Loveparade-Prozess endet in Duisburg ohne Urteil

Corona als wohlfeile Ausrede für rechtliches Desaster

Am 24. Juli 2010 drängelten sich in Duisburg 1,4 Millionen Menschen im Rahmen der Loveparade. 21 Besucherinnen und Besucher kamen bei dieser Mammutveranstaltung zu Tode, und 650 Verletzte waren zu beklagen. Erst sieben Jahre später beschäftigte sich ein Gericht ernsthaft mit diesem unbeschreiblichen Desaster, das letztendlich auf Fehlorganisation und Missmanagement zurückgeht. Bei einem solch langen Vorlauf werden auch Erinnerungen bei Zeugen nicht ohne Lücken sein, vor allem bei einem solch traumatischen Erlebnis. Letztendlich stellte das Landgericht nun den Prozess ein, da nach zehn Jahren die Verjährung drohte. Und man mag es kaum glauben, jetzt ist ein Schuldiger gefunden worden, zwar nicht für den Tod der Opfer, aber für das unsägliche Ende dieses Gerichtsverfahrens: Das Coronavirus lasse die Weiterführung des Prozesses und ein Urteil vor der Verjährung nicht zu. Erst pennen und dann die Schuld dem Virus aus dem chinesischen Wuhan die Schuld zuschieben, das ist ein starkes Stück!

Teilnehmer der Loveparade drängen sich an einer Engstelle, einer Art Tunnel.
In YouTube finden sich zahlreiche Videos von Teilnehmern der Loveparade in Duisburg. Und man muss kein Fachmann sein, um sofort zu erkennen, dass die Veranstaltung so hätte nicht durchgeführt werden dürfen. Engstellen wurden zu tödlichen Fallen. (Bild: Screenshot, YouTube, (drumcutCOM, 4.5.20)

Organisationsversagen bleibt folgenlos

Im Lauf der Jahre wurden die Angeklagten immer weniger und ihr Rang in der städtischen Bürokratie oder beim Organisator ‚Lopavent‘ ständig niedriger. Das Landgericht wollte über Jahre keine Anklage erheben. Erst nach einem juristischen Schubs des Oberlandesgerichts kam das Verfahren in die Gänge. Aber nach 184 Sitzungstagen wurde das Verfahren am 4. Mai 2020 eingestellt. Richter, Staatsanwaltschaft und Angeklagte waren sich einig, die Nebenkläger als Vertreter der Betroffenen widersprachen, doch dies war nur Formsache und konnte das unrühmliche Ende nicht aufhalten. Bei jedem Arbeitsunfall in einer Werkshalle oder auf einer Baustelle wird schnellstens eine Antwort darauf gesucht, wer die Verantwortung trägt. Und dies ist richtig, denn nur dann können ähnliche Vorfälle möglichst verhindert werden. Ganz anders in Duisburg: 21 Menschen starben, und keiner ist verantwortlich! Dabei geht es mir nicht um eine Hexenjagd auf Erfüllungsgehilfen, sondern um die grundsätzliche Frage: Wie konnte an diesem Ort eine solche Veranstaltung überhaupt genehmigt werden? Hier hätte das 3800-seitige Gutachten von Professor Jürgen Gerlach weitere Antworten geboten, das zwar bereits im Dezember 2018 vorlag, doch es wurde nicht offiziell in den Prozess eingebracht. „In dem Gutachten hatte der Verkehrsexperte festgestellt, dass das Unglück schon in der Planungsphase hätte verhindert werden können. Schon im Vorfeld habe es mehrere Anhaltspunkte gegeben, dass das Veranstaltungsgelände für die erwarteten Besuchermengen nicht geeignet war“, so die NZZ.

Oberbürgermeister Adolf Sauerland sitzend mit Bart und Brille.
Die Loveparade-Katastrophe kostete Oberbürgermeister Adolf Sauerland zwar das Amt, doch die gerichtliche Aufarbeitung hätte im Sine von Organisationsverschulden bei den Spitzen der Stadt und des Veranstalters ‚Lopavent‘ ansetzen müssen – und nicht beim Fußvolk. Bei einem zivilrechtlichen Verfahren hätte eben dieses Organisationsverschulden in den Mittelpunkt gerückt werden können. (Screenshot, Facebook, 4.5.20)

Zwar kostete die Loveparade-Katastrophe letztendlich Oberbürgermeister Adolf Sauerland das Amt: Am 12. Februar 2012 wurde erstmalig in Nordrhein-Westfalen ein Oberbürgermeister über einen Bürgerentscheid aus dem Amt entfernt. Nun kann ich weder die Lage vor Ort beurteilen noch die juristischen Details, aber kann und darf sich ein solches Verfahren derart langsam dahinschleppen, dass es wegen Verjährung und Corona-Pandemie eingestellt werden muss? Und dies, obwohl das Gericht durchaus Mängel in der Organisation und Durchführung erkannte: “Die Vereinzelungsanlagen und Schleusen waren nicht auf die zu erwartenden Personenmengen ausgerichtet. Zäune führten zu zusätzlichen Engstellen”, betonte Richter Mario Plein. “Der Stau vor den Vereinzelungsanlagen war absehbar.” Es habe auch „keine ausreichenden Flächen für die Abwicklung der Personenströme“ gegeben. Eklatante Kommunikationsprobleme traten zwischen Veranstalter, Polizei und Rettungsdiensten auf! Für mich klingt dies nach Organisationsversagen, und dieses ist nicht dem einzelnen Ordner, Polizisten oder städtischen Angestellten vorzuwerfen. Nun habe ich keine Veranstaltungen mit Millionenpublikum durchgeführt, aber immerhin mit bis zu 100 teilnehmenden Vereinen und 50 000 Gästen, und dabei wurden alle Details gemeinsam mit Polizei, Feuerwehr, DRK und der Stadtverwaltung abgestimmt. Dies sollte man von Großveranstaltungen wie der Loveparade in Duisburg dann um so mehr erwarten dürfen.

Menschen versuchen, sich nach oben in Sicherheit zu bringen.
Ich hätte nicht gedacht, dass in Deutschland bei einer Großveranstaltung mit 1,4 Mio. Teilnehmern 21 Menschen sterben können und dann trägt niemand die Schuld! (Bild: Screenshot, Facebook, 4.5.20)

Kritische Aufarbeitung des Versagens notwendig

Wenn ich mir die Situation in vielen Ländern unserer Welt anschaue, dann bin ich sehr froh, dass wir in einem Rechtsstaat leben, doch würde ich mir etwas mehr Augenmaß und Tempo im einen oder anderen Fall wünschen. Auf diesen Themenkreis bin ich bereits in meinem Blog-Beitrag „Deutschland: Der Rechtsweg gerät zur unendlichen Geschichte“ eingegangen, denn manchmal bewegt sich unsere Rechtsprechung langsamer als eine Schnecke. Besser werden die Entscheidungen dadurch aber kaum, was das Loveparade-Verfahren ebenso wie der Prozess um den Einsturz des Stadtarchivs in Köln belegen. Und ob das Verfahren gegen Beate Zschäpe als Mittäterin der NSU-Rechtsterroristen in München fünf Jahre dauern musste, das wage ich zu bezweifeln. Geradezu zackig ging es dagegen zu, als Rudolf Diebetsberger in Stuttgart für einen guten Zweck auf dem Horn blies. Er wich einige wenige Meter vom Ort beim Kleinen Schlossplatz ab, den das Ordnungsamt ihm zugewiesen hatte, weil dort ein anderer Event stattfand. Als sich der gelernte Hornist weigerte, ein Bußgeld zu bezahlen, wanderte er in Beugehaft. Das Gefängnistor schloss sich in Stammheim hinter ihm, dort, wo einst die Baader-Meinhof-Terroristen einsaßen. So sollte und darf sich der Rechtstaat nicht zum Gespött machen! Aber nicht nur die deutsche Justiz blamiert sich: „Im Prozess um die Betrugsvorwürfe um die Fußball-WM 2006 wird es kein Urteil geben“, berichtete u.a. die ‚Zeit‘. „Am Montag hatte das Bundesstrafgericht in Bellinzona entschieden, das seit Mitte März unterbrochene Verfahren wegen der Coronavirus-Pandemie bis zum 27. April weiter auszusetzen.“ Und wieder das Coronavirus! Wie lächerlich können Ausreden sein – auch in der Schweiz!

WDR-Text zum Prozessende mit Foto der Gedenktafel.
Bei der Einstellung des Verfahrens meinte Richter Mario Plein, die Schuld der jetzt noch Angeklagten sei gering und „Da haben sicherlich auch andere Fehler gemacht.” Das ist schon eine ulkige Erklärung für ein Strafverfahren, das ohne Urteil eingestellt wird, weil die Verjährung der Anklagepunkte kurz bevorsteht und dann auch noch Corona den zeitlichen Ablauf durcheinandergebracht habe. Meine Güte, da brauchen die Aufklärer bei Polizei und Staatsanwaltschaft und die Richter Jahre, und im Grunde kommt nichts dabei heraus. Der Vorwurf hätte eigentlich auf Organisationsverschulden abzielen und die höheren Chargen beim Veranstalter der Loveparade und der Stadt Duisburg betreffen müssen. Vielleicht hätten die Betroffenen ein solches Organisationsversagen in einem zivilrechtlichen Verfahren belegen können. (Bild: Screenshot, wdr.de, 4.5.20)

Für einige Jahre war ich Schöffe am Landgericht in Stuttgart und bin rückblickend dankbar, dass ich in kein Verfahren geriet, das sich mühsam dahinschleppte oder gar ohne Urteil endete. Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, dass Prozesse nicht zur unendlichen Geschichte werden. Aus meiner Sicht muss der Gesetzgeber alles daransetzen, die Prozessordnungen und den gesamten Rechtsrahmen so zu gestalten, dass Verfahren nicht unnötig in die Länge gezogen werden können. Völlig indiskutabel ist es aber auch, wenn – wie in Duisburg – 21 Menschen sterben, 650 verletzt werden und manche von ihnen noch heute unter den Folgen leiden, und dann ist für dieses schreckliche Organisationsverschulden im Grunde niemand verantwortlich. Die persönliche Schuld mag bei den einzelnen Personen gering gewesen sein, doch verblüfft mich die Aussage von Richter Plein: “Den großen Bösewicht haben wir nicht gefunden. Es war eine Katastrophe ohne Bösewicht.” Die Strafjustiz scheint dann ein zahnloser Tiger zu sein! Bei solch katastrophalen Ereignissen wird sich wahrscheinlich nie ein einzelner “Bösewicht” finden lassen, aber das kann doch nicht heißen, dass Organisationen oder Kommunen schlecht geplante und durchgeführte Veranstaltungen mit Toten und Verletzten straflos durchführen können. So habe ich mir unseren Rechtsstaat nicht vorgestellt, denn mit einem Prozess wie in Duisburg droht der Absturz in die Bananenrepublik! 10 Jahre für die Aufklärung des katastrophalen Vorfalls und die juristische Aufarbeitung zu verplempern, und dann die Mitschuld für das Totalversagen der Gerichte auf das Coronavirus abzuschieben, das ist nicht nur skurril, sondern abstrus! Gerichte sind unabhängig, und dies ist gut so. Ich hoffe allerdings, dass es zu einer selbstkritischen Diskussion im nordrhein-westfälischen Justizwesen kommt, in die auch Staatsanwaltschaft und Polizei einbezogen werden.

 

Eine Weinbergschnecke mit braunem Schneckenhaus auf einer Fensterscheibe von unten.
Jede Schnecke ist schneller und effektiver unterwegs als die Justiz in Nordrhein-Westfalen bei der Aufarbeitung der Loveparade-Katastrophe, die in Duisburg 21 Menschen das Leben kostete und 650 Besucher verletzt zurückließ. Manche Bürger sind noch heute durch die Folgen der Verletzungen beeinträchtig, und die Hinterbliebenen haben schwer an ihrem unermesslichen Leid zu tragen. Der Strafprozess wurde jetzt ohne Urteil eingestellt. Es wären zwar noch Zivilklagen der Opfer oder ihrer Hinterbliebenen möglich, aber wer wird schon diesen juristischen Weg einschlagen, wenn er das unvollendete Strafverfahren miterlebt, ja mit durchlitten hat? (Bild: Ulsamer)

2 Antworten auf „Loveparade-Prozess endet in Duisburg ohne Urteil“

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,

    zurecht weisen Sie in Ihrer Anmerkung zum Einstellungsbeschluss auf den Begriff “Organisationsverschulden” hin.
    Im zivilrechtlichen Verfahren führt dieses zur Haftung des Veranstalters. Im Strafverfahren ist die individuelle Schuld der angeklagten Personen festzustellen.
    Eine für die Justiz sehr viel schwierigere Aufgabe, die nicht immer gelingen kann. Das Ende des Verfahrens durch einen Einstellungsbeschluss ist für die Nebenklägerinnen und Nebenkläger sicher sehr schmerzlich und kaum erträglich. Gleichwohl rechtsstaatlich nicht zu beanstanden. Je größer der Prozessstoff ist, desto unbefriedigender ist häufig das Ergebnis des Verfahrens.
    Auch ohne Coronakrise, mit der die Einstellung nicht begründet werden darf, da es Aufgabe der Justiz ist die notwendigen Mittel zur Verfahrensbewältigung verfügbar zu haben, hätte der Prozess so enden können.
    Die Erwartungen, die häufig in Strafverfahren gesetzt werden, sind nicht zu erfüllen, da die Aufgabe der Strafjustiz begrenzt ist und weder die gesellschaftliche oder historische Aufarbeitung eines Geschehens leisten soll oder kann.

    Mit freundlichen Grüßen
    Gerhard Walter

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