Baulichen Größenwahn hatten wir doch schon mal in der Hauptstadt
Ausgerechnet unter einer von Angela Merkel geführten Regierung soll das Bundeskanzleramt räumlich verdoppelt werden. Sie wird zwar die Eröffnung des Neubaus nicht mehr im Amt erleben, die Weichen allerdings werden weiter so gestellt, dass aus rd. 26 000 m² Nutzfläche bis 2028 gigantische 50 000 m² werden sollen. Dies kann ja wohl kaum daran liegen, dass so mancher Politiker an Leibesfülle zunimmt und deshalb mehr Platz braucht. Doch schon heute ist das monströse Bundeskanzleramt ein fragwürdiger Solitär in der politischen Welt, denn dieses ist – so der Berliner Journalist Gabor Steingart – die „größte Regierungszentrale der westlichen Welt – rund achtmal größer als das Weiße Haus, zehnmal größer als Downing Street No 10 und dreimal größer als der Élysée-Palast in Paris.“ Aber wen wundert’s, wir haben ja auch mit dem XXL-Bundestag das größte freigewählte Parlament der Erde – nur noch übertroffen vom chinesischen Volkskongress. Nichts gelernt haben die Entscheider um Bundeskanzlerin Merkel aus dem zu groß geratenen jetzigen Baukörper des Kanzleramts, obwohl manche Wegbegleiter dieses Gebäudes – wie sie mir sagten – selbst über die Dimensionen erschrocken waren, als sie das Betonmonster heranwachsen sahen.

Melange aus Größenwahn und Großspurigkeit
Nicht nur das Bundeskanzleramt, sondern auch manche Gebäude, die zum Parlament gehören, erinnern mich an den Gigantismus eines Albert Speer, über den wir schon im Geschichtsunterricht diskutierten. Doch baulicher Größenwahn scheint sich heute leider immer noch mit kleingeistiger Großspurigkeit zu verbinden, anders kann ich mir solche Vorhaben nicht erklären. Da stehen Mütter und Väter am Tafelladen an, um ihre Kinder satt zu bekommen, Rentner sammeln Flaschen, um die magere Rente aufzubessern, und so manche Rentnerin muss sich überlegen, ob sie heizen oder ordentlich essen soll, und die Bundesregierung will die Fläche des Bundeskanzleramts verdoppeln und dafür 600 Mio. Euro ausgeben. In welcher Welt leben wir eigentlich? Haben die CDU das ‚C‘ und die mitregierende SPD ihr ‚S‘ vergessen? Christlich und sozial ist auf alle Fälle eine andere Politik!

So richtig zu kümmern scheint die Größenwahn-Bauherrin, die sich immer so spartanisch gibt, auch ein Prüfbericht des Bundesrechnungshofs nicht, der die hohen Baukosten hinterfragt. Neun Wintergärten seien in Planung, ein Kindergarten, der pro Platz dreimal so viel kostet wie für ‚Normalos‘. Über 18 500 Euro werden nach bisherigen Berechnungen pro m² anfallen, im Innenministerium reichten noch 6 500 Euro. Parallel zu einer vorhandenen Spree-Querung soll eine zweite Brücke entstehen: Kosten über 18 Mio. Euro. Nicht nur Einzelmaßnahmen beleuchtet der Bundesrechnungshof kritisch, sondern er äußert gleichfalls „Zweifel, dass alle zu erwartenden Kosten bekannt sind. Dadurch besteht ein erhebliches Kostenrisiko.“ Der Flughafen Berlin Brandenburg und Stuttgart 21 lassen grüßen! Ganz nebenbei sind aber auch 600 Mio. Euro kein Pappenstiel, denn sie entsprechen 400 000 durchschnittlichen Standardrenten der Deutschen Rentenversicherung, die 2019 leicht aufgerundet pro Monat 1500 Euro betrugen! Doch wer fragt heute noch in der Bundesregierung und in weiten Teilen des Bundestags nach der Rentenhöhe, denn die eigene Absicherung der Minister und Parlamentarier liegt ohnehin in einer gänzlich anderen Sphäre: auch wenn Bundesfinanzminister Olaf Scholz jüngst bewiesen hat, dass er sich mit der Unterscheidung ärmerer und bessergestellter Schichten, zu der er gehört, schwer tut.

Bodenhaftung verloren
Olaf Scholz hat zwar seine Bemerkung „Wir können uns das leisten“ auf die hunderte von Milliarden Euro bezogen, die er für den Kampf gegen die Corona-Auswirkungen einsetzen will, aus Schulden natürlich, doch irgendwie scheint dies auch für Bauvorhaben wie das Bundeskanzleramt zu gelten. Aber in Berlin soll ja auch eine „Kulturscheune“ – so der Volksmund – für rd. 500 Mio. Euro hochgezogen werden. Und der Bundestag stimmte diesem Neubau für das Museum des 20. Jahrhunderts zu, obwohl sich mit Sicherheit eine kostengünstigere und dennoch sachgerechte Lösung hätte finden lassen. Großmannssucht oder – gendergerecht gerne ‚Großfraussucht‘ – passen weder in Corona-Jahren noch ohne Pandemie in unsere Zeit! In Stuttgart soll das in manchen Bereichen marode Opernhaus für eine Milliarde Euro modernisiert werden, obwohl in so mancher Schule ausreichend Waschbecken mit Warmwasser fehlen: da kann Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Notwendigkeit des häufigen Händewaschens hervorheben wie er will, wenn die Ausstattung der Schulen mit Waschgelegenheiten mangelhaft ist.

Der Berliner Tagesspiegel schreibt zum angedachten Prunkbau an der Spree, der in die Gedankenwelt einer mehr als fragwürdigen politischen ‚Klasse‘ zu gehören scheint: „Viel teurer als die neu gebaute Schloss-Rekonstruktion, so teuer wie ein Spezialbau der medizinischen Spitzenforschung mit Reinräumen und luftdichten Fassaden – noch bevor der Termin für den ersten Spatenstich überhaupt feststeht, sprengt das Budget des Bürobaus für 395 Bedienstete des Kanzleramtes den Kostenrahmen aller bisher bekannten Bundesbauten in Berlin.“ Im geplanten Neubau ist im Übrigen eine Kanzlerwohnung mit 250 Quadratmetern vorgesehen, obwohl es im Bestandsgebäude aus dem Jahr 2001 bereits eine ‚bescheidene‘ Unterkunft mit 200 Quadratmetern gibt! Die bereits vorhandene ‚Kemenate‘ entspricht schon mal hochgerechnet einer Hartz IV-fähigen Wohnung von etwa 12 Personen. Nun gut, die Kanzlerin oder ihr Nachfolger sind natürlich keine Hartz-Empfänger und sollen es auch weder sein noch werden, aber etwas Bodenhaftung könnte Bauherrinnen und Bauherrn im politischen Berlin nicht schaden.

Politikverdrossenheit wird geschürt
Verwunderlich ist für mich die Zurückhaltung mancher Medien und vieler Bürger bei diesem Thema, das muss ich schon sagen. Würde ein Privatunternehmen einen solchen Protzbau für noch nicht einmal 400 Mitarbeiter aus dem Vorstandsumfeld heute erstellen und gleichzeitig noch hunderte von Milliarden Schulden aufnehmen, da wäre sicherlich mehr Kritik zu erwarten – zu Recht! Erkennen immer weniger Mitglieder der Bundesregierung die soziale Schieflage, die sich in unserem Land entwickelt? 600 Mio. Euro für eine flächenmäßige Verdoppelung des Bundeskanzleramts sind ein Schlag ins Gesicht der Steuerzahler. Wer sich so weit von den Bürgern entfernt, der muss – wie der Bundestag – wohl auch über einen schützenden Graben vor dem Reichstag nachdenken. Dies ist für mich eine weitere Perversion des politischen Denkens. Prunkbauten in einer ‚Wagenburg‘ sind sicherlich keine zukunftsweisende Lösung. Generell erwarte ich darüber hinaus, dass die beständige Ausdehnung der Verwaltung im staatlichen Bereich eingedämmt wird, was von den Kommunen über Landratsämter und Länder bis hin zu den Bundesbehörden gilt!

Von Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte ich eigentlich nicht erwartet, dass sie ein solches Projekt weiter vorantreiben lässt, ohne die Bremse einzulegen. Das vorhandene Kanzleramt müsste wohl bereits jeden zum Nachdenken bringen, ob in gleicher Weise ein zusätzlicher Neubau erstellt werden darf. Die Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank ziehen verständlicherweise die Linien von Gebäude 1 zu Gebäude 2 weiter, doch von den politischen Entscheidungsträgern hätte ich mehr Nachdenklichkeit und eine Neuorientierung erwartet. Baulicher Größenwahn nahm schon mal in Berlin seinen Anfang! Hunderte von Millionen Euro für ein Bürogebäude auszugeben – und darum geht es, nicht um einen Palast – ist ein Affront, der die Politikverdrossenheit schürt!

Redaktioneller Hinweis:
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Bundeskanzleramt: Prunk und Protz
Der Erweiterungsbaubau passt nicht in unsere Zeit
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Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
Ihren gerechten Zorn über den Protz werden die meisten Wählerinnen und Wähler sicher teilen. Ihre Prognose, dass solche Bauten aus Wähler und Wählerinnen ehemalige Wählerinnen und Wähler werden lassen, ist hoffentlich unzutreffend, aber begründet.
Prunk passt nicht zur parlamentarischen Demokratie. Auch wenn die Kanzlerin die Richtlinien der Politik bestimmt, muss der erforderliche funktionale Aufwand begrenzt werden.
Lieder gibt sich kein Geld so nett aus wie fremdes. Gleichwohl die angehäuften Schulden werden unsere Nachkommen irgendwann bedienen müssen. Damit ihnen dies leichter fällt, wird an der notwendigen Infrastruktur für die Bildung gespart. Hauptsache das Gebäude Kanzleramt steht gut da. Vielleicht gilt auch hier, die inneren Werte zählen.
Im übrigen, der Trend geht zur Arbeit von zuhause aus. Diese Tendenz wird auch das Kanzleramt erreichen.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Walter, Immendingen