Frankreich und Europa brauchen keine visionären Sprechblasen
Der französische Präsident Macron verliert zu Hause immer stärker an Zustimmung bei seinen Bürgerinnen und Bürgern, doch dies scheint ihn anzustacheln, die Nachbarn mit seinen visionären Wolkenkuckucksheimen zu beglücken. Er schmeichelt nicht nur unserer ansonsten weitgehend emotionslosen Bundeskanzlerin, und Angela Merkel bekommt ein Küsschen hier und da, und darf in Compiègne schon mal ihren Kopf an seine Schulter legen. Emmanuel Macron hat alle paar Tage Ratschläge für uns Deutsche, für die Europäer und die Welt, doch auf französischem Boden streift die Bürgerschaft gelbe Warnwesten über: Die Politik in Frankreich unter Macron scheint mal wieder eine Panne zu haben. Aber was soll das auch, das bringt doch einen wie Emmanuel nicht aus der Ruhe, der Marschall Pétain als „grand soldat“ bezeichnet, obwohl dieser als Nazi-Kollaborateur die Deportation jüdischer Mitbürger von französischem Boden in NS-Vernichtungslager ermöglichte. Und dieser unverzeihliche historische Fehlgriff hält ihn auch nicht davon ab, zum Volkstrauertag eine Rede im Deutschen Bundestag zu halten.
Geschichtsklitterung à la Macron
Macron hat ein Händchen dafür, immer dann eine neue Vision in die europäische Öffentlichkeit zu tragen, wenn zu viele BürgerInnen bemerkt haben, dass die vorhergehende Macron‘sche Sprechblase bereits geplatzt ist. So verstand es der französische Präsident, das Gedenken zum Ende des Ersten Weltkriegs zu nutzen, um sein Ansehen wieder aufzupolieren, doch ich halte es für eine unverzeihliche Fehleinschätzung, wenn er Marschall Philippe Pétain als „großen Soldaten“ bezeichnet. Macron wörtlich: „le Maréchal Pétain a été un grand soldat“. Die militärischen Leistungen Pétains im Ersten Weltkrieg sind das eine, doch er war während der nationalsozialistischen Besetzung weiter Teile Frankreichs im Zweiten Weltkrieg ein Kollaborateur und unterstützte die Deportation zehntausender von Juden in NS-Vernichtungslager. Immerhin wurde Pétain nach dem Krieg als Chef des Vichy-Regimes von einem französischen Gericht zum Tode verurteilt, und er hatte es dem damaligen provisorischen Regierungschef General Charles De Gaulle zu verdanken, dass das Urteil in eine lebenslängliche Haft umgewandelt wurde.
Wenn man Macrons neuer Geschichtsschreibung folgen würde, könnte man mit gleicher Berechtigung Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg reinwaschen, obwohl er sich zum Steigbügelhalter Adolf Hitlers machte. Dies hielte ich allerdings für völlig abwegig. Generell kamen mir bei den Gedenkfeierlichkeiten die Politiker zu kurz, die am 11. November 1918 den Waffenstillstand unterschrieben und damit einen barbarischen Krieg beendeten. Von deutscher Seite tat dies der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der damit auch sein eigenes Todesurteil unterzeichnete. Rechtsextremistische Killer ermordeten ihn 1921 nach einer perfiden Hetzkampagne. So wäre es – am Rande bemerkt – angebracht, die ‚Hindenburg‘-Straßenschilder abzuhängen und diese Straßen und Plätze Erzberger zu widmen.
Die nächste Luftnummer in Macrons Historienstadel
Und schwupps, Macron wäre nicht Macron, hätte er nicht schon das nächste Geschichtsthema für seinen Historienstadel zur Hand: Er propagiert die Rückgabe von Kulturgütern, die in vergangenen Jahrhunderten aus anderen Kontinenten nach Frankreich gelangten. Selbstverständlich sehe auch ich es als ein wichtiges Thema an, die Herkunft von Kunst- und Alltagsgegenständen zu klären, die z.B. während der Kolonialzeit in europäische Länder verschifft wurden. So verstärken deutsche Museen ebenfalls ihre Provenienzforschung – und dies ist zu begrüßen. Aber Macrons Gangart möchte ich nicht mitgehen: Zack, zack wird eine Studie ausgearbeitet und schon hat Macron die Lösung zur Hand: Rückgabe an die heutigen Staaten, aus denen damals Kunstgegenstände – unter zum Teil zwielichtigen Umständen – nach Europa kamen. Folgten alle Macrons Sicht der Dinge, dann würden sich sehr schnell die völkerkundlichen Sammlungen leeren. Macron fragt nicht, was aus vielen kulturell wichtigen Objekten geworden wäre, hätten sie die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte in Regionen verbracht, die regelmäßig von Bürgerkriegen überzogen wurden. Vieles wäre zerstört – man denke nur an die von Taliban in Afghanistan durch Beschuss mit Panzern und Raketen vernichteten Buddha-Statuen von Bamiyan. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vernichtete im syrischen Palmyra u.a. den 2000 Jahre alten Baal-Tempel. Und nicht nur aus dem Irak wanderten viele kulturell bedeutsame Objekte auf den Schwarzmarkt: Der IS machte den Raub von Kulturgütern zum Geschäftsmodell.
Vielleicht wäre es ratsam, wenn wir ein sachgerechtes Konzept für den Umgang mit Kulturgütern aus ehemaligen Kolonialgebieten – und dies möglichst auf EU-Basis – erarbeiten würden. Aber das scheint so gar nicht der Stil Macrons zu sein: Problem erkannt, Problem zerredet, so könnte sein Motto lauten. Zumeist folgen dem medialen Aufschlag keine praktikablen und von der Bürgerschaft akzeptierten Umsetzungsschritte. Wäre es nicht eine Überlegung wert, im Gegenzug zu einstmals nach Europa gewanderten Kulturgütern interessante Objekte aus der französischen oder deutschen Geschichte den Ursprungsregionen anzubieten? Verbunden damit könnten wir umfassende Unterstützung beim Aufbau von Museen in den jeweiligen Staaten anbieten. Große Hoffnung habe ich nicht, dass Macron an langfristigen Projekten interessiert ist, denn morgen hat er schon eine neue Vision.
Macron ruft nach „europäischer Armee“ – und keiner kommt
Zu seinen visionären Lieblingshits gehört „eine wahre europäische Armee“, wo doch Frankreich nicht gerade vor Begeisterung übersprudelt, wenn es um die Weiterentwicklung der Deutsch-Französischen Brigade geht! „On ne protégera pas les Européens si on ne décide pas d’avoir une vraie armée européenne“, hört sich in einem Interview mit dem Sender Europe 1 sehr visionär und staatstragend an, doch wie so oft handelt es sich – um im Militärjargon zu verbleiben – um eine Blendgranate. Die Behauptung, wir Europäer könnten uns nur schützen, wenn wir über eine „wahre europäische Armee“ verfügen, halte ich schlichtweg für falsch. Unterhalb der Schwelle einer gemeinsamen Armee gibt es vielfältige Möglichkeiten zur Kooperation. Im Grunde war die Gründung der Deutsch-Französischen Brigade ein wichtiges Zeichen für das noch engere Zusammenrücken der über lange Zeit verfeindeten Staaten, und auch daraus hätte sich der Nukleus einer übergreifenden europäischen Armee ergeben können. Francois Mitterand und Helmut Kohl hatten 1987 bei einem Gipfeltreffen die Gründung eines binationalen Verbandes beschlossen, und so wurde 1989 im baden-württembergischen Böblingen die Deutsch-Französische Brigade aufgestellt. Damals ging es um konkrete Schritte zu mehr Zusammenarbeit der einstmals verfeindeten Nachbarstaaten, heute ergeht sich Macron dagegen in allgemeinsten Visionen.
Die Deutsch-Französische Brigade ist ein Musterbeispiel dafür, dass es Macron nicht um Verbesserungen bestehender Institutionen geht, sondern um schnell skizzierte Entwürfe für eine Zukunft, die fast niemand möchte. Ich wundere mich schon, dass die französischen und deutschen Soldaten bis heute nicht gemeinsam zum Einsatz kommen: In Afghanistan und Mali ist zwar auch die Deutsch-Französische Brigade engagiert, doch trotz des gleichen Landes übernehmen sie völlig andere Aufgaben. Dies ist allerdings den Entscheidungen in den jeweiligen Regierungen und Parlamenten geschuldet. Hier hätte es genügend Ansatzpunkte für mehr Gemeinsamkeit gegeben, wenn die Politik dies gewollt hätte und erst recht gilt das für Afghanistan.
Macron hat wenig Lust, an einem bereits fahrfähigen Panzer zu arbeiten und die eine oder andere Reparatur vorzunehmen – um im Bild zu bleiben -, stattdessen möchte er gerne ein visionäres Vehikel entwickeln. Prinzipiell würde nichts gegen diese Vorgehensweise sprechen, wenn nicht der Zweifel bliebe, dass Macrons Visionen nur von der Unfähigkeit ablenken sollen, den realen Problemen gerecht zu werden und diese zu lösen. Dass sich jetzt ausgerechnet Angela Merkel mit Macron auf das Visions-Pferd einer „europäischen Armee“ geschwungen hat, irritiert mich, denn bisher hatte sie sich europapolitischen Visionen verwehrt. Ausgerechnet auf der letzten Kanzlerinnen-Etappe kredenzt sie unseren europäischen Partnern und ihren deutschen Mitbürgern ein nicht bestelltes Menü: obwohl die anderen noch am schwer genießbaren Migrationsproblem zu kauen haben.
Macrons Motor stottert: Hunderttausende im Pannen-Modus
Wenn ich einzelne Autofahrer in gelben Westen hinter der Leitplanke sehe, dann bedauere ich diese Opfer von Pannen oder sonstigem Unbill immer, denn wer möchte schon am Straßenrand liegenbleiben. Aber wenn Hunderttausende mit gelben Westen Straßen und Plätze besetzen und den Verkehr behindern, dann scheint es sich doch um eine größere politische Panne zu handeln. Die Erhöhung der Spritpreise brachte das Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen, und die wütenden Rufe richten sich gegen Macrons Politik. Immer mehr Franzosen werfen ihrem Präsidenten vor, er sei nur am Wohlergehen der Reichen interessiert, aber die breiten Schichten habe er vergessen. Sicherlich waren und sind Reformen, z.B. bei Sozial- und Arbeitsgesetzen, notwendig, doch dem Husch-Husch-Visionär fehlt die Lust an der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Auf den ersten Blick mögen Macron und Merkel sehr unterschiedliche politische Vorstellungen haben, jedoch verbindet sie der Widerwille, sich in Debatten und Diskussionen zu begeben, die man nicht selbst steuern kann. So trug der französische Präsident seine europapolitischen Phantasien auch lieber einem ausgewählten Kreis von Zuhörern an der Sorbonne vor als diese im Parlament oder mit kritischen Gruppierungen zu diskutieren. Und Angela Merkel blieb ihrer Linie treu, politische Wegmarken lieber bei einer Veranstaltung der Zeitschrift „Brigitte“ (Ehe für alle) oder in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Europa) zu setzen als im XXL-Bundestag. So gleicht es einer Farce, wenn Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag betonten: „Der Deutsche Bundestag muss der zentrale Ort der gesellschaftlichen und politischen Debatte in Deutschland sein.“ Genau! – aber davon ist leider nichts zu spüren! Die Kommunikation der Regierenden in Frankreich und Deutschland ist durchaus verbesserungsfähig. Die ‚Gelben Westen‘ in Frankreich sind nur ein neues Symptom für die alte Krankheit: Immer mehr Menschen haben zurecht den Eindruck, dass ihre Anliegen nicht wahrgenommen werden. Ein Musterbeispiel ist die unterbliebene gesellschaftliche Diskussion des Migrationspakts.
Neue EU-Budgettöpfe bringen nicht mehr Gemeinsamkeit
Auch beim europäischen Arbeitslosenfonds handelt es sich um eine Idee Macrons, die zumindest in Deutschland wenig Anhänger hat. Mal abgesehen vom Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der allerdings als Erster Bürgermeister in Hamburg während des G 20-Gipfelsnicht in der Lage war, seine BürgerInnen vor dem wütenden Mob des Schwarzen Blocks zu schützen. Aber nicht nur die ‚Gelben Westen‘ sollten Macron verdeutlichen, dass er sich mit seiner Sozial-, Arbeitslosen- und Arbeitsmarktpolitik doch besser zuerst auf sein eigenes Land konzentrieren sollte.
Eine europäische Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen würde Sinn machen, wenn sich die wirtschaftlichen Gegebenheiten bereits angenähert hätten und die Reformwilligkeit in allen EU-Mitgliedsstaaten gleich ausgebildet wäre. Ansonsten wird aus einem solchen Fonds sehr schnell ein kostspieliger und gefährlicher weiterer Umverteilungsmechanismus, der die Reformwilligkeit – z.B. in Italien – noch weiter erlahmen lässt. So hat auch die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer beispiellosen Billionen-EURO-Geldschwemme und ihrer Nullzinspolitik nicht zu mehr Reformen oder einer Stabilisierung in Italien geführt, sondern ganz im Gegenteil. Die italienische Regierung von Fünf-Sterne-Bewegung und Lega tanzt jetzt auf dem EU-Tisch und versucht, sich weiter mit noch mehr Schulden im Staatshaushalt durchzumogeln. Wer die Regierung in Rom kritisiert, der müsste eigentlich Mario Draghi attackieren, den Präsidenten der EZB, der seinen italienischen Landsleuten den Eindruck vermittelte, Reformen seien unnötig, da sie die EZB schon vor der Staatspleite bewahren werde. Aber wie Draghi so möchte auch Macron gerne mit anderer Leute Geld Probleme in Europa übertünchen statt diese in kleinen Schritten zu beheben.
Vielleicht hat Macron keine Probleme damit, ein finanzträchtiges Thema nach dem anderen in die Visions-Schlacht zu werfen, denn als früherer Investmentbanker ist er es ja gewohnt, die Milliarden hin und her zu schieben: Und die eigenen Risiken werden minimiert, da es sich mal um das Geld von Anlegern, mal um das der Steuerzahler handelt. In dieses Feld gehören auch ein eigenes Budget für die EURO-Zone – oder gar ein eigener Finanzminister. Skurril ist es, wenn in Deutschland Teile der Medien und manche BürgerInnen dem Bewerber für den CDU-Vorsitz, Friedrich Merz, seinen Aufsichtsratssitz bei BlackRock vorhalten, obwohl Macron in deutschen Landen weniger Kritik entgegenschallt und der frühere Investmentbanker manchem schon fast als europapolitischer ‚Heilsbringer‘ erscheint. Macron hat jedoch bis heute nicht erkannt, dass neue Budgettöpfe nicht zu mehr Gemeinsamkeit führen.
Macron spaltet statt zu einen
Als überzeugter Europäer würde ich gerne Macrons Vorschlägen für eine Weiterentwicklung der Europäischen Union zustimmen, wenn sie nur ein wenig konkreter wären. Im September 2017 verkündete Macron an der Sorbonne vor einem erlauchten Kreis, während die Demonstranten vor der Tür wenig mit seiner Politik am Hut hatten: “Wir müssen ein souveränes, geeintes und demokratisches Europa neu gründen, wieder gründen. Haben wir den Mut, uns diesen Weg zu bahnen.“ Ein „demokratisches Europa neu gründen“? So undemokratisch kommen mir Europa bzw. die EU nicht vor. Mit Macron bin ich einig, wenn er die Ineffizienz mancher Prozesse in der EU beklagt, und dies sehen sicherlich viele EuropäerInnen so, aber dann sollten wir uns an die Beseitigung der Mängel machen. Doch dazu hat der französische Präsident keine große Lust, er strebt nach Höherem: ein neues Europa ist noch das Mindeste.
Im Deutschen Bundestag erklärte Macron: „Wir haben das deutsch-französische Gespann zur treibenden Kraft eines geeinten Europas gemacht, dem nach und nach Partner beigetreten sind, die im Laufe der Geschichte mal unsere Verbündeten, mal unsere Feinde gewesen waren“. Die engen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland sind auch aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung für Europa, doch klingen die Aussagen Macrons nicht nur bei diesem Anlass immer nach einer Zurücksetzung anderer europäischer Staaten. So hätte ich mir in den Reden Macrons deutlichere Aussagen gewünscht, dass wir in Europa nur alle gemeinsam vorankommen. „Und dennoch ist die neue deutsch-französische Verantwortung genau hier gefragt: beim Aufbau einer modernen, effizienten, demokratischen Souveränität. Und das kann nur von uns ausgehen.“ Wie? Warum kann eine übergreifende europäische Souveränität – wenn diese überhaupt gewollt wird – nur von „uns“ ausgehen? Mit solchen Äußerungen schiebt Macron unsere mittel-osteuropäischen Nachbarn an den Rand Europas, wo sie weder hingehören noch sich wohlfühlen. In Macrons Reden wohnt der Spaltpilz, der Europa so zu schaffen macht. Und zu dieser Spaltung hat auch Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik maßgeblich beigetragen.
Lassen wir nochmals Macron zu Wort kommen: „Diese neue deutsch-französische Herausforderung besteht darin, Europa mit den notwendigen Instrumenten für diese neue Erfindung, für seine Souveränität, auszustatten.“ Da werden sich unsere Partner aber freuen, wenn sie nun aus französisch-deutscher Hand mit „den notwendigen Instrumenten“ für die Neugestaltung Europas beglückt werden! Es geht doch nicht darum, unsere europäischen Freunde mit neuen europapolitischen „Instrumenten … auszustatten“, sondern unseren europäischen Kontinent – oder zumindest die EU – gemeinsam fortzuentwickeln. Ich dachte immer, wir Deutschen hätten einen Hang zum Oberlehrer, doch dieser Wesenszug ist bei Macron noch deutlicher ausgeprägt.
„Deutsch-französisches Paar“ ist nicht die Lösung
Wie interpretieren unsere europäischen Mitbürger in Polen und Ungarn, in Griechenland oder Italien, in Spanien oder Portugal, in Österreich oder den Niederlanden, um nur diese zu nennen, Macrons Aussagen? Ich sehe die große Gefahr, dass sie sich nicht an der französisch-deutschen Zweisamkeit erfreuen, sondern sie als wirtschaftliche und politische Bedrohung interpretieren. „Europa und in dessen Mitte das deutsch-französische Paar hat die Pflicht, die Welt nicht ins Chaos abdriften zu lassen und sie auf dem Weg des Friedens zu begleiten.“ Die Europäische Union habe ich mir als eine Vereinigung gleichgestellter Partner vorgestellt und nicht als ein ‚Traumpaar‘ mit streitenden Verwandten.
„Denn um Europa voranzubringen, müssen wir auch unterschiedliche Rhythmen und Bündnisse akzeptieren“, so Macron im Deutschen Bundestag. Unterschiedliche Geschwindigkeiten halte auch ich für überschaubare Zeiträume für möglich, aber von Bündnissen innerhalb der EU würde ich nicht sprechen wollen. Schon gar nicht vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte. „Wir müssen akzeptieren, dass der eine oder andere ein Projekt oder eine Kooperation startet – das galt für Schengen oder auch für den Euro. Aber immer im Sinne der gegenseitigen Offenheit und unter Berücksichtigung der Interessen eines vereinten Europas. Unsere Souveränität muss auch aus unserer Stärke erwachsen.“ Stärke kann jedoch nur aus der EU oder unserem ganzen Kontinent erwachsen, wenn wir gemeinsam voranschreiten, und auf dem Marsch dürfen wir keinen Partner verlieren. Ansonsten werden weitere EU-Mitglieder – wie jetzt das Vereinigte Königreich – das Weite suchen.
In welcher Welt lebt Macron?
Erfreut bin ich über Macrons Worte zum französisch-deutschen Verhältnis im Deutschen Bundestag, die in seinem Dank gipfelten „an diesem geschichtsträchtigen Ort im Namen des französischen Volkes unsere unerschütterliche Freundschaft zu dem deutschen Volk zu bekräftigen“. Dieses Gefühl der engen Verbundenheit ist auch mir sehr wichtig. Doch wir dürfen – wie ich bereits betont habe – diese Verbundenheit nicht zum Spaltpilz werden lassen, der uns von anderen europäischen Nationen trennen könnte.
Ganz sicher bin ich mir beim französischen Präsidenten nicht, ob er die Realitäten in Europa – und in seinem eigenen Land – richtig einschätzt. So sagte er im Bundestag, „dass wir gemeinsam, dessen bin ich mir sicher, ein neues Kapitel der Geschichte Europas aufschlagen werden, auf das Europa wartet und das Europa so dringend braucht.“ Wartet denn Europa wirklich darauf, dass wir ein neues Kapitel aufschlagen? Ich glaube dies nicht! Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir vor einem neuen Kapitel zuerst einmal die Aufgaben des jetzt aufgeschlagenen Kapitels lösen. Ich kann nicht erkennen, dass die EU-Mitgliedsstaaten wirklich mehr Souveränität nach Brüssel und Straßburg abgeben wollen. Stattdessen erwarten die Europäer die Lösung der bisher nicht gelösten Probleme.
Wenn Ziele im Unendlichen liegen
Wir müssen derzeit auch keine Souveränitätsrechte an die EU abgeben, sondern wir brauchen mehr Dialog, eine Fokussierung auf zentrale europäische Fragestellungen und neues politisches Personal. Zwar sind die Tage des Altmeisters der Vernebelungstaktik als EU-Kommissionspräsident gezählt, doch auch nach dem Abgang des müde-tranigen Jean-Claude Juncker brauchen wir eine Konzentration auf das politisch derzeit Mögliche und keine visionären Sprechblasen von Emmanuel Macron. Der frühere deutsche SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt meinte einst: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Ganz so sehe ich dies nicht, aber Visionen tragen in der Politik nur Früchte, wenn sie in gangbare Umsetzungsschritte herunter gebrochen werden, denn ansonsten werden die Anhänger des Visionärs bald von ihm abfallen oder pessimistisch durch die Welt irren.
Ein Landsmann von Macron, der französische Soziologe Emile Durkheim, unterstrich in seinen Vorlesungen an der Pariser Sorbonne in den Jahren 1902/03: „Damit uns die Tätigkeit Freude macht, müssen wir fühlen, daß unsere Tätigkeit zu etwas nutzt, d.h. daß sie uns dem erwünschten Ziel näherbringt. Aber man nähert sich keinem Ziel, das im wahrsten Sinn im Unendlichen liegt. Der Abstand bleibt immer der gleiche, wieweit man auch geht. Gibt es etwas Enttäuschenderes, als auf ein Ziel loszugehen, das nirgends liegt, weil es in dem Maß zurückweicht, wie wir uns vorwärtsbewegen?“
Emmanuel Macron hat mit seiner Bewegung ‚En marche!‘ eine hohe Mobilisierung erreicht und diese in eine Parlamentsmehrheit für seine flugs gegründete Partei ‚La République en Marche‘ transformiert. Er hatte Glück, dass er sich gewissermaßen zum ersten Internet-Präsidenten aufschwingen konnte, da seine Gegnerin Marine Le Pen ihm unterschiedlichste Wählergruppen zutrieb. Viele wählten nicht Macron aus innerster Überzeugung, sondern sie wollten die Chefin des rechtslastigen Front National nicht im Elysée-Palast sehen. Inzwischen wird Macron jedoch nicht an der gegnerischen Kandidatin gemessen, sondern an seinen politischen Erfolgen. Und da sieht es in Frankreich und in Europa doch eher düster aus.
Für mich ist Emmanuel Macron ein Blender, der seinen Charme gezielt als politisches Mittel einsetzt. Doch im Grunde führen uns in Europa seine Visionen nicht weiter. Seine großen Worte verhallen, und wir bräuchten doch in der Europäischen Union so dringend Politiker, die nicht palavern, sondern bei der Problemlösung anpacken.
8 Antworten auf „Emmanuel Macron – der charmante Blender“