Der Streit um das Tempolimit ist ein FDP-Popanz
Es mag daran liegen, dass wir in einem Ballungsraum wohnen, der überregional für seine Staus bekannt ist – deshalb kann ich über die Tempolimit-Debatten nur lächeln: Auf den Autobahnen rund um Stuttgart würde ich mir wünschen, wenigstens mit 130 Stundenkilometern unterwegs sein zu können – aber nicht nur dort. Wenn wir aus Irland oder Großbritannien über Frankreich – wo es überall Tempolimits gibt – ins deutsche Straßennetz zurückkehren, empfangen uns kilometerlange Staus, marode Brücken und endlose, jahrelange Baustellen. Der 1973 vom ADAC kreierte Spruch „Freie Fahrt für freie Bürger“ ist längst zu einer Farce geraten, wenn er nicht schon zu Zeiten der Ölkrise leicht absurd klang. Ich habe den weit überwiegenden Teil meines Arbeitslebens in der Automobilindustrie zugebracht, und ich möchte auch zukünftig nicht auf das Auto – gerade im ländlichen Raum oder bei Reisen in Europa – verzichten, doch mit einem Tempolimit bei 130 km/h könnte ich gut leben. Ganz besonders dann, wenn durch sachgerechte Investitionen dafür gesorgt wird, dass man diese Geschwindigkeit mal durchgehend über längere Strecken fahren kann. Die FDP-Oberen verhinderten die Aufnahme eines Tempolimits in den Koalitionsvertrag der Ampelregierung und klammern sich an ein überkommenes politisches Symbol. Der Kampf gegen das Tempolimit ähnelt dem Streit um eine künstlich geschaffene Schreckgestalt. Und der liberale Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat gegenüber der in Hamburg erscheinenden ‚Morgenpost‘ auch einen wahrhaft ‚triftigen‘ Grund für den Kampf gegen das Tempolimit ins Feld geführt: „So viele Schilder haben wir gar nicht auf Lager.“ So wird Politik wirklich zur Satire!
Mehrheit schreckt Tempolimit nicht
Die Umweltminister der Länder und des Bundes sprachen sich jüngst für ein Tempolimit aus, wobei Bayern und Nordrhein-Westfalen in einer Protokollnotiz erklärten, sie würden dies nicht mittragen. Das wird sicherlich auch ein Gesprächsthema bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen in Nordrhein-Westfalen sein, denn wenn CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst im Amt bleiben möchte, muss er die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Mona Neubauer gewinnen. Hauptsache, die Umweltminister halten sich selbst an Tempovorgaben, damit sie nicht wie der frühere baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller bei einer deftigen Geschwindigkeitsüberschreitung erwischt werden. Untersteller – von Bündnis90/Die Grünen – hatte sich vehement für ein Tempolimit von 130 auf Autobahnen ausgesprochen, und ausgerechnet er wurde auf der Autobahn von Stuttgart nach Karlsruhe mit 177 Sachen von der Polizei gestoppt, obwohl auf dem entsprechenden Abschnitt nur 120 km/h erlaubt waren! Forderungen von so manchem Politiker richten sich wohl eher an andere, sprich uns! Nun aber wieder zurück zum Kern des Themas.
Selbst unter ADAC-Mitgliedern hat sich das Bild gewandelt: „45 Prozent der ADAC Mitglieder lehnen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen ab, 50 Prozent sind dafür“, so schreibt der Verband auf seiner Internetseite. Bei einer Befragung im Jahr 2014 hatten sich noch 65 % der Mitglieder gegen ein Tempolimit ausgesprochen. Der ADAC verzichtet bei dieser Gemengelage auf eine Empfehlung an die Politik. Aber auch bei einer Umfrage von YouGov standen 57 % der Befragten einem Tempolimit von 130 km/h positiv gegenüber. Erwartungsgemäß spricht sich der Verband der Automobilindustrie (VDA) weiterhin gegen ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen aus und verweist auf den hohen Stand der Sicherheitstechnik in Fahrzeugen aus deutscher Entwicklung und Produktion, der dem „Verzicht auf ein generelles Tempolimit“ geschuldet sei. „Es wirkt zudem als Innovationsmotor, denn es generiert eine Nachfrage nach Fahrzeugen, mit denen sich auch höhere Geschwindigkeiten sicher und komfortabel fahren lassen.“ So ganz neu ist diese Behauptung nicht, doch was machen die Kunden denn in den wichtigsten Märkten mit Fahrzeugen, die deutlich schneller als 130 fahren, wenn es nahezu überall ein Tempolimit gibt? In China liegt es auf Autobahnen bei 120 Stundenkilometern! In den USA darf auf Highways mit bis zu 75 Meilen, sprich 121 Stundenkilometern gefahren werden. Die Frage hoher Geschwindigkeiten wird sich ohnehin bei der Zunahme von E-Fahrzeugen relativieren: Wenn man lange nach einer der wenigen Säulen für Stromer suchen muss, dann setzen die meisten Fahrerinnen und Fahrer ihren Fuß nur noch sehr behutsam aufs Gaspedal. Richtig spannend wird es, wenn die Mehrheit elektrisch fährt und sich auf den Weg in den Urlaub macht: es dürften sich Schlangen vor Ladesäulen bilden und so manches Stromnetz in die Knie gehen.
CO2-Einsparung möglich
Unwidersprochen ist in der bisherigen Debatte über ein Tempolimit, dass sich Einsparungen von Treibstoff und damit verbunden auch ein geringerer CO2-Ausstoß bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren ergibt. „Durch die Einführung eines generellen Tempolimits von 120 km/h auf Bundesautobahnen würden die Emissionen um jährlich 2,0 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente reduziert“, so das Umweltbundesamt. „Selbst ein Tempolimit von 130 km/h würde die Treibhausgasemissionen bereits um 1,5 Millionen Tonnen, ein Tempolimit von 100 km/h sogar um 4,3 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr mindern.“ Ein Tempolimit von 130 km/h wäre aus meiner Sicht unproblematisch und würde in das gesamteuropäische Bild passen. Unsere Nachbarn haben ohnehin längst generelle Tempobeschränkungen auf Autobahnen eingeführt. In der EU, aber auch in der OECD und den G20-Staaten gibt es Tempolimits – mit Ausnahme von Deutschland. Die gesamten CO2-Emissionen aller Pkw und leichter Nutzfahrzeuge könnten in Deutschland bei Tempo 130 immerhin um zwei Prozent vermindert werden. Dies klingt einerseits nach wenig, doch wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, kommt es auf jeden Prozentpunkt an.
Im Vergleich zu Landstraßen und innerstädtischen Verkehrswegen fährt man auf Autobahnen im Verhältnis zu den zurückgelegten Kilometern recht sicher, dennoch könnte nach Aussagen des Umweltbundesamts bei Tempo 130 die „Anzahl der jährlichen Verkehrstoten … um etwa die Hälfte sinken und ca. 140 Menschenleben gerettet werden. Auch die Zahl der Verletzten würde stark zurückgehen, wahrscheinlich um mehr als die Hälfte.“ Der bereits zitierte VDA sieht das anders, doch sollten wir sachgerechte Chancen nutzen, um schwere Unfälle auf den Autobahnen zu reduzieren. Dazu gehört besonders der konsequente und verpflichtende Einsatz von Notbremssystemen – vor allem bei Lkw. Auch das (teil-) automatisierte Fahren wird zu einer höheren Verkehrssicherheit beitragen. An der Sicherheit sollten wir keinesfalls sparen, auch wenn die bisherigen Höchstgeschwindigkeiten nicht mehr gefahren werden dürften. So würde ich den Machern der ARD-Sendung ‚Quarks‘ nur beim ersten Teil des Satzes (die Motoren) folgen: „Die Motoren könnten abgespeckt und Sicherheitstechnologien reduziert werden, die bei niedrigeren Geschwindigkeiten nicht mehr notwendig sind.“ Ich möchte nochmals daran erinnern, dass sich bei der Mehrzahl der batteriebetriebenen Fahrzeuge das Thema Höchstgeschwindigkeit ohnehin in der bisherigen Form nicht mehr stellen wird.
Tempolimit plus Ertüchtigung der Verkehrsinfrastruktur
Wenn sich die überwiegende Mehrheit der Autofahrer an ein generelles Tempolimit hält, gibt es weniger überraschende Bremsvorgänge und abrupte Beschleunigungen, was insgesamt dem Verkehrsfluss zugutekommen sollte. Das kann aber nicht heißen, dass die Politik in diesem Falle weniger Geld in das Verkehrsnetz investiert. Der Verkehrsfluss wird ja nicht nur durch die Fahrzeuglenker beeinflusst, sondern auch durch jahrelange Baustellen, an denen mit einer minimalen Mitarbeiterzahl und an zu wenigen Stunden pro Woche gewerkelt wird. Staus sind dort bei einer Reduzierung der Fahrbahnzahl oder einer Verengung vorprogrammiert. Und wo ständig wegen Straßenschäden oder maroder Brücken ein Schilderwald dazu auffordert, 60 oder 80 Stundenkilometer zu fahren, bilden sich auch bei einem Tempolimit Fahrzeugkolonnen. Die Straßeninfrastruktur muss ertüchtigt, die Schienenwege ausgebaut und die Schleusen für die Flussschifffahrt, z. B. auf dem Neckar saniert und wo notwendig ausgebaut werden – selbstverständlich bei möglichst geringen negativen Einflüssen auf die Natur. Das sind die großen Herausforderungen, derer sich ein Verkehrsminister annehmen sollte.
Auf die Frage der ‚Morgenpost‘, warum sich die FDP gegen ein Tempolimit auf Autobahnen sperre, meinte Bundesverkehrsminister Volker Wissing: „Weil es dafür weder nach dem Koalitionsvertrag noch dem aktuell verabschiedeten Energiesparpaket Mehrheiten gibt. Es ist eine Maßnahme, die äußerst umstritten ist und die auch sehr stark spaltet. Es bringt nichts, das immer wieder zu diskutieren. Das treibt einen Keil in die Gesellschaft.“ Wenn ich solche Sätze lese, sehe ich Wissing in die Fußstapfen von Andreas Scheuer treten, seinem wenig glücklich handelnden CSU-Vorgänger. Warum ausgerechnet ein Tempolimit einen „Keil in die Gesellschaft“ treiben solle, das ist mir ein Rätsel, wenn doch selbst die Mehrheit der ADAC-Mitglieder damit leben könnte. Allein steht die FDP mit ihrer Meinung nicht, denn „Wir wollen kein generelles Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen. Die CSU stellt sich klar gegen dieses ideologisch motivierte Vorhaben von Grünen, SPD und Die Linke.“ Hätten FDP und CSU doch in den zurückliegenden Jahrzehnten, in denen sie über lange Strecken in der Bundesregierung vertreten waren, mehr für die Autofahrer getan, indem sie Straßen rechtzeitig saniert hätten, dann wäre eine Vielzahl von Schildern mit ‚Straßenschäden‘ nicht notwendig gewesen und wir hätten schon mal Schilder für ein Tempolimit vorbereiten können. Und dann müsste Wissing auch nicht als Gegenargument gegen ein (zeitweiliges) Tempolimit betonen: „So viele Schilder haben wir gar nicht auf Lager.“
Eigentlich dachte ich, nach Andreas Scheuer als Chef des Bundesverkehrsministeriums könnte es nicht noch schlimmer kommen, doch das war wohl eine Selbsttäuschung, denn mit so einem Spruch setzt Volker Wissing zum Überholvorgang an! Volker Wissing und Christian Lindner, der ein Tempolimit ebenfalls strikt ablehnt, brausen mit einem Popanz auf dem Rücksitz über die Autobahn. Es wird ja wohl keiner von den Top-Liberalen an eine – heute völlig unmögliche – Zeile aus Helene Fischers Schlager denken: „Auf der Autobahn mit 300 fahren / Sowas kann ich nur mit dir“. Lindner machte beim Tempolimit eine „symbolhafte Diskussion“ aus, wobei er wirklich recht hat, doch sollte er sich besser an der eigenen Nase fassen: Die FDP, die bei den jüngsten drei Landtagswahlen schwächelte, wird sich mit dem Kampf gegen ein Tempolimit kaum im Rennen halten können. Die Liberalen sollten sich vom Anti-Tempolimit-Popanz schleunigst verabschieden! Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich Lindner & Co. gemütlich zurücklehnen wollten, als sie den Satz „Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben“ in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hatten. Mit ein bisschen Kubicki gegen die Impfpflicht, mit Lindner als Superschulden-Minister und Tankrabatt-Fan oder mit Wissing als Kämpfer gegen das Tempolimit ist kein Staat im Sinne des Urliberalen Theodor Heuss zu machen. Wenn der Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Fahrzeuge so langsam weitergeht wie bisher, erübrigt sich ein Tempolimit allerdings im Zeitalter der Stromer, denn in diesem Falle blieben am besten alle zuhause.
Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
vielen Dank für Ihren lehrreichen Beitrag. Der Fortschritt bei der Mobilität dauert leider recht lang. Immerhin, der ADAC hält nicht mehr an seiner These “Freie Fahrt für freie Bürger” fest und ist wohl auch nicht mehr gegen ein Tempolimit auf Autobahnen. Erst in den späten 50er Jahren wurde das Tempolimit innerorts mit 50 km/h und außerorts am Anfang der 70er Jahre mit 100 km/h eingeführt.
Wenn die Regierung das längst überfällige Tempolimit auf Autobahnen schaffen wollte, würde es nicht an fehlenden Schildern scheitern. Eine Änderung von § 3 StVO würde genügen. Auch an Landtrassen hängt nicht an jeder Ecke ein Tempo 100 Schild, da die gesetzliche Reglung völlig ausreichend ist, den Zweck zu erreichen. Im Ausland fährt es sich aus meiner Sicht mit Tempolimit und weniger hohen Geschwindigkeitsunterschieden deutlich entspannter, als in Deutschland. Das Tempolimit soll wohl als Verhandlungsmasse verfügbar gehalten werden. Die Begründung spielt dann keine Rolle,.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Walter
Sehr geehrter Herr Walter,
vielen Dank für Ihren Kommentar mit dem Hinweis auf die Straßenverkehrsordnung. Aus Ihren Worten wird deutlich, dass die von Minister Wissing vorgeschobene Schilderfrage nur politischer Nebel ist.
Mit besten Grüßen
Loothar Ulsamer