Unsere EU braucht neue Ideen und frisches Personal
Mitte September wird Jean-Claude Juncker mal wieder seine althergebrachten Vorstellungen zur Situation und zur Zukunft unserer Europäischen Union (EU) vortragen, und nichts wird wirklich neu sein – und nichts im echten Sinne zielführend. Verbrauchtes Spitzenpersonal und alter Wein in neuen Schläuchen – das ist die EU seit Jahren. Und stolpert sie auch über den Brexit, wir marschieren weiter, und entfernen sich auch die mittel-osteuropäischen Mitgliedsstaaten von Luxemburg & Co., egal, wir setzen unverdrossen die Fahrt in die Sackgasse fort. Manche werden entgegnen, die EU-Führung macht sich doch Gedanken: So z.B. im „Weißbuch zur Zukunft Europas“.
Aber wer liest denn dieses Pamphlet, das scheinbar den Anstoß zu erweiterten Diskussionen geben soll, das jedoch in sich selbst das Denken beschränkt. Das Undenkbare denken – das wäre heute gefragt! Doch die Altvorderen der EU wollen weiterhin die Zukunft in ihre Schablonen pressen. Dies hat allerdings noch nie funktioniert und wird es auch bei der für uns alle so wichtigen Gemeinschaft europäischer Staaten nicht tun.
Juncker auf der Kanzel
Wer nach dem Vorwort des Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, noch weiterliest, der braucht starke Nerven. Mir stehen bereits bei diesem Vorwort die letzten Haare zu Berge: „Nach einer breiten Debatte, die in den kommenden Monaten den ganzen Kontinent miteinbezieht, darunter das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente, die Regionen und Kommunen und die ganze Zivilgesellschaft, werde ich diese Ideen weiterführen und im September 2017 in meiner Rede zur Lage der Union meine persönlichen Vorstellungen zur Zukunft Europas darlegen.“
Von der Einbeziehung des ganzen Kontinents habe ich nichts verspürt. Auch in den Regionen, in denen ich seit dem Erscheinen des „Weißbuchs“ war, habe ich nichts zu diesem Papier gehört oder in der Presse gelesen. Und, ganz ehrlich, in welcher Art von Untertanenstaat lebt Juncker eigentlich, dass er sich einbildet, nun würden wir alle – seine getreuen Vasallen – auf seine Ergüsse warten? „Das erlaubt es dem Europäischen Rat, bis zum Jahresende erste Schlussfolgerungen zu ziehen …“ Sehr nett, da wird der Rat sich ja freuen! Wir brauchen keinen Kommissionspräsidenten, der von der Kanzel zu uns predigt, sondern eine Präsidentin oder einen Präsidenten mit Einfühlungsvermögen, mit Offenheit und Kommunikationsfähigkeit.
Nichts Neues in Brüssel
Wer das Vorwort überstanden hat, der wird mit einer mehr als allgemeinen Zustandsbeschreibung erfreut, die eine „Welt im Wandel“ erkennt. Altbekannte demografische Veränderungen (wir altern schneller als andere Regionen) werden wiederholt und alles gipfelt in einem Abschnitt „Wachsende Bedrohungen und Sorgen um Sicherheit und Grenzen“. Zumindest die Erosion des Vertrauens in die EU wird erkannt, allerdings gleich mit dem Hinweis versehen, dass nationale Politik „Erfolge grundsätzlich für sich selbst verbucht“ und die Probleme nach Brüssel abschiebt. Einige national oder gar nationalistisch orientierte Politiker mögen so denken und handeln, aber die EU-Führungskader tun dies nicht weniger – nur seitenverkehrt.
Auf wenigen Seiten werden dann „Fünf Szenarien für Europa im Jahr 2025“ entwickelt, die vordergründig als Ansatzpunkt für innovative Lösungen gedacht sind. Aber die geistige Enge, in der sich das Spitzenpersonal verirrt hat, wird auch bei diesen Szenarien mehr als deutlich.
Den größten Budgetbrocken vergessen
In allen fünf Szenarien taucht die Landwirtschaft nur in einer nebensächlichen Anmerkung auf: „Landwirte haben dank eines uneingeschränkt funktionierenden europäischen Satellitensystems Zugang in Echtzeit zu erschwinglichen Wetter- und Anbaumanagementdaten“. Das ist ja echt super: Diesen „Ausblick“ bekommen wir beim dritten Szenario verabreicht, das den Titel „Wer mehr will, tut mehr“ trägt. Die fehlgeleitete EU-Agrarpolitik wird auch durch Satellitendaten nicht besser, denn die Führungscrew hat längst den Überblick verloren.
Ist bei der Vorbereitung der Szenarien keinem der Autoren oder des Führungspersonals, das diese Schrift voller Nebelkerzen freigegeben hat, aufgefallen, dass die Ausgaben der EU für die Landwirtschaft noch immer rund 40 % des Gesamtbudgets betragen? Dies bedeutet auch, gerade im Zeichen des Brexits – und des Verlusts eines Nettozahlers -, dass neue Aufgaben nur angepackt werden können, wenn an anderer Stelle gespart wird. Warum wird dann das Thema Landwirtschaft nicht wirklich angesprochen?
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW ) erarbeitet und in diesem Jahr veröffentlicht wurde, zeigt, dass die 80 % der landwirtschaftlichen Betriebe mit dem geringsten Einkommen nur 25 % der direkten EU-Zahlungen erhalten. Zumindest am Rande hätte eines der Szenarien über die soziale Ungerechtigkeit der Zahlungen oder die ökologischen Fehlanreize nachdenken können. Auch der grüne Anstrich „Greening“ hat die ZEW-Analysten nicht überzeugt. “This lack of environmental effect and efficiency is not surprising, because greening was not primarily designed to generate environmental benefits, but rather to shore up the justification for direct payments to farmers without disturbing the distribution of direct payments between and within member states.“ Deutlicher kann man es kaum sagen: Die EU-Agrarpolitik ist gescheitert.
Natur- und Umweltschutz – eine Fußnote der Geschichte?
Kaum verwunderlich ist es vor diesem Hintergrund, dass nicht nur die Frage der zukünftigen Subventionierung der Landwirtschaft geflissentlich umgangen wird, sondern auch die sachgerechte Nennung von Umweltthemen in diesen Szenarien. Selbstredend wird das Pariser Klimaabkommen erwähnt, aber können wir darüber die Missstände bei der Abwasserreinigung in manchen EU-Staaten vergessen? Oder die Probleme durch Nitratbelastung des Grundwassers in Deutschland? Ich denke, nein. Hier hätte sich die EU seit Jahren durch entsprechende regionale Fördermaßnahmen einen Namen machen können.
Europäische Geldpolitik auf Abwegen
„Weiter wie bisher“, so ist das erste „Szenario“ betitelt, und dann nahm ich überrascht zur Kenntnis, dass die EU „den Schwerpunkt weiterhin auf Beschäftigung, Wachstum und Investitionen“ legt. Das war mir so bisher nicht aufgefallen, zumindest sprechen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Portugal oder Italien eine andere Sprache. Noch „irritierender“ ist es, wenn es um die „Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ geht oder „Kapitalmärkte weiterzuentwickeln, die die Realwirtschaft besser finanzieren“. Wenn ich „weiter wie bisher“ richtig interpretiere, dann glauben die Autoren, dass die EU – zumindest in der EURO-Zone – dies bisher auch schon tut. Wer glaubt denn dies ernsthaft? Oder gilt die Nullzinspolitik, die die Sparer enteignet, verbunden mit der Billionen-EURO-Geldschwemme der Europäischen Zentralbank, die Pleitestaaten über die Runden hilft, inzwischen als zukunftsweisend? Mit Mario Draghi ist es wie mit Jean-Claude Juncker, wenn nicht bald andere Persönlichkeiten die politische Führung bei EU und EZB übernehmen, dann nützen auch papierne Szenarien nichts.
Abwegige Beispiele
Soll sich die EU auf weniger Funktionen zurückziehen, so z.B. auf den Binnenmarkt? Kaum anzunehmen, dass die Befürworter einer EU der allgemeinen Daseinsvorsorge sich für solch ein Konzept aussprechen. Und so fällt die Darstellung auch kritisch aus. Eine solche Entwicklung von Szenarien hätte die EU besser Menschen und Institutionen überlassen, die über den eigenen Tellerrand hinausschauen.
Abwegig sind die negativen Auswirkungen, die prognostiziert werden. Beispielsweise würde die Wasserqualität ohne EU-Vorgaben in Flüssen nachlassen, die durch mehrere Staaten fließen. Wirklich? Ganz und gar ins Abseits führt aber der drohende Hinweis: „In Ermangelung EU-weiter Vorschriften und technischer Standards zögern die Europäer, vernetzte Fahrzeuge zu nutzen.“ Warum denn das? Erstens kann man mit vernetzten Fahrzeugen auch die Fahrt fortsetzen, wenn eine Vernetzung nicht möglich ist, und die beteiligten Staaten werden sich mit Sicherheit für das autonome Fahren gemeinsame Regeln schaffen – mit und ohne EU-Regulierung.
Wenn wir unterschiedliche Geschwindigkeiten in der EU zulassen, dann befürchten die Szenarien-Schreiber bei „Wer mehr will, tut mehr“ ein Auseinanderklaffen der „Bürgerrechte“. Und schon tauchen wieder die „vernetzten Fahrzeuge“ auf, für die „zwölf Mitgliedsstaaten“ eine „Harmonisierung ihrer Regeln und Normen vereinbart haben“. Gab es sonst eigentlich keine ansprechbaren Themen, z.B. die Auswirkungen auf die Landwirtschaftsförderung – oder gilt die ohnehin als gesetzt? Bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union kann es ja nicht in erster Linie um die Vernetzung von Fahrzeugen gehen, so wichtig diese auch ist.
Konzentration der Kräfte – aber worauf?
„Weniger, aber effizienter“. „Szenario 4“ hätte für mich einigen Charme, aber nicht in der dargestellten Form. „Eine europäische Telekom-Behörde ist befugt, Funkfrequenzen für grenzüberschreitende Kommunikationsdienste freizugeben“, und wie könnte es sein, die braucht man „für die europaweite Nutzung vernetzter Fahrzeuge“. Als ich diesen Blog-Beitrag schreibe, sitze ich am Rande Europas und kämpfe ständig mit dem unzulänglichen Netz. Glaubt jemand bei der EU, dass ich flotter Informationen recherchieren und Beiträge einstellen könnte, wenn die Frequenzen durch eine EU-Behörde vergeben werden? Da fehlt mir doch das Vertrauen in Regulierungsbehörden, und ich setze auf die Marktmechanismen.
Auf den Markt scheint niemand in diesen Szenarien zu vertrauen. So heißt es bei „Szenario 5: Viel mehr gemeinsames Handeln“: „Dank gemeinsamer Investitionen in Innovation und Forschung entstehen mehrere europäische ‚Silicon Valleys‘“. Das ursprüngliche ‚Silicon Valley‘ entstand doch nicht durch staatliche Investitionen, sondern durch die Eigeninitiative genialer Tüftler, durch Fühlungsvorteile, die sich aus der räumlichen Nähe ihrer ‚Garagenbetriebe‘ ergaben. Weniger Bürokratie, die der Schaffenskraft freien Lauf lässt, und die Bereitstellung von Risikokapital für Start-ups, statt dem Verbrennen von Billionen € durch Mario Draghi würden hier mehr helfen als politische Absichtserklärungen.
Auch bei den Ausblicken wieder die gleiche Leier: Ein „Europäischer Währungsfonds“ muss her, der die „Juncker-Offensive“ unterstützt. Da haben wir es wieder: Juncker weiß schon, wohin die Fahrt gehen soll. Da bin ich allerdings gänzlich anderer Meinung. Ich sitze ungern bei einem politischen “Geisterfahrer” auf dem Beifahrersitz.
Wir müssen das Heft in die Hand nehmen
Ungeteilt zustimmen mag ich allerdings dem Schlusssatz: „Nur unser kollektiver Wille wird Europa voranbringen. Ebenso wie die Generationen vor uns haben auch wir die Zukunft Europas selbst in der Hand.“ Genau! Doch Papiere wie dieses sogenannte „Weißbuch“ und die Reden von Juncker & Konsorten bringen unser gemeinsames Europa nicht voran. Es geht nicht darum, dass sich in den europäischen Institutionen die Politiker und Beamten selbst beklatschen, nein, wir müssen mehr miteinander reden und nicht übereinander. Kontraproduktiv sind die ständigen Drohungen mit der Geldkeule gegen ‚widerborstige‘ mittel-osteuropäische Partner. Wir brauchen eine klare Ausrichtung der EU auf Themen, die nur gemeinsam gelöst werden können. Im Sinne der Subsidiarität brauchen aber auch die Regionen mehr Entwicklungsmöglichkeiten.
Ob wir alle im gleichen Tempo „marschieren“ oder eine Gruppe mal zügig weiterwandert, egal, wichtig ist es, dass wir ‘Hand in Hand’ gehen. Koalitionsbildungen in der Mitte Europas – Frankreich und Deutschland – führen nicht weiter, wenn wir die mittel-osteuropäischen Partner oder die iberische Halbinsel damit vor den Kopf stoßen.
Mit Herz und Vernunft
Im Zuge der Macron-Manie richten viele Politiker viel zu selten den Blick nach Osten. So betonte Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt 2011 in seiner Rede „Deutschland in und mit Europa“: „Jedenfalls bleibt die Zusammenarbeit mit Frankreich und Polen unerlässlich, mit allen unseren Nachbarn und Partnern.“ Dieses Gleichgewicht zwischen ‚westlichen‘ und ‚östlichen‘ Partnern lag auch Helmut Kohl immer am Herzen. Es macht keinen Sinn, sich mal diesen, mal jenen Lieblingspartner herauszugreifen. Und er fuhr fort: „Wir brauchen dafür europäische Vernunft. Wir brauchen aber Vernunft nicht allein, sondern ebenso ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Nachbarn und Partnern.“
Von „Herz und Vernunft“, von echter „Partnerschaft“, vom „schrittweisen Vorgehen“ bei der Integration, vom Mitnehmen der Menschen in unserer Gemeinschaft, von kultureller Vielfalt in einem einigen Europa spüre ich nichts in diesem „Weißbuch zur Zukunft Europas“. Im Übrigen handelt es sich um ein Weißbuch für die EU: Ganz vergessen, liebe Autoren, dass es auch noch andere europäische Staaten gibt? Die Europäische Gemeinschaft hat uns Jahrzehnte des Friedens und des Wohlstands ermöglicht, und beides haben die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam erarbeitet. Mag die Europäische Union vielleicht auch etwas zu hoch gegriffen sein, die Gemeinschaft müssen wir durch unsere gemeinsamen Anstrengungen erhalten.
Das Politikmodell der Verschleierung, das ein Teil der EU-Politiker noch immer pflegt, muss ersetzt werden: Nur mit offener Information und intensiver Kommunikation lässt sich unsere Gemeinschaft der europäischen Staaten in der Zukunft sichern. Das Führungspersonal passt nicht mehr zur EU der Zukunft und muss daher ersetzt werden. Ich zweifle nicht am europäischen Gedanken, aber an der EU-Führungsspitze!
7 Antworten auf „EU à la Juncker: Verschleierung als Politikmodell“