Den Tälern in Wales fehlen innovative Industrien
Der Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie in weiten Teilen von Wales hat mich seit Jahren, ja Jahrzehnten beschäftigt. Und so fuhren wir mal wieder nach Merthyr Tydfil, der einstigen Welthauptstadt der Eisen- und Stahlerzeugung. Als Daniel Defoe, der Autor von ‚Robinson Crusoe‘ 1723 hier durchreiste, lebten die 700 Einwohner des kleinen Dorfs von der Schafzucht und dem damals rentablen Verkauf der Wolle. Kohle, Eisen und Stahl ließen die Einwohnerzahl im 19. Jahrhundert geradezu explodieren: Und 1920 lebten in Merthyr Tydfil rund 80 000 Menschen. Den Niedergang der Schwerindustrie hat die walisische Stadt, die es heute auf gerade mal die Hälfte der Einwohner bringt, bis heute nicht verkraftet. Nachfolgeindustrien dümpeln herum, die Arbeitswilligen zieht es als Pendler nach Cardiff. Die letzte Kohle wird aus einem Tagebau herausgebaggert, und mit den Erträgen werden die Hinterlassenschaften des Bergbaus beseitigt. So weit, so gut – oder auch nicht: Wir haben bei unserem jüngsten Besuch ein total vermülltes Tal erlebt! Entlang einer asphaltierten Straße reiht sich wild abgelagerter Müll aneinander. So etwas hatten wir zuletzt in Süditalien gesehen. Und so lassen sich Investoren gewiss nicht anlocken.
Zukunftsindustrien fehlen
Der Fernsehsender Channel 4 bezeichnete Merthyr Tydfil 2006 als eine der 10 Städte, in denen es sich im Vereinigten Königreich am schlechtesten leben lasse. Und so war es geradezu schon ein Erfolg, als die Stadt später vom dritt- auf den viertletzten Platz vorrückte. Bewertet wurden Kriminalität, Bildung, Beschäftigung, Umwelt und Lebensstil. Ganz besonders belastete Merthyr Tydfil der überaus hohe Anteil an Einwohnern, die Sozialleistungen beziehen. Manches hat sich hier verbessert, und davon zeugen die neuen Häuser und die modernen Autos. Nicht übersehen werden darf dabei, dass die Kluft zwischen den wohlsituierten Bürgern und den Menschen, die von Sozialleistungen leben, eher größer geworden ist. Die Zahl der Arbeitslosen ging zumindest in der Statistik deutlich zurück, doch liegt sie im Vergleich zu anderen walisischen Städten mit 6 % noch immer relativ hoch. Die Arbeitslosenrate bei Jugendlichen beträgt in Wales rd. 14 %.
Generell gehen die Einschätzungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung – nicht nur auf Merthyr Tydfil bezogen – weit auseinander. Eindeutig feststellen lässt sich, dass die Versuche bisher wenig erfolgreich waren, Zukunftsindustrien anzusiedeln, die namhafte Beschäftigungszahlen mit sich bringen. Wo zehntausende von Arbeitern früher in Bergwerken und Eisenhütten schufteten oder später 6 000 Beschäftigte für Hoover Haushaltsgeräte montierten, herrscht schon ein Glücksgefühl vor, wenn wenige hundert Arbeitnehmer in einer früheren ‚Linde‘-Fabrik, in der einst Gabelstapler vom ‚Band‘ rollten, nun Panzer bauen. Und wenn ich schon höre, dass ein wichtiges Entscheidungskriterium für die Panzerproduktion in Merthy Tydfil war, dass diese Vehikel in der lange verwaisten Lackieranlage von Linde den letzten Farbtupfer bekommen, dann erinnert mich dies nicht an innovative Zukunftstechniken! Dazu kommt, dass auch im Vereinigten Königreich gepanzerte Truppentransporter des US-amerikanischen Rüstungskonzerns General Dynamics nur einen beschränkten Abnehmerkreis haben.
Verdrossenheit richtet sich auch gegen die EU
Die aufgezeigte Entwicklung wurde im Übrigen von so manchem Gesprächspartner mit als Grund dafür angesehen, dass Wales 2016 beim Referendum über die EU-Mitgliedschaft mehrheitlich für den Austritt stimmte. Einerseits war dies überraschend, da gerade Wales umfängliche Gelder aus dem Regionalfonds der EU erhalten hatte. Doch damit wurden zu wenig Arbeitsplätze in den ländlichen Regionen geschaffen. Häufig findet sich das EU-Zeichen an historischen Gebäuden, und deren Erhaltung ist natürlich wirklich wichtig. Zugleich wurden unzählige Industrie- und Gewerbeflächen, an denen ebenfalls das EU-Signet prangt, erschlossen, doch dort regt sich nichts. Der Frust über den Niedergang der Industrie in zahlreichen eher abgelegenen Tälern richtete sich somit nicht nur gegen die Regierung in London, sondern auch gegen die EU.
Das relative Zurückfallen hinter andere Regionen wird in Wales gerade im ländlichen Raum, in den Tälern – den ‚Vales‘ – spürbar, die zwar zum Meer führen, in die wirtschaftlich interessanteren Gebiete, doch ‚hinten im Tal‘, da fehlen innovative Arbeitsplätze. So sind auch die Ergebnisse einer gemeinsamen Untersuchung der Universität Cardiff und der Nottingham Business School erschreckend: MerthyrTydfil droht in den nächsten Jahren weiter hinter die prosperierenden Zentren zurück zu fallen, trotz aller Fortschritte. Ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr um 0,56 % lässt sich aus den heute greifbaren Zahlen ablesen. Dagegen werden London und umliegende Gebiete ein deutliches Wachstum verzeichnen. Damit nimmt Merthyr Tydfil unter den 377 untersuchten Gebieten den letzten Platz ein. Irgendwie kommt mir dies aus deutschen Untersuchungen ebenfalls bekannt vor: Manche erfolgreichen Städte laufen über, weil immer mehr Menschen zuziehen, um am wirtschaftlichen Erfolg teilzuhaben, doch andere Regionen fallen zurück. Nicht nur wir Deutschen scheinen eine neue Regionalförderung dringend zu benötigen!
Wenn der Investor über Müll stolpert
Die dringend notwendige Rekultivierung der vom Bergbau sowie der Eisen- und Stahlindustrie in Mitleidenschaft gezogenen Landschaft hat in Wales – so auch in Merthyr Tydfil oder im nahegelegenen Ebbw Vale – deutliche Fortschritte gemacht, doch am saubersten ist es hinter den Zäunen, wo die Bagger noch Kohle zu Tage fördern und die Renaturierung vorangetrieben wird. Dort grasen Pferde und Schafe als Naturschützer. Doch entlang vieler Straßen findet sich eine Unmenge Müll, dies kennen wir leider auch aus Deutschland. Aber es findet sich zusätzlich oberhalb von Merthyr Tydfil ein Gebiet, das jede Vorstellung – zumindest im mitteleuropäischen Maßstab – sprengt. Dabei kann man im Internet zu ‚Ffos-y-fran‘ lobende Worte darüber finden, welche Anzahl von Autowracks dort beseitigt wurde.
Dies mag schon stimmen, doch inzwischen scheinen die Müllsünder mit ihrem neuen Fahrzeug den Weg nicht zu scheuen, um ihren Dreck direkt in die Landschaft zu kippen. Ohne Rücksicht auf Bäche und Tümpel, Schafe und Pferde, Natur und Umwelt oder die Mitmenschen. Geradezu abstrus ist es, wenn der Müll nicht selten direkt unter den Hinweisschildern abgelagert wurde, die mit harten Strafen für Müllfrevler drohen. Da würde mich wirklich interessieren, wer zuletzt zur Rechenschaft gezogen wurde! Diese unglaubliche Vermüllung macht besonders deutlich, dass es überall Zeitgenossen gibt, die nur mit einer gewissen Härte auf den Pfad der Tugend zurück gelotst werden können. Der Hinweis auf eine Höchststrafe von 50 000 Pfund für illegale Müllentsorgung hat offensichtlich niemanden beeindruckt!
So mancher könnte sich fragen, was denn der wild abgelagerte Müll mit den wirtschaftlichen Perspektiven einer Stadt und Region zu tun hat? Ich denke, sehr viel. Die Nachlässigkeit bei der Verfolgung der Müllsünder zeigt die Unfähigkeit oder den Unwillen der Behörden, Recht und Ordnung durchzusetzen. Wenn nur Schilder aufgestellt werden, die Strafen androhen, dann aber nichts geschieht, macht sich die Verwaltung lächerlich. Und welcher Investor möchte sich schon an einem relativ abgelegenen Ort ansiedeln, wenn er dort durch den Müll waten muss? So mancher Unternehmer wird sich auch fragen, welche Arbeitnehmer ihn denn erwarten, wenn die Müllflut die Landschaft überschwemmt. Dies ist eine Frage, die wir auch in deutschen Landen ernster nehmen müssen als bisher.
Die industriellen Wurzeln nicht gepflegt
In ‚Wales Online‘ schreibt Will Hayward über die angesprochene Studie: „The projection for Merthyr is a devastating finding for an area that has been hit hard for decades since the loss of its heavy industry but has been building a sense that the tide is turning. Unemployment has fallen and visitor numbers have risen.“ Ja, die Arbeitslosigkeit ist gefallen, doch es gibt weiter Familien, die seit 30 Jahren im Teufelskreis der Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung festsitzen. Und die Touristen sind als Einnahmequelle nicht zu unterschätzen, doch können sie weder in den walisischen Tälern noch in Cornwall industrielle Unternehmen ersetzen. Ob sich in der Zukunft mehr tun wird als bisher, lässt sich natürlich nie sagen. Aber die Vernachlässigung der fertigenden Industrie im Vereinigten Königreich seit Margaret Thatcher stellt sich auch bei Betrachtung der Entwicklung im ländlichen Wales als gravierender Irrtum dar. Die damalige Premierministerin wollte zurecht die dauerstreikenden Gewerkschaften in die Schranken verweisen, doch dabei wurden vielerorts gleich die industriellen Wurzeln mit ausgerissen.
Industrien werden sich immer wandeln, daran lässt sich nichts ändern – und das ist auch gut so. Denn mit neuen technischen Ideen können alte Probleme überwunden werden: Die Eisen- und Stahlproduktion als Basis der industriellen Revolution führte auch zu starken Umweltbelastungen. In den Kohlegruben ließen hunderte von Bergleuten ihr Leben. Aber nicht nur bei der Suche nach dem schwarzen Gold waren Opfer zu beklagen, sondern ebenfalls über Tage. So verschüttete am 21. Oktober 1966 eine ins Rutschen geratene Abraumhalde eine Grundschule: 140 Menschen starben. Unter ihnen 116 Kinder – eine ganze Generation wurde in der Gemeinde Aberfan fast vollständig aus dem Leben gerissen. Nahezu 100 Jahre lang war der Abraum der Merthyr Vale Colliery über dem Dorf aufgeschüttet worden, obwohl sich dort ein kleiner Bach und mehrere Quellen befanden. Die Nachlässigkeit der örtlichen Bergwerksmanager, aber auch der höheren Ränge des National Coal Boards, der damaligen staatlichen Kohlebehörde, war ausschlaggebend für die Katastrophe. Dazu an anderer Stelle mehr.
Damit wird auch klar, es geht selbstredend nicht darum, die Vergangenheit zu beschönigen, ganz im Gegenteil. Wichtig dagegen ist bei Veränderungsprozessen, die Fähigkeiten der Arbeitnehmer zu nutzen, um neue und zukunftsweisende Techniken zu entwickeln und in Produkte umzusetzen. Dies geschah in Wales in unzureichendem Maße. Für mich ist ein Musterbeispiel das baden-württembergische Tuttlingen und die umgebenden Gemeinden. Als Messer- und Schuhherstellung ihren Zenit überschritten hatten, ließen sich die Kenntnisse von Unternehmern und Mitarbeitern nutzen, um diese Region zum Weltzentrum der Medizintechnik zu machen. Negative Beispiele unter den deutschen Regionen sind für mich dagegen das Ruhrgebiet und der Pfälzer Wald. Aus Kohle und Stahl oder Bürstenherstellung und Schuhgewerbe entwickelten sich nicht rechtzeitig Nachfolgeindustrien. Das Know-how verwelkte, landete im Museum, anstatt neue Branchen zum Aufblühen zu bringen. Wir müssen also nicht unbedingt ins britische Wales schauen, um Fehler zu erkennen, die dringend behoben werden müssen. Und so bin ich auch gespannt, ob der Umbau der Wirtschaft in den Gebieten mit Braunkohleabbau wirklich funktioniert. Dabei geht es meist nicht um die aktuell beschäftigten Mitarbeiter, die zu einem Gutteil bis zum Tage X in Rente gehen werden, sondern um die jüngeren Jahrgänge, die z.B. eine Ausbildung aufnehmen.
Subventionen schaffen keine Innovationen
Weite Bereiche in Wales, aber auch das Ruhrgebiet zeigen, dass eine Subventionsflut nicht unmittelbar zur Schaffung innovativer Arbeitsplätze führt. Finanzielle Förderung kann selbstredend dazu beitragen, neue Arbeitsfelder in Angriff zu nehmen, doch müssen diese zu den Fähigkeiten der Menschen passen. So ist es erfreulich, wenn auf der Brachfläche des früheren Eisen- und Stahlwerks im Ebbw Vale heute u.a. ein College beheimatet ist. Aber es müssen dann auch die qualifizierten Arbeitsplätze entstehen, ansonsten wandern die Absolventen ab oder werden zu lebenslangen Pendlern. Wo früher 12 000 Arbeiter Stahl herstellten, finden sich heute überwiegend Sportplätze des Colleges und deren Sporthalle.
1804 zog die weltweit erste von Richard Trevithick konstruierte Dampflokomotive 10 Tonnen Eisen in fünf Waggons und dazuhin 70 Männer über eine Strecke von fast 16 Kilometern. Eingesetzt wurde die Lokomotive im Eisenwerk Pen-y-Darren bei Merthyr Tydfil. Dies erinnert mich an Gottlieb Daimler und Carl Benz, die beiden Automobilerfinder vom Neckar. Ganz ohne Subventionen machten sie sich ans Werk und überwanden alle technischen und wirtschaftlichen Probleme. Aus meiner Sicht setzt die EU – ebenso wie die Einzelstaaten – viel zu sehr auf monetäre Anreize, doch wichtiger ist es, Freiräume für innovative Menschen zu schaffen und eine grundlegende Infrastruktur – ganz banal z.B. schnelles Internet und leistungsfähigen Mobilfunk bis zur letzten Milchkanne. Bei der Straßeninfrastruktur ist in Wales in den zurückliegenden Jahren viel geschehen, doch Straßen alleine nutzen wenig, wenn sie nur Touristen in die Region und Pendler in andere Städte führen, was man hier und am Beispiel der ehemaligen ‚neuen‘ Bundesländer studieren kann.
Aufräumen und beherzt anpacken
Wer neue Impulse für die Zukunft vermitteln möchte, der muss zuerst die Lage ehrlich beurteilen, und dies ganz ohne Schuldzuweisungen. Es geht um nachhaltige Innovationen und nicht um die endlose Suche nach denen, die irgendwann irgendetwas versäumt haben. Allerdings gehört zur Offenheit auch, die Frage aufzuwerfen, was denn falsch gelaufen ist. Und alle Beteiligten müssen genau analysieren, welches Know-how vorhanden ist und welche regionalen Vor- und Nachteile zu Buche schlagen. Nicht nur in Wales oder Cornwall, sondern auch im Ruhrgebiet, im Pfälzerwald, in der Region Goslar oder in den ländlichen Gebieten der neuen Bundesländer – um nur diese Beispiele anzuführen – fehlt es an einer systematischen Analyse und der sachorientierten Umsetzung der Vorschläge. Ein bisschen von allem und nichts richtig, das hat noch niemandem genutzt!
Wenig Sinn macht es daher auch in Merthyr Tydfil, sich hinter kulturellen Events zu verstecken, die letztendlich nur die Malaise verdecken. Und es bringt eine Stadt in der Krise nicht voran, wenn der Schriftsteller Anthony Bunko meint, Merthyr Tydfil werde herunter geredet. Ein Besuch in den Gewerbegebieten lässt schnell erkennen, dass sich deutlich zu wenig zukunftsorientierte Unternehmen angesiedelt haben. Fünf aneinandergereihte Werkstätten und Verkaufshäuser für Autos ersetzen keine herstellende Industrie. Ebenso wenig nutzt es, wenn der örtliche Tory-Unterhausabgeordnete Iain Duncan Smith ziemlich zynisch den Arbeitslosen rät: „get on the bus to Cardiff“. In einer Region, in der die Mehrheit der Arbeitnehmer ohnehin in wirtschaftlich stärkere Städte pendelt und häufig die Exportorientierung fehlt, braucht es eine regionalpolitische Neuorientierung. Konzentration ist wichtiger – auch bei Gewerbegebieten – als die Verzettelung. Fühlungsvorteile können sich nur entwickeln, wenn Unternehmen sich vernetzen – natürlich nicht nur in den ohnehin starken Zentren. Und das soziale und kulturelle Umfeld sowie die Ökologie müssen stimmen, wenn Investoren zum Bleiben angeregt werden sollen. Damit bin ich wieder beim ursprünglichen Gedanken: Der Müll muss weg!
3 Antworten auf „Merthyr Tydfil: Müll statt Stahl lockt keine Investoren an“