Karl Martell und die Schlacht bei Tours und Poitiers

Hat Europa Angst vor der eigenen Geschichte?

Macht es Sinn, sich den Ort einer Schlacht anzuschauen, die 1 300 Jahre zurückliegt und von der noch nicht einmal die genaue Stelle bekannt ist? Ich bin ohnehin kein großer Freund militärischer Auseinandersetzungen, doch bei der Schlacht von Tours und Poitiers im Jahre 732 zogen mich nicht die Details des Gefechts an, sondern die Frage, welchen Stellenwert das Zusammentreffen muslimischer Streiter unter Abd ar-Rahman mit einem christlichen Heer unter Karl Martell heute noch hat. Im französischen Vouneuil-sur-Vienne, rd. 25 km von Poitiers entfernt, bieten verschiedene Informationstafeln einen Überblick über die Schlacht und die beteiligten Heerführer. Im Grunde ein informatives Angebot, hätte man nicht das Gefühl, die Autoren hätten sich um eindeutige Aussagen herumgedrückt. Eine zerstörte hölzerne Bank und Fetzen einer Fahne am Mast verstärken den Eindruck der Vernachlässigung.

Im oberen Teil des Bildes sind drei Infotafeln zu sehen, in der Mitte ein weißer Fahnenmast. Den Hauptteil des Fotos nimmt ein 'Schachbrett' mit historischen Zitaten und Grafiken ein.
Die Informationstafeln im französischen Moussais, einem Ortsteil von Vouneuil-sur-Vienne, rd. 25 km von Poitiers und 80 km von Tours entfernt, geben einen Überblick über die Schlacht von Tours und Poitiers im Jahr 732 sowie die beiden Kontrahenten Karl Martell, der das christliche Heer anführte, und Abd ar-Rahman, der die muslimischen Streiter befehligte. (Bild: Ulsamer)

‚Rettung des Abendlands‘ oder historische Petitesse?

Vor allem im 19. Jahrhundert wurde Karl Martell zum ‚Retter des Abendlandes‘ vor muslimischen Eroberern stilisiert, in jüngster Zeit vermitteln nicht nur öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten den Eindruck, man sollte den Großvater Karls des Großen am besten aus den Geschichtsbüchern tilgen: „Bis heute beziehen sich etwa französische Rechtspopulisten auf Martell – aber auch der rechtsterroristische Attentäter von Christchurch, Neuseeland“, so die WDR-Zeitzeichen. Macht sich hier ‚Cancel Culture‘ breit? Sollen wir die Deutungshoheit über die europäische Geschichte an Terroristen und Extremisten abgeben? Wohl kaum! Karl Martell kann nun sicherlich nichts dafür, wenn sich Extremisten auf ihn beziehen, denen es im Regelfall ohnehin an geschichtlichen Kenntnissen mangelt. Es geht gewiss nicht um die Heroisierung Karl Martells, denn dieser war bei allen Schlachten, die er schlug, an der eigenen Vorherrschaft und dem Ausbau seiner Macht interessiert. Und bei der Wahl seiner Mittel war der fränkische Hausmeier Karl nicht zimperlich, was ihm den Beinamen ‚Martellus‘ – der ‚Hammer‘ – eintrug.

Eine Infotafel ist dem muslimischen Heerführer Abd ar-Rahman gewidmet. Eine Zeichnung zeigt ihn mit einem schwarzen Pferd.
Abd ar-Rahman war in der Schlacht bei Tours und Poitiers der gegnerische Heerführer von Karl Martell. Er war 721 der fünfte und von 730 bis zu seinem Tod in der Schlacht der arabische Statthalter von Al-Andalus und damit verantwortlich für die arabisch besetzten Teile der Iberischen Halbinsel. „Im 8. Jahrhundert dringen muslimische Reiterhorden über Spanien nach Südfrankreich vor. Sie unterliegen in einer Schlacht, deren Hauptprotagonist später zum Retter des Abendlands verklärt wird“, so der WDR. Die muslimischen Heerführer hätten nicht die Absicht gehabt, sich im fränkischen Gebiet festzusetzen, und flugs wird der Islamwissenschaftler Marco Schöller zitiert, es hätte sich um eine „Geschichte von Warlords“ gehandelt, „die das nehmen, was sie können“. Warum die Mauren, die auf der Iberischen Halbinsel über Jahrhunderte herrschten und Paläste bauten, die noch heute Millionen von Besuchern anziehen, beim Überqueren der Pyrenäen zu „muslimischen Reiterhorden“ werden, die nur ans Plündern denken, das erschließt sich mir nicht. (Bild: Ulsamer)

Sowohl die Ikonisierung Karl Martells als auch sein Abdrängen an den Rand der Geschichte wird – so mein Eindruck – durch die Quellenlage nicht gedeckt, und daher schwankt seine Einschätzung in den zurückliegenden Jahrhunderten eher mit den politischen Vorlieben zeitgenössischer Autoren. Wird heute der Sieg in der Schlacht von Tours und Poitiers durch manche Historiker und ihre mediale Gefolgschaft zur Petitesse deklariert, so bleiben diese Autoren eine realistische Antwort auf die Frage schuldig, was denn geschehen wäre, hätte das Heer aus Franken, Langobarden, Sachsen, Friesen und Kämpfern aus Aquitanien die vordringenden Mauren nicht zurückgeworfen. Verschiedene Autoren betonen, es sei den arabischen Reitern nur um das Plündern von Städten und Dörfern gegangen, sie hätten sich jedoch auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs nicht festsetzen wollen. Die arabische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel, die erst 1492 mit der Reconquista und letztendlich mit der Rückeroberung Granadas endete, die Ausbreitung des Islam in Ägypten, ganz Nordafrika und letztendlich der Fall Konstantinopels 1452 sprechen eine andere Sprache. Auslegungen historischer Ereignisse mit unserem heutigen Wissen und politischen Vorlieben können daneben liegen, aber dies gilt im Streit um Karl Martell und die Schlacht von Tours und Poitiers selbstredend für alle Beteiligten an der Debatte. Auf eine offene Diskussion legen all die Journalisten und Historiker keinen Wert, die im Grunde die Vertreter der Gegenmeinung diskreditieren. „Nach der Niederlage der Mauren wurde Karl Martell als Retter des Abendlandes gefeiert, gar vom Sieg der Europäer über die Muslime war die Rede. Vom Vorläufer einer “europäischen Union” zu sprechen ist eher übertrieben, aber das Ereignis wirkte aufgrund antimuslimischer Propaganda lange nach“, so Herwig Katzer im Begleittext des SR-Podcasts ‚ZeitZeichen‘. Wer möchte sich schon gerne an „antimuslimischer Propaganda“ – Saarländischer Rundfunk – beteiligen oder sich für ein historisches Ereignis interessieren, das – WDR – „französische Rechtspopulisten“ – für ihre Zwecke missbrauchten. Wie tiefschürfend die geschichtlichen Kenntnisse derer sind, die krampfhaft versuchen, bestimmte Themen vom Tisch zu wischen, zeigt sich bei der Ankündigung des SR-Podcasts: „Der Enkel Karls des Großen war im nordwestlich gelegenen Frankenreich als Hausmeier zu großem Einfluss gelangt“, gemeint ist Karl Martell. Nun gut, der Hausmeier Karl Martell war der Großvater Karls des Großen, der im Jahre 800 zum Kaiser gekrönt wurde, und nicht sein Enkel, das sollte man auch beim Saarländischen Rundfunk wissen.

Informationstafel mit Texten und Bildern zu Karl Martell und Herzog Eudo.
Eine Informationstafel ist dem Herzog von Aquitanien Eudo und Karl Martell gewidmet. Eudo unterlag den vordringenden Mauren und unterstützte daraufhin Karl Martell in der Schlacht von Tours und Poitiers 732. Wie wenig zum Teil die überlieferten Berichte hergeben, wird an einem kleinen Beispiel deutlich: „Folgt man den wenigen Nachrichten, kämpften die Franken und ihre Verbündeten zu Fuß, während Araber und Berber beritten waren. Da sich Karls Männer zu einer Phalanx zusammenschlossen, konnten sie offenbar den Angriffen widerstehen und im Gegenzug die Leichtbewaffneten des Gegners ausschalten“, so Berthold Seewald in seinem Beitrag ‚Rettete Karl Martell wirklich das Abendland vor den Arabern?‘ 2022 in der ‚Welt‘. Ganz anders klang es noch 1974 im ‚Studienbuch Geschichte‘, das auch auf vorgehende militärische Auseinandersetzungen abhob: „Wahrscheinlich geht bereits die Reihe dieser militärischen Erfolge auf die Heeresreform zurück, mittels derer sich Karl in geschickter Ausnutzung der Ausbreitung der Grundherrschaft ein Gefolge von schweren Panzerreitern schuf, durch das die Franken nicht nur den Fußtruppen der Nachbarstämme, sondern auch der leichten Reiterei der Araber überlegen wurde.“ Ist die Quellenlage mager, dann frage ich mich schon, woher Journalisten in unseren Tagen die Gewissheit nehmen, dass Karl Martells Sieg in der Schlacht von Tours und Poitiers gewissermaßen eine Petitesse in der Entwicklungsgeschichte Europas war. (Bild: Ulsamer)

Was verdankt die abendländische Kultur Karl Martell?

Vor dem Hintergrund einer etwas schrägen Debatte in Deutschland neige ich der Ansicht des US-Historikers William E. Watson zu, der in seinem Beitrag ‚The Battle of Tours-Poitiers Revisited‘, der in ‚DRM‘, herausgegeben von ‚The Society for Medieval Military History‘ schrieb: „There is clearly some justification for ranking Tours-Poitiers among the most significant events in Frankish history when one considers the result of the battle in light of the remarkable record of the successful establishment by Muslims of Islamic political and cultural dominance along the entire eastern and southern rim of the former Christian, Roman world.“ Warum hätte es ausgerechnet in Mitteleuropa bei einzelnen Überfällen bleiben sollen, wenn in anderen Regionen die Islamisierung dauerhaft stattfand? Professor Watson fuhr fort: „Had Charles Martel suffered at Tours-Poitiers the fate of King Roderick at the Rio Barbate, it is doubtful that a “do-nothing” sovereign of the Merovingian realm could have later succeeded where his talented major domus had failed. Indeed, as Charles was the progenitor of the Carolingian line of Frankish rulers and grandfather of Charlemagne, one can even say with a degree of certainty that the subsequent history of the West would have proceeded along vastly different currents had Abd ar-Rahman been victorious at Tours-Poitiers in 732.“ Hätten sich die vordringenden arabischen Streitkräfte durchgesetzt, dann hätte sich die abendländische Kultur – mit Renaissance, Reformation und Aufklärung – gewiss anders entwickelt. Europa war auch die Wiege der Menschenrechte, dabei denke ich nicht nur an die Rechte der Frauen oder der Mitbürgerinnen und Mitbürger die sich LBTGQ+ zugehörig fühlen. Hätten wir ohne den Sieg Karl Martells bei Tours und Poitiers heute vielleicht ein Kalifat in Europa? Dies lässt sich weder belegen noch verneinen, nicht zuletzt wegen der mageren Quellenlage, aber auch der Erkenntnis, dass sich geschichtliche Alternativentwicklungen im Nachhinein nicht sinnvoll durchspielen lassen.

Am weißen Fahnenmast vor blauem Himmel hängt nur noch ein Fetzen der ehemaligen Fahne.
Am Fahnenmast hängen nur noch einige Fetzen, und so wäre es besser, ihn ganz abzumontieren. Auf alten Fotos ist die Fahne mit dem Aufdruck ‚732‘, dem Jahr der Schlacht von Tours und Poitiers, zu sehen. Generell habe ich den Eindruck, dass die Bewertung der Schlacht bei Tours und Poitiers zu sehr von den politischen Vorstellungen der Journalisten abhängt, die über diese berichten. Sind hier wiederum die modernen Bilderstürmer unterwegs, die uns ihre eigenen Interpretationen aufdrängen, ohne die Debatte und den Dialog zu suchen? Mehr dazu finden Sie in meinem Beitrag ‚Die Bilderstürmer sind auferstanden. Bald eine Welt der leeren Sockel?‘ (Bild: Ulsamer)

Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass Teile Europas Angst vor der eigenen Geschichte haben, so finden sich Karl Martell und die Schlacht von Tours und Poitiers immer seltener in Schulbüchern, worauf Thomas Lang in seiner Diplomarbeit an der Universität Graz ‚Die historiografische Überlieferung der Schlacht bei Tours und Poitiers (732) und ihre Rezeption in der Literatur, unter besonderer Berücksichtigung der modernen Schulbuchliteratur‘ unter Bezug auf französische und österreichische Schulbücher eingeht. Wer wichtige historische Ereignisse negiert oder nicht in geschichtliche Zusammenhänge einbindet, der muss sich nicht wundern, dass verwirrte Geister – wie Extremisten oder Terroristen – diese instrumentalisieren. Eine offene Debatte wird behindert, wenn in manchen Medien der Eindruck erweckt wird, man befasse sich mit einem Schmuddel-Thema. Die modernen Bilderstürmer versuchen, ihre Auslegung der Geschichte mit medialer Kraft in den Mittelpunkt zu rücken und Gegenmeinungen in Misskredit zu bringen. Sie vergessen dabei einen wichtigen Satz des Philosophen Karl Popper: „Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen ab.“ Wir dürfen die Deutungshoheit über die Geschichte nicht den politischen Rändern überlassen.

 

Eine zerbstörte hölzerne Bank liegt im Gras.
Eine zerstörte Holzbank an einem historischen Ort, der für die Entwicklung Europas wichtig war, hinterlässt keinen guten Eindruck. Ganz anders sah es im französischen MuséoParc Alesia aus, wo an den vergeblichen Widerstand des Kelten Vercingetorix und seiner Getreuen im Kampf gegen die römischen Besatzer erinnert wird. Vielleicht liegt dies an Asterix und Obelix? Mehr dazu in: ‚Die Kelten – Händler, Handwerker, Bauern und Krieger. Das europäische Erbe der Kelten besser aufarbeiten‘. (Bild: Ulsamer)

 

Links ist es eine grüne Stele mit dem Aufdruck '732 La Bataille de Poitiers' und rechts eine Wanderkarte der Gegend zu sehen.
Genau weiß niemand, wo die muslimischen Angreifer und das christliche Heer aufeinandertrafen, daher sprechen wir im deutschen Sprachraum von der Schlacht von Tours und Poitiers, wobei die beiden Städte über 100 km auseinanderliegen. (Bild: Ulsamer)

 

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Im Vordergrund eine etwas verblichene Informationstafel mit einer Reiterkolonne, die sich in die Ebene bewegtm die oberhalb der Tafel zu sehen ist. Hecken, Bäume und grüne und bräunliche Flächen sind zu sehen. Darüber ein relativ blauer Himmel.Wie wichtig der Sieg der Franken und ihrer Verbündeten unter Karl Martell gegen das muslimische Heer unter Abd ar-Rahman für die weitere Entwicklung Europas war, ist umstritten. Die Schlacht wird häufig als Wendepunkt betrachtet, der den christlichen Charakter Europas bewahrte. Dieser Ansicht neige ich zu. Der Sieg der Franken, Langobarden, Sachsen, Friesen und Kämpfern aus Aquitanien trug 732 dazu bei, dass sich der Islam nicht weiter nach Norden ausbreiten konnte, und unterstützte die Festigung des Christentums als dominierende Religion in Westeuropa. Das damalige Geschehen beeinflusste die kulturelle Entwicklung und prägte die Identität Europas mit, die auf christlich-jüdischen Grundmauern ruht. Bei dieser Aussage bin ich mir bewusst, dass gerade von Deutschland dieses gemeinsame Erbe in größte Gefahr gebracht wurde: In den dunklen Jahren der NS-Terrorherrschaft wurden im Holocaust sechs Millionen Juden systematisch verfolgt und brutal ermordet, ihre Synagogen niedergebrannt und ihre Gräber geschändet. So ist es ein Glücksfall, dass in Worms der älteste jüdische Friedhof in Europa bis heute überlebte. Und vom sogenannten Martin-Buber-Blick auf dem früheren Stadtwall inmitten des Friedhofs sieht man nicht nur mittelalterliche Grabsteine, sondern auch den Dom St. Peter: 1000 Jahre gemeinsame jüdisch-christliche Geschichte! Darauf bin ich in einem Blog-Beitrag eingegangen: ‚Worms: Friedhof Heiliger Sand und Dom St. Peter. 1000 Jahre christlich-jüdische Stadtgeschichte‘. (Bild: Ulsamer)

 

 

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