Wenn der Ordnungssinn ad absurdum geführt wird
Da öffne ich nichtsahnend nach der Rückkehr aus dem Schwarzwald einen Briefumschlag der Stadtverwaltung Esslingen, und schon weiß ich, dass ich ein wahrer Ordnungssünder bin: „wir haben festgestellt, dass an Ihrer Grundstücksgrenze zur öffentlichen Verkehrsfläche Efeu auf den Gehweg der Kelterstraße ragt und diesen verengt.“ Nun hatte ich schweren Herzens die Efeuranken schon vor dem Winter mal wieder gekürzt, wie ich dies immer tue. Und so sollte problemlos ein Kinderwagen für zwei kleine Insassen passieren können, und zwei normal gebaute erwachsene Erdenbürger sollten sich auch nicht im Efeu verheddern. Aber grüne Blätter haben eben keine Konjunktur! Wenn die Stadtverwaltung in Esslingen am Neckar doch mit gleicher Akribie den Müll beseitigen würde, den manche Zeitgenossen rund um die Altglascontainer aufhäufen! Und eine Woche nach Silvester stolperte man auf Gehwegen immer noch über die Hinterlassenschaften mancher knallbegeisterten Bürger. Da würde ich mir auch mal eine zackige Jagd auf Müllsünder wünschen! Aber es ist natürlich viel schlimmer, dass sich Efeupflanzen in die Sonne recken. Oder doch nicht?

Wenn der Amtsschimmel wiehert
Besonders amüsiert habe ich mich über die Belehrung zum Straßengesetz Baden-Württemberg, dass ich flugs alle Pflanzen ordentlich zurückschneiden müsse, die in einem gar trefflichen Satz gipfelte: „Somit gewährleisten Sie, dass die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs nicht mehr beeinträchtigt wird.“ Mit der „Leichtigkeit des Verkehrs“ ist das in Esslingen so eine Sache: Wir fahren seit Monaten auf dem Heimweg einen Rundkurs durch Esslingen, da die einzige Zufahrtsstraße gesperrt ist, und bald werden wir für sicherlich zwei Jahre auch nicht mehr den direkten Weg in die Stadt wählen können, denn dann wird der Kanal des Geiselbachs saniert. Bisher rollen wir mit 20 Stundenkilometern über eine notdürftig stabilisierte Oberfläche, damit wir nicht mit Bus oder Auto im verdolten Bach landen. Das Schreiben zu unserem Efeu kommt aus dem Technischen Rathaus: Ach hätte man sich in den letzten Jahrzehnten doch mit gleicher Sorgfalt um den Erhalt dieses Kanals gekümmert, dann müssten nicht tausende von Einwohnern und ihre Gäste Umwege fahren und zusätzliche Emissionen verursachen! Aber Briefe schreiben, das ist eben leichter, als zur richtigen Zeit Sanierungsmaßnahmen durchzuführen. So sieht man, welche Prioritäten den Amtsschimmel zum Wiehern bringen.

Dasselbe gilt auch für die Brücken über den Neckar! Die 1964 erbaute Hanns-Martin-Schleyer-Brücke muss gar abgerissen werden, so hinfällig ist sie. Anderswo gibt es Brücken, beispielsweise von Isambard Kingdom Brunel, die seit 150 Jahren ihren Dienst tun, aber eben regelmäßig unterhalten werden. In Bristol wurde die Brücke für Pferdefuhrwerke gebaut und heute befahren sie täglich 11 000 Pkw! Wer zur rechten Zeit an den Unterhaltungskosten spart, dem bröseln die Brücken eben unter dem Hintern weg!

Die StadtOase in der Betonwüste
Mit dem Grün in der Stadt ist es in der alten Reichsstadt am einstmals wilden Fluss ohnehin nicht gut bestellt. Da will die Stadtverwaltung z. B. im ‚Greut‘ Wohnungen bauen, obwohl dies gerade auch in Bezug auf das Stadtklima nicht unproblematisch ist. Der frühere Busbahnhof liegt als trostlose Asphaltwüste seit 2014 brach, und eine zwischenzeitliche Begrünung – bis zur mehrfach verschobenen Bebauung – wurde abgelehnt. Dafür stellte man im Vorfeld des neuen Busbahnhofs für einige Wochen eine ‚StadtOase‘ auf, um die Betonfläche ‚aufzulockern‘. Dort sitzen dann gerne Menschen mit Bierflaschen herum, aber für die Umwelt nutzt dieses ‚grüne Zimmer‘ mit einigen Pflanzen gar nichts.

Eine Meisterleistung der Stadtverwaltung ist auch gleich gegenüber der inkriminierten Efeupflanzen zu bewundern: dort sind Schilder mit eingeschränktem Halteverbot aufgestellt, doch wird stets fleißig darunter geparkt. Die Stadtverwaltung hat dies wohl noch nie moniert. Aber da geht es ja nicht um grüne Pflanzen, sondern um Falschparker – scheinbar ein ‚Kavaliersdelikt‘! So könnte sich die Stadtverwaltung die Schilder eigentlich gleich sparen – und der Steuerzahler sein Geld.

Heckenschere gegen Bienenweide
Wenn ich mir die Stadtpolitik anschaue, die wir seit fast 40 Jahren in Esslingen miterleben, zunehmend eher durchleiden, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Für mich ist es auch kein Wunder, dass unser Efeu die Stadtoberen – angeführt von SPD-Oberbürgermeister Jürgen Zieger und Baubürgermeister Wilfried Wallbrecht, Freie Wähler – mehr irritiert als der Müll, den man allenthalben bestaunen muss! Über Grün in der Stadt reden, das ist das eine, aber auch die letzte Grünfläche zuzupflastern, das ist das andere.

Statt dankbar für grüne Hecken zu sein, deren Beeren im Winter Amseln besonders erfreuen, wird ein Brief verschickt, der mich zur Heckenschere zwingt. Vom Insektensterben hat so mancher Beamte in der Esslinger Stadtverwaltung vermutlich ebenfalls noch nie etwas gehört, denn die Blüten sind im Herbst eine äußerst begehrte Bienenweide! Widerwillig werde ich den Efeu zurückschneiden, denn meine Zeit ist mir zu schade, um mich mit den Bütteln des 21. Jahrhunderts herumzuärgern. Aber ich werde mir dann doch erlauben, mittels eines Transparents auf den Grund des radikalen Bürstenhaarschnitts hinzuweisen. Eine Bienenweide hat eben vor den Augen der Obrigkeit zunehmend keine Chance! Schade! Diese Art der Bürokratie zerstört unser Land!
3 Antworten auf „Esslingen am Neckar: Grüner Efeu schlimmer als Müll?“