner Kinder zeigte. „Es war eine einvernehmliche Aufteilung“, schreibt die Zeitschrift ‚kontinente‘. Ägypten war damals unter britischer Herrschaft, und im Antikendienst tummelten sich die Franzosen. War die Aufteilung dann überhaupt rechtens? Ich denke schon. Sollte an all solchen Absprachen gerührt werden, dann öffnen wir die Büchse der Pandora und schaffen sichere Arbeitsplätze für spezialisierte Anwälte für die nächsten hundert Jahre.
Sicherlich wäre es ratsam, wenn wir ein sachgerechtes Konzept für den Umgang mit Kulturgütern aus ehemaligen Kolonialgebieten – und dies möglichst auf EU-Basis – erarbeiten würden. Aber das scheint so gar nicht der Stil Macrons oder unserer Zeit zu sein: Problem erkannt, Problem zerredet, so könnte das Motto lauten. Der Hamburger SPD-Senator für Kultur und Medien als Vorsitzender der neu geschaffenen Kulturministerkonferenz „zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes und zum Umgang mit kolonial belastetem Sammelgut in unseren Museen“, meinte laut Stuttgarter Zeitung folgerichtig: „Frankreich zeigt uns gerade, wie man da vorgehen kann, und Deutschland darf bei diesem Thema nicht abseits stehen.“ Selber denken ist zwar anstrengend, dennoch würde ich hier unserer deutschen Politik genau dazu raten! Mal sehen welche Vorschläge die Kulturminister von Bund und Ländern am 13. März der Öffentlichkeit machen. Wer nur hinter Macron her hoppelt, der trifft vielleicht bald in unseren Landen ebenfalls auf immer mehr Gelbwesten.
Die Welt hat sich verändert
Auf unserem Globus haben sich nicht nur in der Kolonialzeit, sondern auch davor und danach viele Grenzen verschoben. Menschen, ganze Bevölkerungsgruppen sind gewandert, wurden nicht selten dazu gezwungen. Daher komme ich nochmals auf die Eingangsthematik ganz bewusst zurück. Wer hat ein Anrecht auf die Rückgabe? Wenn Kulturgüter in der Kolonialzeit aus einer vom Islam geprägten indischen Region z.B. nach Deutschland oder Großbritannien kamen, wer kann dann Rechte geltend machen? Die entsprechende moslemische Bevölkerungsgruppe könnte nach Pakistan verdrängt worden sein. Dann vielleicht eher eine Abgabe an ein pakistanisches Museum? Da würde die indische Regierung vielleicht wenig Freude entwickeln.
Die Tamilen kämpften auf Sri Lanka für einen eigenen Staat: Wer ist dort der rechtmäßige Empfänger von Artefakten aus dem Kulturkreis der Tamilen? Wie steht es im Sudan nach der Abspaltung des Südsudan? Äthiopien und Eritrea – einst Abessinien: Wer bekäme was zurück? Die Liste ließe sich endlos verlängern. Übereifrige Kulturpolitiker werden ohne ein umfassendes Konzept mit ihren Goodwill-Rückgaben in mancher Region mehr Unfrieden hervorrufen als Frieden stiften. So hätte ich mir auch in Baden-Württemberg zuerst eine ausgewogene Strategie gewünscht, ehe sich die im eigenen Bundesland angeschlagene grüne Wissenschaftsministerin Theresia Bauer mit Bibel und Peitsche nach Namibia aufgemacht hätte.
Nicht den Schwarzmarkt befüllen
Bei so mancher früherer Kolonie, die heute als unabhängiger Staat recht weit unten auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht, würde ich mir gerne Gedanken darüber machen, ob Kulturgüter, die in europäischen Sammlungen Jahrhunderte überstanden haben, nicht sehr schnell auf dem Schwarzmarkt wieder auftauchen und dann in einem Tresor eines Potentaten oder Oligarchen verschwinden. Mit dieser Frage möchte ich nicht von der Tatsache ablenken, dass die Herkunft von Sammelgut untersucht werden muss – auch mit dem Risiko, manches später abgeben zu müssen. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Kulturgüter an Regierungen oder deren Institutionen abgegeben werden, die die Menschenrechte mit Füßen treten. An manchen Artefakten mag Blut kleben, doch dann sollten sie nicht in die Hände von Regimen fallen, die sie weiter besudeln.
Wäre es nicht eine Überlegung wert, im Gegenzug zu einstmals nach Europa gewanderten Kulturgütern interessante Objekte aus der deutschen oder europäischen Geschichte den Staaten anzubieten, die uns Artefakte aus ihrem Kulturkreis überlassen? Verbunden damit könnten wir umfassende Unterstützung beim Aufbau von Museen in den jeweiligen Staaten anbieten. Das kulturelle Erbe aus anderen Regionen sollte nicht bei einer Abgabe durch die europäischen Länder im Bestand gefährdet werden. Bedenken müssen wir jedoch auch, dass nach dem Motto ‚Andere Länder, andere Sitten‘ nicht überall auf dieser Welt der gleiche Umgang mit Kulturgütern gepflegt wird. Wer den deutschen Museumsstandard erwartet, der wird sich getäuscht sehen, denn Kulturgüter werden nicht überall, vielfach gesichert, in Glasvitrinen ausgestellt, sondern gewissermaßen als Volkskunst herumgereicht.
Kultur und Geschichte besser verstehen
Mag auch manch glanzvolles Exponat eines Tages Deutschland verlassen, so glaube ich dennoch, dass uns die Völkerkunde selbstverständlich weiter am Herzen liegen sollte. Dabei geht es für mich als Soziologen und Volkskundler gerade auch um die Alltagsgegenstände aus anderen Kulturen. Bei diesen wird sich weit weniger Streit um den Besitz ergeben, da sie in den Ursprungsländern noch reichlich vorhanden sind.
Ganz nebenbei sollte Deutschland – was gleichermaßen für Europa gilt – den Blick auf die Lücken im Verständnis der eigenen kulturellen Entwicklungen richten. Die Himmelscheibe von Nebra, die in Thüringen gefunden wurde, lässt im Übrigen interessante Verbindungen erkennen, die nicht nur nach Cornwall oder Südeuropa führten, sondern auch Wissen aus Mesopotamien oder Ägypten einbezog – und dies vor 3600 Jahren. Am Bau des steinzeitlichen Steinkreises von Stonehenge in England vor rd. 4500 Jahren waren wahrscheinlich sogar Menschen aus den Alpen beteiligt. Und im irischen Newgrange schufen Menschen vor über 5000 Jahren ein Ganggrab, das – wie Stonehenge – nach der Sonne ausgerichtet wurde und nachgewiesenermaßen deutliche Impulse aus kontinentaleuropäischen Kulturkreisen erhalten hatte. Forschungsaufgaben gibt es dabei genügend, und die Bezüge zu anderen Kulturen, die mir sehr am Herzen liegen, lassen sich auch von den genannten kulturellen Highlights aus betrachten. Über diesen Themenkomplex werde ich demnächst berichten.
Raubkunst kann und darf für unsere Betrachtung anderer Kulturen keinen dauerhaften Wert haben. Unser Verständnis für Menschen in anderen Regionen und zu anderen Zeiten wird kaum gefördert, wenn unser Wissen auf geraubten Artefakten beruht. Deshalb sollte die Bundesregierung gemeinsam mit den für kulturelle Fragen verantwortlichen Bundesländern eine abgestimmte Konzeption vorlegen, die die Erforschung des Sammelguts ebenso regelt wie gegebenenfalls die Rückgabe. Ethische Grundsätze spielen dabei für mich nicht nur bei der Erforschung der Herkunft, sondern auch bei der Restitution eine wichtige Rolle. Eine Abstimmung des Vorgehens mit den anderen EU-Staaten wäre wünschenswert.
Völkerkundliche Kulturgüter, die wir sammeln und erforschen, machen nur Sinn in einem Museum, wenn sie dazu beitragen, Kulturen besser zu verstehen. Sie sollen Menschen zusammenführen und nicht entzweien.
3 Antworten auf „Mit Bibel und Peitsche nach Afrika“