Wiesen werden Wohngebiete
Selbstverständlich ist Wohnen ein Menschenrecht, was bedeutet, nicht nur ein Dach über dem Kopf zu haben, sondern eine angemessene Unterkunft zu vertretbaren Konditionen mieten oder erwerben zu können. In den wirtschaftlich prosperierenden Städten wird das immer schwieriger, darauf bin ich zuletzt in meinem Beitrag ‚Murks in der Wohnungsbaupolitik‘ eingegangen. Abhilfe kann eine innovative Regionalpolitik schaffen, die neue wirtschaftliche Schwerpunkte in Deutschland unterstützt oder vorhandene Keimzellen fördert. Wer glaubt, in Kommunen mit starkem Zulauf nur fleißig bauen zu müssen, dann werde sich die Wohnungsnot beseitigen lassen, der irrt. Und diesem Fehlschluss ist auch SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz verfallen, der gleich 20 neue Trabantenstädte fordert. Natur und Umwelt scheinen keine Rolle mehr zu spielen, die Reduzierung des Flächenverbrauchs ist wohl vergessen, was im Übrigen scheinbar für die ganze Ampelkoalition zutrifft, denn die Grünen haben mit dem Ausstieg aus der Kernkraft, die zu deren Leidwesen die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeleitet hatte, jede Dynamik in Sachen Umwelt und Natur verloren! Statt neue Wohnviertel hochzuziehen, sollten die Leerstände in Deutschland zu neuem Leben erweckt werden. In mehreren Artikeln habe ich in meinem Blog das Wohngebiet ‚Greut‘ in Esslingen am Neckar erwähnt, welches als kleines Beispiel zeigt, dass noch immer Streuobstwiesen überbaut werden, selbst wenn dies kühlende Luftströmungen in die Innenstadt reduziert. Das ‚Greut‘ ist bisher ein überschaubares Wohnquartier, doch weitere Gebäude dürften in der Zukunft hochgezogen werden, falls kein Umdenken erfolgt. ‚Greut‘ ist überall in unserer Republik, und dies ist das eigentliche Problem!
Frischluftstrom gedrosselt
Die Politik lässt jeden Nachdruck vermissen, sobald es um die bessere Nutzung leerstehender Gebäude geht, obwohl so mancher Laden in den Innenstädten nie wieder Kunden finden wird und in nicht wenigen Büros dank des Trends zum Homeoffice das Licht ausgegangen ist. Kurkliniken, Gasthäuser und Hotels stehen in unserem Land Jahre oder Jahrzehnte leer, doch nicht selten gehören sie ausländischen Investoren, die das jeweilige Objekt wohl aus den Augen verloren haben. Als Vertreter einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft bin ich der Überzeugung, dass gegen Immobilienbesitzer, die sich nicht um ihren Besitz kümmern, notfalls das Schwert der Enteignung gezogen werden muss. Die fragwürdige ‚Alternative‘ zur Nutzung von Leerstand ist das Überbauen von Wiesen und Äckern. Viele Kommunen machen es sich zu leicht, indem sie Wiesen zupflastern – wie im ‚Greut‘ – und nicht erkennen wollen, dass Städte auch mal voll sind. Gerade in Zeiten der Erderwärmung dürfen Wiesen, Forste und Wälder im Umland oder Grünflächen in den Gemeinden nicht überbaut werden, denn dies verhindert nicht nur die Zuführung von kühler Frischluft, sondern vergrößert die versiegelten Flächen mit dramatischen Folgen bei Starkregen.
Ulrich Stolte überschrieb seinen Beitrag in der Stuttgarter Zeitung bereits 2017 mit ‚Esslingen – Gefecht der Gutachten im Gewann Greut‘, und damit sprach er einen zentralen Punkt an: Kommunen neigen dazu, so lange Gutachter aufzubieten, bis sie ihre Bebauungspläne durchdrücken können. „Zwar werde im Greut selbst die Menge an kalter Luft um etwa 60 Prozent durch eine Bebauung verringert, doch würden diese 60 Prozent in der Masse der kalten Luft, die insgesamt über das Geiselbachtal in Richtung Innenstadt ströme, nur etwa ein Prozent ausmachen“, so Stolte. Und der Journalist fuhr fort: „Damit ist Ökoplana auf genauem Gegenkurs eines Gutachtens, das die Gegner in Auftrag gegeben hatten. In diesem Gutachten nämlich war etwas ganz anderes herausgekommen. Es deckte sich auch mit allen Gutachten der Vergangenheit, schließlich hatte die Stadt mehrfach versucht, das Greut zu bebauen, war aber jedesmal gescheitert, weil dem Greut eine wichtige Funktion in der Entstehung von kalter Luft bei Nacht zubemessen wurde. Das Gegengutachten hatte auch methodische Fehler in dem Zahlenwerk von Ökoplana bemängelt.“ Beim Streit der Gutachter sitzen Kommunen oder Landesregierungen meist am längeren Hebel, was sich beim umstrittenen Tesla-Werk in Brandenburg in gleichem Maße zeigte, wo die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nach meiner Meinung gravierende Mängel aufwies, doch dies ging im Beifall der Bundes- bzw. Landesregierung für das Vorhaben unter. Mehr hierzu finden Sie in meinem Beitrag ‚Brandenburg: Tesla walzt die Umwelt nieder‘. Ich möchte nicht missverstanden werden: Zweifellos sind Wohnungsbau und Industrieansiedlungen immens wichtig für unser Land, doch würde ich mir mehr Augenmaß bei der Suche nach dem richtigen Standort wünschen. Ich selbst war an der Suche nach einer Fläche für ein Test- und Innovationszentrum für ein Automobilunternehmen beteiligt, und wir haben gemeinsam mit Fachberatern 120 Liegenschaften überprüft und das Vorhaben letztendlich auf einem aufgegebenen Standortübungsplatz und einer Kaserne realisiert, da dort die Eingriffe in die Natur am kleinsten waren.
Hochpreisige Wohnungen sind keine Lösung
Mehr Wohnungen, das heißt auch mehr Verkehr. Das ist eine Binsenweisheit, allerdings negieren nicht wenige Politiker – vom Gemeinderat bis zu Ministern – diese Tatsache und können gleichzeitig Neubaugebiete hochziehen lassen und sich über die Autokolonnen oder volle Busse und Bahnen wundern. Wenn sich zwischen zwei Wahrnehmungen oder Meinungen eine gravierende Diskrepanz zeigt, dann empfinden viele Bürger – und auch ich – dies als unangenehm, doch viele politische Entscheidungsträger können eine solche Kluft ausblenden, die kognitive Dissonanz verdrängen. Mehr Grün in die Stadt und die letzte Baulücke schließen oder den Flächenverbrauch gegen Null fahren und zeitgleich Trabantenstädte bauen, das passt nach meiner Meinung nicht zusammen. Doch ich bin ja auch kein Politiker: Am Sonntag wird der Schutz der Streuobstwiesen propagiert und am Montag der Spatenstich auf eben einer solchen Fläche freudig begangen. Da ist sie wieder, die Streuobstwiese, und wir sind wieder im Esslinger ‚Greut‘ und an zahllosen anderen Orten unserer Republik! Mögen die Gemarkung oder das Gewann auch anders heißen, die Natur zieht zu Gunsten von Gebäuden den Kürzeren.
„DAS NEUE GREUT zeichnet viel aus. Eingerahmt von Obstbaumwiesen, Feldern und altem Baumbestand wird die Landschaft auch nach der Bebauung die Hauptrolle spielen“, so heißt es auf der Internetseite des Unternehmens ‚ibw‘. Leider wird dabei ganz vergessen, dass die Gebäude auf der ebenso lobend erwähnten ehemaligen „Obstbaumwiese“ liegen. „Die Mischung aus elf familiengerechte Reihenhäuser und 41 hochwertigen Eigentumswohnungen – darunter auch öffentlich geförderte Wohnungen – einerseits und die mit einbezogene Landschaft andererseits ist generationenübergriefend ausgewogen.“ Schreibfehler habe ich nicht verbessert, so heißt auch das erwähnte „Schmelztorgymnasium“ in Wahrheit Schelztor-Gymnasium. Nun gut, hoffentlich ist die Bauleistung besser! Ein Reiheneckhaus kostet schlappe 1,2 Mio. Euro – laut ‚Immo Scout 24‘. Und dort wird auch die Grunderwerbssteuer von über 60 000 Euro, der Grundbucheintrag mit 6 000 Euro und die Notarkosten von 18 000 Euro erwähnt: Es gibt zahlreiche Sparvorschläge von politischer und wissenschaftlicher Seite für den Wohnungsbau, so z. B. die Gästetoilette, Keller oder einen Parkplatz wegzulassen, doch die Politik sollte sich mal mit der Grunderwerbssteuer, dem Grundbucheintrag und den Notarkosten – oder der Mehrwertsteuer – befassen! Eine Wohnung mit zwei Zimmern gibt es laut der Immobilienkanzlei Sybille Windecker ab 470 000 Euro. Da möge jeder selbst darüber grübeln, ob sich mit solchen Projekten die Wohnungskrise beheben lässt.
Die Häuser werden „auch über die Tiefgarage angefahren und Sie betreten das Haus bereits im Untergeschoss (sofern Sie mit dem Auto kommen)“, so der Text der Immobilienkanzlei Windecker. Als Autofahrer wäre dies für mich ein Kaufargument, doch ist dann der Begriff „autofreies Areal“ – wie es die Internetseite des Bauträgers anpreist – nicht eine Worthülse? Selbst die „Freihaltung von wichtigen Kaltluftschneisen“ wird erwähnt, obwohl das neue Wohnquartier genau diese negativ beeinflusst, wenn auch in geringerem Maße als ursprünglich von der Stadt Esslingen vorgesehen, denn die Proteste gegen das Projekt haben zumindest das Bauvolumen reduziert. Doch was ist in einigen Jahren? Je nachdem, ob die richtigen Gutachter gefunden werden, könnte ein weiterer Bauabschnitt folgen – oder denke ich zu negativ? Nach meinen bisherigen Erfahrungen eher nicht. Ich hoffe sehr, die „Schaffung von Ausgleichsflächen beispielsweise und zusätzliche Pflanzung von Bäumen, für jede Wohnung einen“ findet als kleines Trostpflaster wirklich statt. 2017 schrieb der bereits erwähnte Journalist Ulrich Stolte über den Diskussionsstand zum ‚Greut‘: „Dort sollen vor allem einmal Flüchtlinge unterkommen“. Bei den oben genannten Preisen wird das wohl nicht umsetzbar sein.
Wer glaubt, das Überbauen der letzten Streuobstwiese würde die Wohnungsnot wirklich lindern, der landet in einer wohnungspolitischen Sackgasse. Und dies gilt für das ‚Greut‘ in Esslingen am Neckar ebenso wie für zahllose ähnliche Projekte in Deutschland. Nur eine innovative Regionalpolitik kann helfen, den Zustrom in die wirtschaftlich erfolgreichsten Zentren zu kanalisieren und in Regionen zu lenken, die bisher ökonomisch schwächeln. Leerstände müssen in ganz Deutschland in den Fokus genommen werden!
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„Mein Freund der Baum ist tot / Er fiel im frühen Morgenrot“, sang Alexandra 1968. Es ist schon skurril, dass in Sonntagsreden der Schutz von Streuobstwiesen propagiert wird, obwohl dann doch werktags eine Bebauung den höheren Stellenwert bekommt. (Bild: Ulsamer)