Cem Özdemir stellt Fruchtfolge und Artenvielfaltsflächen zurück
Es summen immer weniger Wildbienen und Hummeln durchs Land, und Schmetterlinge flattern seltener in städtischen Parks ober über landwirtschaftlichen Flächen. Da mögen hunderte von wissenschaftlichen Studien einen klaren Zusammenhang zwischen der intensiven Landwirtschaft und dem Insektensterben aufzeigen, doch die Politik findet immer einen weiteren Grund, die notwendigen strukturellen Reformen im Agrarsektor zu verschieben. Und der Deutsche Bauernverband klatscht eifrig Beifall, obwohl Insekten als Bestäuber eine zentrale Rolle z. B. bei der Produktion von Obst und Gemüse spielen. Selbst der grüne Agrarminister Cem Özdemir stellt die Ausweisung weiterer Artenschutzflächen zurück und hebt die vorgegebene Fruchtfolge auf, damit auf deutschen Feldern mehr Weizen angebaut werden kann. Abgemildert werden sollen damit Engpässe bei Getreide, die Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine hervorgerufen hat, obwohl inzwischen der Abtransport aus ukrainischen Getreidesilos zum Glück über das Schwarze Meer wieder in Gang gekommen ist. Anstatt sich die Spekulanten vorzuknöpfen, die – gemeinsam mit dem russischen Präsidenten – ihr übles Spiel auf dem Getreidemarkt treiben, werden einmal mehr längst überfällige Schutzmaßnahmen für Insekten und die gesamte Natur auf die lange Bank geschoben. Manchmal frage ich mich wirklich, was den nach dem Parteibuch ‚grünen‘ Cem Özdemir von seiner CDU-Vorgängerin Julia Klöckner wirklich unterscheidet.
Die Insekten brauchen Lebensraum
In meinem Blog habe ich bereits mehrfach das Insektensterben in seiner ganzen Dramatik thematisiert, basierend auf einer Vielzahl von Studien. Die an Natur und Umwelt sowie am Erhalt der Artenvielfalt interessierten Leserinnen und Leser sehen den sich beschleunigenden Insektenschwund wie ich als schreckliche Realität, doch der Einfluss der Lobbyisten einer weiter intensivierten Landwirtschaft, die sich den Raubbau an den Böden, an Pflanzen und Tieren auf die Fahnen geschrieben haben, ist ungebrochen. Der Kampf um eine politische Mehrheit für die Natur geht weiter! Der Klimawandel und das Aussterben von Tierarten belegen, dass die Menschheit endlich pfleglicher mit unserer gemeinsamen Welt umgehen muss, denn wir haben nur diese eine! Wenn trotz der Krisen – von Corona über den russischen Angriffskrieg bis zur Energieknappheit – nicht deutlich mehr für die Insekten getan wird, dann verlieren Schwebfliegen und Hummeln oder auch Käfer ihre Heimat auf unserem Globus. Und wenn immer mehr Tierarten verschwinden oder sich die Erdatmosphäre weiter erhitzt, dann wird dies die Welt sicherlich verschmerzen, die schon so manche Eis- und Warmzeit überstanden hat, doch wir Menschen werden es nicht.
Hier ein einjähriger Blühstreifen und dort eine verinselte Brachfläche, das wird den Insektenschwund nicht stoppen. Wer glaubt, mit solchen minimalen Veränderungen eine ausgeräumte Landschaft wieder insektengerecht gestalten zu können, der verkennt den Ernst der Lage. Und einige blühende Blumen, möglichst ohne Pollen und Nektar für Wildbienen oder Schmetterlinge, am Rande von Schottergärten oder zwischen kurzgeschorenen Parkflächen bringen uns das Summen der Insekten nicht zurück. Der leise Tod der Insekten begleitet uns seit Jahren, doch wer sich für Hummel & Co. einsetzt, der bekommt noch immer viel zu häufig den spöttischen Hinweis zu hören, wer sich denn um die bei Nacht störenden Schnaken sorge, oder die wissenschaftlichen Untersuchungen werden rundweg in Frage gestellt. Das erinnert mich hin und wieder an die Kritiker von Impfungen gegen Covid-19. Wissenschaft hat in diesen Tagen keinen leichten Stand gegen ganze Bevölkerungsgruppen, die sich in ihre eigene gedankliche Wagenburg zurückgezogen haben. Jammern nutzt jedoch nichts, denn nur mit Mehrheiten lässt sich die europäische Agrarpolitik zum Besseren verändern. Die Insekten benötigen mehr Raum zum Leben, allerdings finden sie ihn nicht, wo die chemische Keule zuschlägt.
Steuergelder für die Zerstörung der Natur
Wer ernsthaft glaubt, man könne mit einer ständigen Intensivierung der deutschen oder europäischen Landwirtschaft den Hunger in unserer Welt bekämpfen, der folgt einer Schimäre. Julia Klöckner ätzte noch gegen die ‚Bullerbü‘-Landwirtschaft und forderte mehr Intensivierung. Einem solchen Trugbild scheint auch Cem Özdemir aufgesessen zu sein, denn wenn er jetzt zusätzliche Artenschutzflächen – sprich Brachen – auf 2024 verschiebt, dann öffnet dies all denen Tür und Tor, die schon immer auf die Ausbeutung der Natur gesetzt haben. Und wenn der Bundesminister glaubt, mit der Aussetzung der Vorgabe einer Fruchtfolge ließen sich die Teller hungriger Kinder in den Krisenregionen füllen, dann irrt er sich gewaltig. Es fehlt in unserer Welt nicht an Nahrungsmitteln, sondern an einer sachgerechten Verteilung und Nutzung. Dies scheint die EU unter ihrer Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht zu begreifen, die vom ‚Green Deal‘ palavert, aber eine vorsintflutliche Agrarpolitik betreibt. Und ganz folgerichtig, doch der Sache nicht dienlich, hat sie den Weg bereitet, für die Aussetzung der Fruchtfolge und die Verschiebung von zusätzlichen Flächen für die Artenvielfalt. Wollten die Europäer nicht seit Jahrzehnten im Sinne gelebter Subsidiarität und Solidarität dazu beitragen, dass sich die Menschen in den ärmeren und wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen selbst ernähren können? Ein Getreidefrachter hier und ein UN-Ernährungsprogramm dort, das ist nicht die Lösung.
Wenn wir in Deutschland einen echten Beitrag leisten wollen, um mehr Getreide nachhaltig und ökologisch auf den Markt zu bringen, dann hilft es nur, den Tierbestand zu reduzieren. „Allein in Deutschland landen 25 Millionen Tonnen und damit knapp 60 Prozent des Getreides in den Futtertrögen von Schweinen, Rindern und Geflügel“, so der bayerische Landesbund für Vogelschutz. Auf den für die Artenvielfalt vorgesehenen Flächen können dagegen nur 600 000 bis 1 Million Tonnen Getreide produziert werden, damit wird auch schnell erkennbar, dass die Natur, dass Bienen, Hummeln und Schmetterlinge, sowie weitere Wildtiere, mal wieder den Kürzeren ziehen, ohne dass auf der anderen Seite ein nennenswerter Beitrag zur Linderung von Versorgungsengpässen geleistet werden kann. Der Hunger in manchen Regionen lässt sich gewiss nicht damit bekämpfen, dass der Insektenschwund und das Vogelsterben in Deutschland und ganz Europa weiter beschleunigt werden. Die Europäische Union trägt mit ihrer Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zur Zerstörung der Natur bei und finanziert dies letztendlich mit unseren Steuergeldern! Flächensubventionen ohne gesellschaftlichen und ökologischen Wert hätten längst beendet werden müssen, doch das ist nicht der Fall. Und da kommt den Ewiggestrigen der Krieg in der Ukraine zu pass, um mehr Brachflächen zu verhindern.
Das Insektensterben jetzt stoppen
Von Julia Klöckner, der Ex-Weinkönigin, konnte man in Sachen Artenvielfalt nie viel erwarten. Kein Wunder, sie flirtete lieber mit dem Deutschen Bauernverband oder dem Nahrungsmittelriesen Nestlé, als sich für eine ökologische Neuorientierung der Agrarpolitik einzusetzen. Doch von Cem Özdemir, einem Grünen aus meiner heimatlichen Region hätte ich mehr erwartet. Nun, mit Agrarpolitik hatte Özdemir vor seinem Regierungsamt nicht sonderlich viel zu tun, es war der innerparteiliche Proporz, der ihn ins Amt brachte. Aber dass Özdemir und seine Grünen in der Bundesregierung unter Olaf Scholz so schnell einknicken, das hätte ich nicht erwartet. Was sollen eigentlich all die Studien, die einen mehr als dramatischen Einbruch in der Insektenpopulation belegen, wenn niemand die richtigen Schlüsse zieht?
Die Forschungsstation Randecker Maar auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg – ganz in der Nähe von Özdemirs Geburtsort Urach – beobachtet seit einem halben Jahrhundert Insekten, und das Ergebnis ist dramatisch: Der Rückgang der Schwebfliegen beträgt bis zu 97 %! Die Grundlage für die erwähnte Studie legten Wulf Gatter und seine Mitstreiter durch die Beobachtung von ziehenden Insekten (und auch Vögeln) per Fernglas, wobei die Ergebnisse ebenso in eine systematische Erfassung über 50 Jahre einflossen, wie die Insektenfänge mit Reusen. Schwebfliegen gehören eindeutig zu den Nützlingen, denn ihre Larven vertilgen vor allem Blattläuse. Die ausgewachsenen Tiere sind wichtige Bestäuber. Der Entomologische Verein Krefeld, der sich seit über 100 Jahren der wissenschaftlich orientierten Insektenkunde widmet, hat in einer Langzeitstudie von 1989 bis 2016 einen Rückgang der Biomasse von Fluginsekten von über 75 % festgestellt – und dies in über 60 Naturschutzgebieten. Ganz folgerichtig ist der Schwund an Insekten auf landwirtschaftlichen Monokulturen noch dramatischer. Hunderte von wissenschaftlichen Untersuchungen verzeichnen weltweit einen katastrophalen Rückgang der Insekten, doch die bundesdeutsche und europäische Politik verschiebt mal wieder selbst minimale Verbesserungen für den Lebensraum von Wildbienen und Schmetterlingen.
Politik ist kein leichtes Geschäft, dessen bin ich mir bewusst. Das ist aber kein Freifahrschein für Politiker. Wer sich jetzt über die Bedürfnisse von Insekten hinwegsetzt und – wie Cem Özdemir – die Vorgaben für die Fruchtfolge und zusätzliche Brachflächen auf die lange Bank schiebt, der handelt unverantwortlich! In den letzten Jahrzehnten fanden die politischen Entscheidungsträger immer wieder neue Gründe, um eine klare Neuorientierung der Agrarpolitik in der EU und in Deutschland zu verwässern. Wollen wir das Artensterben stoppen – und dazu ist eine ökologische Landnutzung die Voraussetzung – muss jetzt gehandelt werden. Der Grüne Cem Özdemir hat sich vor den Karren der Agrarlobbyisten spannen lassen, auf dem Julia Klöckner von der CDU und der Bauernpräsident Joachim Rukwied gemeinsam mit Ursula von der Leyen fröhlich das Lied von der Intensivierung der Landwirtschaft singen. Die Insekten dürfen nicht länger als politische Verschiebemasse gesehen werden, über die in Sonntagsreden geplaudert wird, denen an politischen Werktagen aber niemand hilft! Lange hatte ich gehofft, dass Bündnis90/Die Grünen in Regierungsverantwortung das Ruder herumwerfen und Kurs auf eine ökologische Neuausrichtung der Landwirtschaft nehmen, doch ich scheine mich getäuscht zu haben. Leider.
Zum Beitragsbild
Schmetterlinge finden zu wenig Nahrung. Selbst Disteln sind an Ackerrändern selten geworden. Die Raupen des Admirals fressen gerne Brennnesseln. Auch diese sind an den Rändern landwirtschaftlicher Flächen oder in städtischen Parks und Gärten selten geworden. Laut der Roten Liste gelten 42 % der bewerteten Tagfalterarten als „ausgestorben oder bestandsgefährdet“, 11 % stehen auf der Vorwarnliste, 12 % sind extrem selten. Daher benötigen die Schmetterlinge wieder mehr Lebensraum, und dies heißt gerade auch mehr blühende Wiesen. (Bild: Ulsamer)
3 Antworten auf „Insekten als politische Verschiebemasse“