Ein rotes Tuch für den Kaiser beim Katholikentag in Stuttgart
Über historische Persönlichkeiten und deren Wirken kann und soll man streiten. Dies gilt natürlich auch für den preußischen König und deutschen Kaiser Wilhelm I. Im Rahmen des 102. Deutschen Katholikentags wurde sein Standbild in Stuttgart durch eine Künstlergruppe verhüllt, und schnell brandete Kritik auf: Ausgerechnet die katholische Kirche solle sich mehr um das Enthüllen und die Aufarbeitung der eigenen Geschichte kümmern und sich nicht an einem Denkmal vergreifen. Als geborener Stuttgarter und Schwabe habe ich mich einerseits immer gefragt, was denn ein Kaiser aus Preußen geleistet hat, damit er in Württemberg geehrt wird? Andererseits habe ich wenig übrig für Bilderstürmerei, das Zerdeppern von Denkmälern oder deren kontextlose Verhüllung, was auch für ein Reiterdenkmal von Kaiser Wilhelm I. gilt. Völlig daneben ist diese Verhüllung mit einem roten Tuch, wenn auf dem Platz dahinter – aus Anlass des Katholikentags – etwas verloren die Metallskulptur eines Mannes steht, der eine schwere Last schleppt und einem der Völker anzugehören scheint, die unter der Kolonialherrschaft leiden mussten. Wer sich mit der deutschen Geschichte befasst, der muss auch die kurze, aber nicht minder traurige Kolonialzeit aufarbeiten. Dazu hätte der Gegensatz zwischen einem unverhüllten Denkmal des aufstrebenden ‚Kolonialherren‘ Wilhelm I. – natürlich hoch zu Ross – und des geknechteten und ausgebeuteten Lastenträgers sicherlich bestens gedient.
Verhüllung lenkt vom Thema ab
Zwar flattert während des Katholikentags auf dem Karlsplatz in Stuttgart nicht die rote Fahne, denn die revolutionären Bestrebungen der deutschen Katholiken waren zumindest bisher – im Gegensatz zu Lateinamerika -, eher weniger intensiv ausgeprägt. ‚ReCollect‘ so heißt das Mini-Kunstkollektiv, das Kaiser Wilhelm I. gewissermaßen einen überdimensionalen Sack über den Kopf gestülpt hat. Erinnern ist immer gut, was der Name des Künstlergrüppchens andeutet, doch ob Geschichte klarer wird, wenn man sie verhüllt, wage ich zu bezweifeln. Die Stuttgarter Zeitung vermeldete, dass der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Marc Frings, bestätigt habe, dass „er hinter der Aktion stehe“. „Eine Arbeitsgruppe des Kirchentags wolle das Reiterdenkmal ‚kontextualisieren‘“, so Uwe Bogen in der Stuttgarter Zeitung. Ob man wirklich einen sinnvollen Kontext zu historischen Ereignissen herstellt, indem man einen der Protagonisten mit rotem Stoff verhüllt und ihn so für das Publikum unsichtbar werden lässt? Nur wenige Passanten können wahrscheinlich auf Anhieb sagen, wer da auf hohem Ross durch die Geschichte sprengt, wenn man nicht explizit die Widmung am Sockel liest. Die Örtlichkeit, der ‚Karlsplatz‘, macht die Deutung der verborgenen Gestalt für nicht ortsansässige Besucherinnen und Besucher des Katholikentags vermutlich noch schwieriger. Einen Zusammenhang herzustellen – was ja wohl mit dem „kontextualisieren“ gemeint ist – erscheint nahezu unmöglich, wenn ein armer Lastenträger hinter einem nicht mehr erkennbaren Denkmal steht. Eine Arbeitsgruppe des Katholikentags und nähfreudige Verhüllungskünstler waren augenscheinlich auf dem Holzweg unterwegs. Und die Stadt Stuttgart trug auch noch ihr Scherflein dazu bei.
Aus den Augen aus dem Sinn, scheint die Grundthese mancher Bilderstürmer zu sein, die mal das Denkmal eines Sklavenhändlers in den Hafen von Bristol werfen oder wie die Taliban Buddha-Statuen in die Luft sprengen. Nun gibt es mit Sicherheit Denkmäler, die man keinem demokratisch gesinnten Bürger zumuten kann, da denke ich an Adolf Hitler, Josef Stalin und ja, auch an Mao Tse-tung, aber bei europäischen Kaisern und Königen bin ich dann doch zögerlicher. Wer Geschichte verhüllt, der fördert nicht die kritische Auseinandersetzung, sondern beendet die inhaltliche Debatte. Nun, mit dem Verhüllen und Übertünchen hat die katholische Kirche Übung, möchte ich sarkastisch anmerken, obwohl ich dieser Kirche selbst angehöre – immer noch. Aber ausgerechnet beim Katholikentag die wichtigen Themenfelder Nationalismus und Kolonialismus mit einer Verhüllungsaktion anregen zu wollen, das ist in meinen Augen absurd! Bewirkt hat die Verhüllung das Gegenteil, denn nicht nur in den sozialen Medien werden die über Jahrzehnte vertuschten Missbrauchsfälle wieder in den Vordergrund gerückt, und die menschenverachtenden Folgen des Kolonialismus fallen hinten runter.
Kaiser und Könige verstecken?
Würde es sich bei dieser Verhüllung um eine spontane Aktion handeln, dann hielte ich sie zwar gleichfalls nicht für zielführend, doch über ein geplantes Spektakel kann ich nur den Kopf schütteln. Ausgelöst wurden des Kaisers neue Kleider in rot vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, und ganz brav wurde auch das baden-württembergische Finanzministerium, das das Hausrecht am Karlsplatz ausübt, um Erlaubnis gefragt. Aber so ganz neu ist eine solche Vorgehensweise nicht: So wird Lenin der Satz zugeschrieben: „Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!“ Und der rote Riesensack über Wilhelm und seinem Rösslein soll nach Interpretation der ‚KünstlerInnen‘ auch nicht an die kommunistische rote Fahne erinnern, sondern an die panafrikanische Flagge. Liebe Leute, möchte ich dem ReCollect-Trio zurufen, wer zu viel bei seinen Mitmenschen an Wissen voraussetzt, der wird mit seiner Aktion einen Fehlschlag erleiden. Wenn schon panafrikanische Anmutung, wo sind dann grün und gelb geblieben?
Auf der Facebookseite des StadtPalais wird auch auf die Verhüllungsaktion hingewiesen. Kein Wunder, denn die Verantwortlichen im Stuttgarter Stadtmuseum tun sich mit dem ‚eigenen‘ König bereits erdenklich schwer. Was werden sie erst zum preußischen Kaiser sagen? Der württembergische König Wilhelm II. stand – in Bronze gegossen – lange vor dem nach ihm benannten Wilhelmspalais, ehe er auf dem Hinterhof des umbenannten StadtPalais ein Schattendasein fristete. Ein wenig heimatlos geworden ging die Statue auf Wanderschaft durch Stuttgart. Zu einer ihm gewidmeten Ausstellung durfte Wilhelm II. dann wieder von einem Ausflug vor das Opernhaus in ‚seine‘ Räume vorübergehend zurückkehren. Wilhelm II. war der letzte König in Württemberg und sicherlich kein brutaler Potentat: Er ging für gewöhnlich mit seinen kleinen Hunden ganz allein in Stuttgart spazieren und nahm ohne Gegenwehr seinen Hut, als 1918 das Ende der Monarchie eingeläutet wurde.
Eine informierte Debatte ist wichtig
Der Kolonialismus, der Kaiser Wilhelm I. vorgeworfen wird, hat seine Spuren auch in zahlreichen Museen hinterlassen, und so manche Präsentation brilliert mit Raubkunst. Kulturelle Artefakte, die nicht legal nach Deutschland gekommen sind, sollten in die Ursprungsländer zurückgeführt werden, darauf bin ich bereits in meinem Beitrag „Mit Bibel und Peitsche nach Afrika. Wenn Raubkunst den Heimweg antritt“ eingegangen. Aus meiner Sicht macht es Sinn, die kulturelle Vielfalt unserer Welt zu zeigen, aber nicht mit geraubten Ausstellungsstücken. Auch nach deren Rückgabe wird es genügend Werke geben, die sich für einen interkulturellen Vergleich anbieten. Und ganz nebenbei bemerkt: Es könnte wirklich nichts schaden, sich stärker mit europäischen Kulturen – wie den Kelten – zu befassen und Verbindungslinien zu anderen Regionen zu ziehen.
Ich habe großes Verständnis dafür, wenn sich Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Kaisern und Königen schwertun, mir geht es oft genau so, aber ihre Skulpturen zu verhüllen oder in einer dunklen Ecke verschwinden zu lassen, das schafft kein historisches Bewusstsein. Zur Auseinandersetzung gehört sachgerechte Information als Ausgangspunkt für eine offene Debatte. Wenn es an Wissen mangelt, ist Kontextualisierung eine leere Phrase. Und dies gilt nicht nur für den preußischen Kaiser Wilhelm I. oder seinen württembergischen Namensvetter Wilhelm II., die vom Wesen und Handeln her nicht gegensätzlicher hätten sein können. Warum gibt es noch immer Hindenburg-Straßen in Deutschland? Reichspräsident Paul von Hindenburg machte sich zum Steigbügelhalter Adolf Hitlers und damit zum Wegbereiter der NS-Diktatur, die Deutschland in einen erbarmungslosen Weltkrieg führte und Millionen Juden ermordete, doch noch immer sind ihm Straßen oder auch eine Schutzhütte für Wanderer gewidmet. Hier würde ich mir mehr Informationstafeln an den entsprechenden Straßen oder deren Umbenennung wünschen. Bei einer Umbenennung sollten die Gemeinderäte an Matthias Erzberger denken, der – passend zum Themenfeld Kolonialismus – 1905/06 im Reichstag Korruption und Misswirtschaft in der Kolonialverwaltung, aber auch Morde und Misshandlungen öffentlich machte, die an der einheimischen Bevölkerung begangen worden waren. Seine Kritik führte u.a. dazu, dass ein Verwandter von Kaiser Wilhelm II., der Erbprinz zu Hohenlohe-Langenburg, seinen Hut nehmen musste. Die nationalistische Rechte ließ Erzberger, den demokratischen Zentrumspolitiker, am 26. August 1921 ermorden.
Licht und Schatten bei Wilhelm I.
Als überzeugter Demokrat liegt es mir fern, Kaiser Wilhelm I. oder die Monarchie glorifizieren zu wollen, doch wenn man ihm zurecht nationalistische Bestrebungen vorwirft und ihm wie in der Stuttgarter Zeitung anlastet, er habe „das Sozialistengesetz erlassen und den Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen unter Männern verbot, ins Strafgesetzbuch gebracht“, dann müssen auch andere Entscheidungen erwähnt werden. Wer historische Figuren in ihrer Zeit verstehen möchte, der sollte bei Wilhelm I. der Fairness halber beispielsweise betonen, dass während seiner Herrschaft für Arbeiter zwischen 1883 und 1889 erste Kranken-, Unfall- bzw. Invaliden- und Altersversicherungen eingeführt wurden. Am 17. September 1881 hatte Wilhelm I. diese Initiativen in einer ‚Kaiserlichen Botschaft‘ angekündigt: „Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen ist…“ Diese Sozialgesetze sollen weder die Verfolgung der Sozialdemokratie noch Nationalismus oder Kolonialismus entschuldigen, doch sie gehören zu einem gerechten Bild von Wilhelm I. oder seinem Reichskanzler Otto von Bismarck.
Die Verhüllung des Reiterstandbilds im Rahmen des Katholikentags war nach meiner Meinung ein Fehlschlag, denn die öffentliche Diskussion griff nicht das Thema Kolonialismus auf, sondern konzentrierte sich – wie zu erwarten – auf ganz andere Verhüllungen im Bereich der katholischen Kirche. Nicht das Handeln von Kaiser Wilhelm I. wurde diskutiert, sondern die zähe und kaum nachvollziehbare Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Marc Frings hat als Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken der katholischen Kirche einen Bärendienst erwiesen, und ebenfalls auch das neu gebildete Künstlergrüppchen ReCollect, das eine sinnvolle Diskussion der Handlungen von Wilhelm I. verhindert hat. Ein rotes Tuch über einem Denkmal ist eben aus sich heraus kein Kunstwerk oder ein sinnhafter Anstoß für eine öffentliche Debatte. Zu einem anderen Termin hätte eine solche – dann aber spontane – Verhüllung vielleicht Anstöße zu einer ernsthaften Diskussion über das Wirken von Kaiser Wilhelm I., die deutsche Kolonialpolitik oder – sogar umfassender – zur Geschichts- und Erinnerungskultur vermittelt. Eine Art Auftragsarbeit für den Katholikentag führte die Diskussion zwangsläufig auf andere Problemfelder wie die Vertuschung der Missbrauchsfälle. Diese Rote-Sack-Aktion mag gut gemeint gewesen sein, doch gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht.