Geringe Wahlbeteiligung schwächt die neue Regierung
Es ist schon ein Phänomen, in welcher Geschwindigkeit es Emmanuel Macron gelang, sich selbst an die Spitze Frankreichs zu katapultieren und dann auch noch ein ihm ergebenes Parlament wählen zu lassen. Monsieur Zeitgeist drückte nicht nur die bisher führenden Parteien an den Rand des Geschehens, sondern rekrutierte innerhalb weniger Wochen per Internet auch noch genügend Interessenten für einen Parlamentssitz. Und man will es kaum glauben, die Wählerinnen und Wähler verschafften ihnen dazuhin eine Mehrheit in der Nationalversammlung. Bitter ist allerdings die mit 43 % geringste Wahlbeteiligung seit 1958, als die Fünfte Republik gegründet wurde. Schon jetzt ist erkennbar, die wahre Opposition wird nicht im Parlament antreten, sondern auf der Straße marschieren.
Politische Kultur im Umbruch
Wenn man über den Atlantik schaut, dann sitzt dort ein Politneuling im Weißen Haus, und dies dank eines auf Twitter basierenden Wahlkampfs: Twitter ermöglichte Donald Trump einen direkten Zugang zu seinen Wählerinnen und Wählern, denen Informationen in 140-Zeichen-Häppchen genügten. Südlich der Alpen verkehren die Mitstreiter der „Fünf-Sterne-Bewegung“ von Beppo Grillo gerne über einen Blog miteinander. Auf der anderen Seite des Rheins nun das Internet als Basis für die Suche und Gewinnung von Parlamentskandidaten. Sucht man sich seine Kandidaten per Internet, dann reicht eine kleine Auswahlkommission. Man spart sich Nominierungsparteitage und endlose Programmdiskussionen. Und so passt seine Truppe ja auch zu seiner Startaufstellung bei „En marche!“, wo er vor der Präsidentschaftswahl im Internet jeden, wirklich jeden als Mitstreiterin oder Mitstreiter willkommen hieß. Über 15 000 Interessensbekundungen gingen ein, als Kandidatin oder Kandidat für das französische Parlament anzutreten, häufig von Bewerbern ohne jede politische Erfahrung, aber Macron zog auch frühere Führungspersonen aus den etablierten Parteien zu seiner Partei „La République en Marche“ herüber.
Streitereien vorprogrammiert
Wenn man politische Ränkespiele auf Parteitagen kennt, dann muss man eigentlich viel Verständnis haben für die Vorgehensweise von Macron. Doch es kommt mit Sicherheit noch das große ABER: Die Streitereien um Sitze und Programm werden gewissermaßen auf die Zeit nach der Wahl verlagert. Zusammengefunden hat sich nun ein buntes Völkchen, das sich erst zusammenraufen muss, und dies während der dann schon angelaufenen Parlamentsarbeit. Auch Macron wird dies noch zu spüren bekommen. Mögen auch noch so edle Gefühle seine Mannschaft zusammengeführt haben, im politischen Tagesgeschäft werden die menschlichen und weltanschaulichen Differenzen sich Bahn brechen.
Drei Viertel der Abgeordneten in der Nationalversammlung sind neu: Häufig nicht nur zum ersten Mal im Parlament, sondern auch politische Neulinge. Wenn ich mir die Verweildauer vieler deutscher Politiker in ihren Ämtern anschaue, dann würde etwas frische Luft hin und wieder nicht schaden. Aber in Frankreich wird es vielen Parlamentariern schwerfallen, den Reformprozess mitzugestalten, der Macron vorschwebt. Die Abhängigkeit vom Fachwissen der Beamtenschaft ist – bei eigener Unkenntnis der Materie – noch ausgeprägter, und dies in einem Moment, wo der neue Präsident die überbordende Zahl der Staatsdiener reduzieren möchte.
Wahlsystem ermöglicht Mehrheit
Generell wirft der Erfolg Macrons die Frage nach der politischen Kultur auf. Hier unterscheidet sich Frankreich von Deutschland, da es immer wieder politische Umschwünge gab, die sich deutlicher als in unserem Land im Parlament niederschlugen. Selbstredend kommt hier auch dem Mehrheitswahlsystem eine entscheidende Rolle zu. Nur wer im ersten Wahlgang einen Parlamentssitz mit mehr als 50 % der Stimmen gewinnt oder im zweiten Wahlgang mit einfacher Mehrheit seinen Platz im Parlament ergattert, vertritt die Bürgerinnen und Bürger. Somit ist das Wahlsystem in Frankreich – wegen der zwei Wahlgänge – etwas komplizierter als in Großbritannien, doch es benachteiligt wie das britische Wahlrecht die kleineren Parteien ohne regionale Schwerpunkte. Mögen Parteien auch 5 oder 10 % über das Land gerechnet auf sich vereinigen, sie bleiben dennoch bedeutungslos, wenn sie keinen Parlamentssitz direkt erkämpfen.
Bei dieser Wahl ist besonders hervorzuheben, dass nicht nur kleineren Parteien der Einzug in die Nationalversammlung verwehrt wurde, sondern auch die Republikaner und Sozialisten geradezu abstürzten. Zwei von Macrons Gegnern aus der Präsidentschaftswahl, die rechtspopulistische Marine Le Pen vom Front National, und der Sozialist Jean-Luc Mélenchon vom Unbeugsamen Frankreich, gelang der Sprung in die Nationalversammlung.
Zwar sah ich früher eher die Vorteile des Mehrheitswahlsystems, da es zumeist deutlichere Mehrheiten für die jeweilige Regierung schafft, aber auch dies muss nicht immer der Fall sein, wie Theresa May im Vereinigten Königreich am eigenen Leib erleben musste: Das Vorziehen der nächsten Unterhauswahl wurde zum selbst verschuldeten Debakel. Heute kommen für mich stärker die Vorteile des Verhältniswahlrechts zum Tragen, das die Wünsche und Interessen der Wählerschaft besser abbildet. Häufig bleibt den Parteien dann nichts anderes übrig, als Koalitionen zu bilden.
Reformstau auflösbar
Aber nun zurück nach Frankreich. Nicolas Baverez schrieb bei welt.de im Mai 2016: „Statt sich langsam zu erholen, steuert Frankreich auf einen Zusammenbruch zu, obwohl Lösungen für die vorhandenen Probleme bestens bekannt sind: die Verbesserung der Unternehmensmargen zur Förderung von Innovation, Flexibilität der Arbeit, die Überholung des Bildungssystems, eine Reduzierung des 5.640.000 Personen umfassenden Beamten-Apparats und der öffentlichen Ausgaben, die bei 57 % und damit 5% des BIP liegen, und in einer Reinvestitition in hoheitliche Aufgaben, um den zivilen Frieden wiederherzustellen.“ Zwar ist der „Zusammenbruch“ zum Glück ausgeblieben, aber seine Problemzusammenstellung trifft ins Schwarze. Seit Jahren sind in unserem Nachbarland strukturelle Reformen in Wirtschaft und Sozialbereich unterblieben. Ansätze zu einem flexibleren Arbeitsmarkt wurden im Regelfall von den linksorientierten Gewerkschaften – nicht selten auch mit gewalttätigem Widerstand – gestoppt.
Die Wählerinnen und Wähler haben Macrons La République en Marche und des ihn unterstützenden Mouvement démocrate zwar eine deutliche Mehrheit in der Nationalversammlung gesichert, die zentrale Reformen ermöglichen kann, aber welche konkreten Ziele hat er eigentlich? Bisher dominierten allgemeine Aussagen um nicht zu sagen Floskeln. Christian Schubert unterstreicht auch in der FAZ (12.6.17): „Wer zur Wahl ging, will vor allem neue Gesichter in einer Regierung, die Reformen umsetzt. Welche Reformen genau, ist nicht in allen Punkten klar, weil Macrons Programm noch Fragen offen läßt. Die Zeit der Klärung kommt nach dem zweiten Wahlgang…“
So wie Macron selbst nur eine Mehrheit als Präsidentschaftskandidat erhielt, da die Wähler die Rechtspopulistin Le Pen nicht im Elysée Palast einziehen sehen wollten, so ist auch seine Mehrheit im Parlament ein Vorschuss an Vertrauen für die Zukunft. Denn sein Programm ist bisher alles andere als ausgefeilt.
Minderheit wird zur Mehrheit
Bedenklich ist für mich die geringe Wahlbeteiligung, denn wer seine Stimme nicht abgibt, der fühlt sich im Regelfall auch kaum an später folgende politische Entscheidungen gebunden. Wenn nur rd. 43 % der Wahlberechtigten beim zweiten Wahlgang den Weg ins Wahllokal eingeschlagen haben, dann lässt dies tief blicken. Rechnen wir noch alle die hinzu, die zwar wählten, die sich aber dank des Mehrheitswahlsystems nicht in der Nationalversammlung repräsentiert fühlen, dann wird deutlich: Hinter Emmanuel Macron steht bei weitem keine Mehrheit der Franzosen. So wiederholte sich bei der Abstimmung zur Nationalversammlung das gleiche „Spiel“ wie bei seiner Wahl zum Präsidenten: Es gibt keine breite Mehrheit der Franzosen, die ihn, seine Bewegung oder seine Partei tragen.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Natürlich handelt es sich um demokratische Wahlen, und selbstredend kann jeder Wahlberechtigte den sonnigen Sonntag auch am Strand, im Garten, in einem Park oder in einem Café verbringen. Aber alle, die abseits standen oder deren Stimme dank des Wahlsystems unberücksichtigt blieb, werden kaum zögern, Macrons Reformwillen zu bremsen.
Die wahre Opposition wird sich wieder auf den Straßen und Plätzen versammeln und versuchen, dem Präsidenten den Weg zu einem reformierten Frankreich zu versperren. Die Kampfkraft der linksorientierten Gewerkschaften sollte nicht unterschätzt werden. Belege aus den letzten Jahren und Jahrzehnten gibt es hierfür genügend. Auch ich hoffe, dass es Macron gelingen möge, Frankreich, unser Nachbarland, aus den wirtschaftlichen Niederungen herauszuführen. Aber die teilweise euphorischen Aussagen deutscher Politiker und Journalisten kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht teilen.
Mit Interesse verfolge ich schon seit einiger Zeit Ihre Blog-Beiträge. Sie verleihen immer wieder Ihrer Skepsis Ausdruck, dass unser Nachbarland Frankreich mit Emmanuel Macrons Politik auf einem guten Weg sei. Im weiten deutschen Blätterwald der veröffentlichten Meinungen stehen Sie damit so ziemlich alleine da. Für Frankreich hoffe und wünsche ich, dass Sie Unrecht haben!
Ich denke, es ist falsch, von vorne herein Macrons Politikstil, seine tatsächlich ungewöhnliche, unorthodoxe Art, Politik zu betreiben oder seine „Mannschaft“ zusammenzustellen, so negativ zu beurteilen. Neue, frische, bisher unbekannte Gesichter, von allen möglichen Affären oder (persönlichen) Defiziten unbelastete Kandidaten (auch per Internet) für seine „Bewegung“ zu rekrutieren und nun, nach der Wahl auch mit Regierungsämtern zu betrauen, ist sicher risikoreich, mag befremden, doch bietet eben diese außergewöhnliche Vorgehensweise auch Chancen: „neue Besen“, ganz andere Charaktere, Menschen, die sich beim „Marsch durch die Institutionen“ des französischen Politikbetriebs noch nicht verschlissen haben, die frei sind von parteipolitischen Bindungen, ja „Seilschaften“, erhalten in Frankreich nun die Chance, die anstehenden großen, schwierigen Aufgaben anzupacken, jenseits von Parteiräson, nur der Sache zugetan und ihr Bestes gebend … Ein Wunschdenken?
Vielleicht trägt mich auch der naive Glaube an uneigennützige Hingabe des Politikers an die (gute) Sache, und es mag ja auch so manche Berechtigung geben für die feste Verankerung des Politikers in „seiner“ Partei. Die Väter des Grundgesetzes haben sehr wohl gewusst, dass „Expertenkabinette“ wie in der Weimarer Republik genauso gut in die Irre führen können. Und es hat der bundesrepublikanischen Demokratie ja durchaus Stabilität und Erdung verliehen, dass viele Diskussionen um den „richtigen Weg“ bereits innerhalb der Parteien durchgefochten worden waren, bevor es ans Regieren ging. 70 Jahre friedliche Entwicklung waren so gewährleistet. Die Kehrseite dieses Systems sind die allbekannten Politränkespiele, Parteiengekungel, Partei-Feindbilder, Reformstau, Unbeweglichkeit usw. weil man in (Koalitions-)Regierungen der guten Sache willen nicht über seinen Schatten springen will oder kann.
Die Menschen auf der gegenüberliegenden Seite des Rheins hoffen – wenigstens die, die ihre Stimme für Macron abgegeben haben – auf frischen Wind in der französischen Politik, auf sachbezogene, problemorientierte Lösungen für die vielfältigen Aufgaben in unserm Nachbarland. Auch wir sollten, trotz aller sicher auch berechtigter Skepsis, Macrons neuem Politikstil eine Chance einräumen, vor allem aber auf seinen Erfolg hoffen, denn einen Misserfolg kann sich Frankreich, kann sich Europa nicht leisten.