Matera: Von der nationalen Schande zum Weltkulturerbe

Kulturhauptstadt Europas 2019 macht Geschichte lebendig

Als die Bewohner der Höhlen in Matera ab 1952 unter Zwang in Sozialwohnungen umgesiedelt wurden, da hätte sicherlich keiner von ihnen gedacht, dass ihre unwirtliche Wohnstatt 1993 als UNESCO-Weltkulturerbe geadelt und 2019 auch noch der Titel ‚Kulturhauptstadt Europas‘ dazukommen würde. Über die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den Sassi hatte Carlo Levi 1945 in seinem Buch ‚Christus kam nur bis Eboli‘ berichtet. Er selbst war von den Faschisten 1935 in die Basilikata im Süden Italiens verbannt worden und hatte dabei auch Matera kennengelernt. Familien mit mehr als einem Dutzend Personen lebten jeweils mitsamt ihrem Vieh in einer der Sassi, den Felsenwohnungen. Die Malaria grassierte und kostete nicht selten die Hälfte der Kinder das Leben. Nicht zuletzt dieses Buch führte dann zur ‚Evakuierung‘ der Bewohner. Die Lebensumstände schienen nicht mehr zu einem sich erneuernden Italien zu passen.

Ältere helle Gebäude aus Naturstein erstrecken sich über eine Bergflanke.
Matera in der süditalienischen Basilikata hat es weit gebracht: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als nationale Schande gescholten, wurden die einst so geschmähten Felsenhöhlen 1993 zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben und jetzt als Europas Kulturhauptstadt 2019 geadelt. (Bild: Ulsamer)

Aus dem Elend der Höhlen in Wohnblocks

Interessant ist, dass nicht nur die italienische Regierung glaubte, ihren Mitbürgern ein solch tristes und entbehrungsreiches Leben nicht länger zumuten zu können, sondern auch in Irland und Großbritannien dachten Politiker ähnlich. So wurden im Südwesten der Republik Irland im November 1953 die letzten 23 Einwohner der Blaskets, einer Inselgruppe vor der Küste Kerrys, auf das Festland gebracht, um ihnen ein ‚besseres‘ Leben zu ermöglichen. Bereits im August 1930 waren die verbliebenen 36 Bewohner der vor Schottland gelegenen Insel St. Kilda auf das 64 Kilometer entfernte Mainland gebracht worden. Die Menschen aus den Sassi mussten zwar nicht übers Meer reisen, sondern nur in die höhergelegenen Wohnblocks umziehen, doch manchen von ihnen traf dennoch ein ähnlicher Kulturschock. 15 000 an der Zahl wohnten nun zum ersten Mal in ihrem Leben statt in Höhlen in gemauerten Häusern.

„Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt“, lässt Carlo Levi seine Schwester nach ihrem Besuch Materas berichten. Und sie fährt als Ärztin fort: „… dabei bin ich doch in meinem Beruf gewöhnt, täglich sehr viele arme, kranke und schlecht gepflegte Kinder zu sehen.“ Sie konnte einen Blick in die Felsenwohnungen werfen: „In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen, Männer, Frauen, Kinder und Tiere.“

Im Museumaraum eine Holztruhe, weitere Einrichtungsgegenstände und ein Museums-Pferd
Diese Felsenwohnung – heute als Museumsraum zugänglich – teilte sich eine ganze Familie mit ihren Tieren. Die Sassi wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als ‚nationale Schande‘ empfunden. (Bild: Ulsamer)

1950 besuchte der italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi Matera, um sich selbst einen Eindruck von der sozialen Lage zu verschaffen. Er hatte – wie auch Levi – unter den Faschisten gelitten und war nach seiner Haftentlassung in der Bibliothek des Vatikans tätig gewesen. Von dort aus erarbeitete er die Grundlagen für die Democrazia Cristiana, die über Jahrzehnte führende Partei der italienischen Christdemokraten. In den 1990er Jahren versank die Partei allerdings in der Bedeutungslosigkeit. Levi nahm als Verbannter in Aliano (im Buch: Gagliano) am archaischen Leben der verarmten Landbevölkerung teil, half ihnen wo immer er konnte als Arzt. Mit ‚Christus kam nur bis Eboli‘ machte Levi nach dem Zweiten Weltkrieg die drückende Armut und Hoffnungslosigkeit der Mehrheit der Menschen in der Basilikata zu einem Thema im fernen Rom. Er prangerte auch die Erbarmungslosigkeit lokaler Eliten an, die nicht zur Linderung der Not beitrugen, sondern diese durch Abgaben noch verschärften.

Blick auf eine in den Fels gebaute kleine Kirche aus hellem Stein. Ein rundes Fenster mit einem Kreuz ist zu sehen.
Zahlreiche in Felsenhöhlen eingerichtete Kirchen legen bis heute Zeugnis ab vom christlichen Erbe Materas und der umgebenden Region Basilikata. (Bild: Ulsamer)

Mit der Obrigkeit ist es nicht weit her

Die Schwester Carlo Levis muss sich ihren Besuch bei der Quästur, dem Polizeipräsidium, in Matera genehmigen lassen und macht ihre Erfahrungen mit den Beamten. Die Hilfsbereitschaft war nicht sehr ausgeprägt, so die Schilderung in Levis Buch. Doch wo trifft sie die ‚eifrigen‘ Statthalter des Regimes gleich darauf? Im Restaurant! „Und da saß denn auch schon melancholisch, mit sehr gelangweilter Miene, vor einem schmutzigen Tischtuch mit den Serviettenringen für die Stammgäste der Vizequästor mit anderen Polizeibeamten.“

Das erinnert mich an ein eigenes Erlebnis. Unser Auto war bei Foggia aufgebrochen worden, zwei Scheiben eingeschlagen, ein Reifen zerstochen und meine Kamera gestohlen, die ich noch nie im Wagen gelassen hatte, denn wir befanden uns kaum 200 Meter entfernt zum Picknick am Strand. Hunderte von aktuellen Aufnahmen waren verloren. Freundliche Anwohner alarmierten für uns die Polizei, doch die lehnte einen Vor-Ort-Einsatz ab. Wir könnten ja vorbeikommen, wurden wir beschieden. Auch der Hinweis, dass unser Pkw nicht mehr fahrbereit sei, rührte auf der Polizeistation niemanden: Wir könnten gerne ein andermal vorbeischauen. Und wen sehen wir nach einer Odyssee auf dem Abschleppwagen und der Rückkehr mit einem kleinen Leihwagen im Restaurant unseres Hotels? Einen ganzen Tisch adrett uniformierter Polizeibeamter mit Dienstwaffe beim Schmaus! So kann man den Mezzogiorno nicht sicherer machen und die Wirtschaft nicht stärken. Die Szenen gleichen sich, allerdings war in unserem Fall das Tischtuch makellos weiß und das Essen wohl besser.

Im unteren Bereich Felsenwohnungen und darüber historische Steinhäuser.
Viele der einst erbärmlichen Felsenwohnungen haben sich inzwischen zu respektablen Unterkünften gemausert. (Bild: Ulsamer)

Das Menschsein vorenthalten

Die sanitären Zustände, Malaria, fehlende Bildung und soziale Verelendung bewogen Carlo Levi auch zum Titel seines Buches ‚Christus kam nur bis Eboli‘ – und eben nicht bis Matera oder in ähnliche Gemeinden. Eboli liegt in der Nähe von Neapel und für manchen endete dahinter die zivilisierte Welt. Dies sahen viele Bewohner der entlegenen Regionen selbst so: „Wir sind keine Christen“, äußerten sie gegenüber dem Autor Levi, „keine Menschen, wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere, als Lasttiere und noch geringer als Tiere und Koboldwesen, die doch ihr freies, teuflisches oder engelhaftes Dasein leben“. Und aus dieser Einstellung zur Welt resultiert auch das Sprichwort ‚Christus kam nur bis Eboli‘, das Levi zum Titel seines aufrüttelnden Buches machte.

Die Menschen änderten hoffentlich ihre Sicht der Dinge und mussten nicht warten bis der Regisseur Mel Gibson für seinen Film ‚Die Passion Christi‘ im Jahre 2004 James Caviezel das schwere Holzkreuz durch die engen Gassen von Matera schleppen ließ. Weite Teile der Basilikata blieben aber weiterhin hinter der wirtschaftlichen Entwicklung Italiens zurück.

Rste der Wandmalerei in einer von Säulen getragenen Felsenkirche.
In den Felsenkirchen finden sich auch Reste der Wandbemalung. (Bild: Ulsamer)

Kinofilme tragen Matera in die Welt

Die Höhlenwohnungen in Matera überdauerten 9 000 Jahre und hatten das Glück, dass sich nach der Umsiedlung der Bewohner keine Immobilienspekulanten für die Sassi interessierten. So blieben sie Jahrzehnte weitgehend unbewohnt. Ende der1950er Jahre belebten erste kulturelle Gruppen mit Veranstaltungen einige der Sassi, doch erst in den 1980er Jahren wurden Felsenwohnungen wieder restauriert und mit zunehmendem Tourismus als Läden oder Restaurants genutzt.

Zwar wurde Matera mit heute rd. 60 000 Einwohnern zu einer Industriestadt, doch die Stadtbezirke mit den Sassi – deutsch: Felsen – veränderten sich kaum und eigneten sich daher hervorragend als Filmkulisse. Bereits 1953 wurde ‚Die Wölfin von Kalabrien‘ abgedreht, doch erst mit Pier Paolo Pasolini kam gewissermaßen der Durchbruch: Für ‚Das 1. Evangelium – Matthäus‘ drehte er 1964 in Matera die Szenen der Geburt Christi. Nach zahlreichen weiteren Produktionen folgte 1979 ‚Christus kam nur bis Eboli‘ von Francesco Rosi. Und Mel Gibson wählte – wie bereits erwähnt – Matera ebenfalls als Drehort. Auch Teile von Maria Magdalena, Filmstart in Deutschland 2018, wurden in Matera gedreht. Es zeigt sich hier deutlich, welche Bedeutung Filmen zukommt, die besondere historische oder landschaftliche Schauplätze in die Kinos der Welt transportieren. Ähnlich bedeutsam – um nochmals Bezug auf Irland zu nehmen – waren die Filme „Ryan’s Daughter“, „Far and Away“ (In einem fernen Land) oder Episoden der Star Wars-Verfilmungen für die irische Dingle-Halbinsel, sowie Außenaufnahmen von „Game of Thrones“ in Nordirland.

Rotbraune Ziegeldächer über den Gebäuden und deutlich tiefer das grüne Flußtal.
Matera liegt hoch über dem Gravina di Matera, rund 200 km östlich von Neapel und 50 km südwestlich von Bari in Süditalien, knapp an der Grenze zwischen der Basilikata und Apulien. (Bild: Ulsamer)

Auf den Spuren der Vorfahren

Natürlich haben sich auch die Sassi weiterentwickelt und gleichen einem begehbaren Kulturmuseum, doch die schmalen Gassen mit Kopfsteinpflaster, die steilen Treppen, die engen Felsenwohnungen und die in den Fels gehauenen Kirchen verleihen dem Gesamtensemble einen besonderen Reiz. Über 150 000 Besucher kamen schon 2015 nach Matera, und sicherlich werden es im Kulturhauptstadt-Jahr noch deutlich mehr. Dennoch ist Matera bisher kein Ort des Massentourismus – zum Glück, sagen viele Bewohner. Den Titel der Kulturhauptstadt Europas teilt sich Matera im Übrigen mit dem bulgarischen Plovdiv.

Die Sassi und die anderen historischen Teile Materas sind allemal eine Geschichtswanderung wert. Das UNESCO-Gütesiegel umfasst nicht nur die Felsenwohnungen und Felsenkirchen, sondern auch ein komplexes, durchaus als nachhaltig zu bezeichnendes Regenwassersammelsystem. Kulturhistorisch interessierte Besucher wandeln auf den Spuren der jungsteinzeitlichen Vorfahren, die bereits Höhlen in der Basilikata bewohnten. Die natürlichen und dann von Menschenhand weiter ausgegrabenen Höhlen boten über Jahrtausende Mensch und Vieh Obdach – und so mancher Tourist lässt sich heute dort verköstigen oder übernachtet wie vorhergehende Generationen, allerdings mit deutlich mehr Komfort. Ich hoffe sehr, dass die politisch Verantwortlichen darauf achten, dass die historischen Bereiche der Stadt geschützt bleiben, ohne natürlich eine weitere wirtschaftliche Entwicklung zu verhindern. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinigen sich in Matera bisher in einer vielfältigen und überaus sehenswerten Weise.

 

Historische Gebäude mit Balkonen und Rollos, dazwischen ein schlichter Neubau - alles in hellem Stein.
Historische und moderne Gebäude ergänzen sich in Matera. (Bild: Ulsamer)

 

Natürliche Höhlen im Gestein, umgeben von leichtem grünen Bewuchs.
Nicht nur in Matera selbst lebten tausende von Menschen in Höhlenwohnungen. Blick auf den gegenüberliegenden Talrand. (Bild: Ulsamer)

 

Netallskulpturen vor Wänden aus Tuffstein.
Der Skulpturenpark ‚La Palomba‘ wurde vom Bildhauer Antonio Paradiso in einem ehemaligen Tuff-Steinbruch ins Leben gerufen. Seine Werke stehen im Gegensatz zu den Tuffsteinwänden und verbinden sich gleichzeitig auf einfühlsame Weise mit der Umgebung. Antonio Paradiso wurde 1936 geboren, also zu der Zeit, in der der Arzt, Maler und Schriftsteller Carlo Levi in die Basilikata – damals Lucania – verbannt worden war. Die faschistische Regierung Benito Mussolinis wies Kritikern gerne abgelegene Dörfer als Aufenthaltsort zu, um sie von der Kommunikation mit Gleichgesinnten weitestgehend abzuschneiden. Der sehenswerte Skulpturenpark liegt nahe der Kreuzung von SS 7 und SP 271 vor Matera. (Bild: Ulsamer)

 

Ein Auto scheint zwischen Felsen eingequetscht zu sein. Nur der hintere Teil ragt heraus.
Die Elster beschaut sich die ins Auge springende Komposition aus Natur und Technik. (Bild: Ulsamer)

 

Auf einem hohen rechteckigen hellen Stein steht eine filigrane Skulptur aus feinen Metallblättchen.
Auch filigrane Kunstwerke kommen vor der Tuff-Wand zur Geltung. So hat der frühere Steinbruch sich zum Skulpturenpark ‚La Palomba‘ gewandelt. Wenn Sie z.B. von Bari aus nach Matera fahren, dann unbedingt einen Abstecher zum Castel del Monte einplanen, welches der Staufer-Kaiser Friedrich II. in Apulien errichten ließ. (Bild: Ulsamer)

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