Britische Soldaten erschossen in Derry unschuldige Iren
Die Geschichte Irlands war immer wieder von extremer Gewalt geprägt, und die Briten trugen als Eroberer maßgeblich dazu bei. Sie behandelten die grüne Insel über Jahrhunderte als eine Kolonie, die von London aus regiert, besser drangsaliert wurde. Dies galt vor allem für die Katholiken, deren Zurücksetzung sich auch nach der Unabhängigkeit der Republik Irland 1922 im britischen Nordirland nahtlos fortsetzte. Und noch heute gibt es Bereiche wie bei der Vergabe von Sozialwohnungen, wo die protestantische Mehrheit am längeren politischen Hebel sitzt. Nicht vergessen ist bis heute auf der katholischen Seite, dass vor 50 Jahren, am 30. Januar 1972 britische Fallschirmjäger in Derry das Feuer auf unschuldige Demonstranten eröffneten und ein Blutbad anrichteten. 14 unbewaffnete Zivilisten starben durch gezielte Schüsse, und das britische Militär und die Regierung versuchten, den Blutzoll den nordirischen Katholiken und der Irish Republican Army (IRA) anzulasten. Erst eine zwölfjährige Untersuchung durch Lord Saville und Kollegen förderte zu Tage, dass die Soldaten der 1 PARA grundlos das Feuer eröffnet hatten. Der damalige britische Premierminister, David Cameron, entschuldigte sich 2010 für diese Gräueltat bei den Hinterbliebenen.
Schüsse in den Rücken
Als sich am 30. Januar 1972 in Derry – die protestantischen Loyalisten sprechen von Londonderry – ein Protestzug formierte, ahnten die Teilnehmer noch nichts von den Schüssen, die kurz darauf die Gewaltspirale in Nordirland weiter beschleunigen würden. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die die Iren beschönigend „Troubles“ nennen, speisten sich aus jahrhundertelanger Unterdrückung der Katholiken und hatten sich 1968 bei einer Demonstration der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) weiter zugespitzt, die auch in Derry stattgefunden hatte. Die Demonstranten forderten Reformen am politischen System, wobei die Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt stand. Ihr Ruf verhallte ohne erkennbare Veränderungen. Vier Jahre später versammelten sich zwischen 5 000 und 20 000 Menschen wiederum in Derrys Straßen, um gegen die Inhaftierung von echten oder vermeintlichen Sympathisanten der IRA durch die britischen Sicherheitskräfte zu protestieren, die ohne Gerichtsverhandlung erfolgt war.
Britische Fallschirmjäger der 1 PARA-Einheit eröffneten an diesem schicksalhaften Sonntag das Feuer auf friedliche Demonstranten und töteten unmittelbar 13 Zivilisten, darunter auch Jugendliche. Ein weiterer Demonstrant erlag später seinen schweren Schussverletzungen. Mit jenem barbarischen Gewaltakt verlor die britische Armee jegliche Glaubwürdigkeit: Das Militär war zunächst von den Katholiken als Moderator, wenn nicht gar als Schutzmacht gegen die systematische Schikanierung durch die protestantische Polizei und zahllose protestantische paramilitärische Organisationen begrüßt worden. Die konservative britische Regierung unter Premierminister Edward Heath setzte ihre Propagandamaschine in Gang, um eine Schuldzuweisung an das britische Militär für dieses Blutbad in Derry zu verhindern. Auch das vom Lord Chief Justice of England and Wales, Baron John Widgery, geleitete Tribunal folgte nach einer oberflächlichen Untersuchung den Aussagen der beteiligten Soldaten, sie seien zuerst beschossen worden. Doch selbst Widgery musste zugeben, dass die meisten Toten in den Rücken getroffen worden waren. Es fand sich kein Hinweis darauf, dass die Demonstranten bewaffnet gewesen wären.
Das Massaker an den Demonstranten in Derry und die Vertuschung der wirklichen Vorgänge durch die britische Regierung und das Militär befeuerten die Gewalt in Nordirland weiter. Der Strom des Blutes, zu dem in Nordirland 3 500 Menschenleben – von den 1960er Jahren bis 1998 – beitrugen, konnte erst mit dem Karfreitagsabkommen am 10. April 1998 unterbrochen werden. Explodierende Bomben und hinterhältige Morde durch katholische und protestantische paramilitärische Organisationen, aber auch durch Polizei und Militär, gehörten zunehmend einer dunklen Vergangenheit an, aus der sich jedoch immer wieder neue Eruptionen ergeben. Der fragile Frieden wurde gerade auch durch den Brexit gefährdet: Zwar konnten im Sinne der Katholiken eine harte Grenze mit Kontrollen zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland als EU-Mitglied verhindert werden, doch die Protestanten hadern mit einer fiktiven Grenze in der Irischen See. Lautstarke protestantische Organisationen fühlen sich von ihrem Mutterland getrennt und von Katholiken „belagert“.
Die Wahrheit kommt ans Licht
Erst 1998 griff der Labour-Premier Tony Blair die anhaltende Kritik an der Darstellung der Ereignisse in Derry am Bloody Sunday auf und setzte unter Lord Saville of Newdigate eine Untersuchungskommission ein, die zwölf Jahre lang versuchte, die Ereignisse unvoreingenommen zu beleuchten. Dazu wurden Beteiligte aus unterschiedlichen Lagern um ihre Aussage gebeten. Als der Report am 15. Juni 2010 publiziert und dem Londoner Unterhaus vorgelegt wurde, kam die Wahrheit ans Licht. Der konservative Premierminister David Cameron entschuldigte sich für das Verhalten des britischen Militärs am blutigen 30. Januar 1972: „Some members of our armed forces acted wrongly. The government is ultimately responsible for the conduct of the armed forces and for that, on behalf of the government, indeed, on behalf of our country, I am deeply sorry.“ Für Cameron war dies gewiss kein leichter Schritt, und so versuchten konservative Politiker auch später immer wieder, das brutale Vorgehen der britischen Sicherheitskräfte vergessen zu machen. Während der Brexit-Verhandlungen goss die britische Nordirlandministerin der Tories, Karen Bradley, Öl ins Feuer. Sie erklärte kurzerhand, wenn von Polizei und Militär während des Nordirlandkonflikts unschuldige Menschen erschossen worden seien, dann handle es sich nicht um kriminelle Handlungen. Und sie hatte auch eine völlig perverse Entschuldigung dafür parat: „They were people acting under orders and acting under instruction and fulfilling their duties in a dignified and appropriate way.” Das kommt mir doch sehr bekannt vor, auch aus der deutschen Geschichte. Es ist für mich immer wieder erschreckend, wie leichtfertig kriminelles Handeln gegen Mitmenschen mit einem ‚Befehlsnotstand‘ gerechtfertigt werden soll – selbst dann, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Am Saville-Report und an den Aussagen von David Cameron prallen jedoch alle Versuche ab, die wahren Vorgänge am 30. Januar 1972 erneut einzunebeln: „But the conclusions of this report are absolutely clear. There is no doubt, there is nothing equivocal, there are no ambiguities. What happened on Bloody Sunday was both unjustified and unjustifiable. It was wrong.“ Ja, die Erschießung unbewaffneter Demonstranten war nicht zu rechtfertigen! Und der Bericht ließ auch keine Zweifel zu oder Ungereimtheiten zurück: Die britischen Soldaten hatten unschuldige Menschen bewusst erschossen! Eine solch klare Sprache wie von David Cameron würde man sich nach der Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen auch von so manch anderem Politiker wünschen. Nach dem Saville-Report war es bereits ein Fehler, die 1 PARA-Soldaten in Derry einzusetzen, denn diese Einheit „was a force with a reputation for using excessive physical violence“. Eine militärische Einheit zur Sicherung eines friedlichen Verlaufs einer Demonstration einzusetzen, die für ihren exzessiven Gewalteinsatz bekannt war, kann nur als Fehler der Militärführung bezeichnet werden. Premierminister Cameron hob die grundsätzliche Feststellung des Reports hervor, als er betonte: „the first shot in the vicinity of the march was fired by the British Army“. Damit waren auch alle Falschaussagen britischer Soldaten widerlegt, die behauptet hatten, sie wären zuerst von den Demonstranten beschossen worden. Die tödlich verletzten Opfer hatten – wie bereits die beschönigende Widgery-Untersuchung ergeben hatte – Schüsse in den Rücken bekommen, was nun allemal nicht zu einer Angriffsabsicht passt. Keiner der erschossenen Demonstranten war bewaffnet gewesen, auch dies unterstrich Lord Saville. Zum Teil versuchten sich die Getöteten kriechend in Sicherheit zu bringen oder Schwerstverletzten zu Hilfe zu eilen. Die britischen Soldaten schossen ohne jede Vorwarnung und Rechtfertigung: So berichtet Cameron, der Saville-Report „finds that despite the contrary evidence given by the soldiers, none of them fired in response to attacks or threatened attacks by nail or petrol bombers“. Damit ist eindeutig belegt, dass die britischen Soldaten weder beschossen noch mit Nagel- oder Brandbomben angegriffen wurden. Lord Saville, damals einer der obersten Richter des Königreichs, William L. Hoyt, ein hoher kanadischer Richter, und John L. Toohey, Mitglied des höchsten australischen Gerichts, machten in ihrem 5 000-seitigen Bericht klar, dass die britischen Soldaten und Offiziere versucht hatten, mit Falschaussagen vom eigenen Fehlverhalten abzulenken.
Unbewaffnete Demonstranten erschossen
“Crucially, that, and I quote, none of the casualties was posing a threat of causing death or serious injury or indeed was doing anything else that could, on any view, justified in shooting“, so David Cameron im britischen Unterhaus. Der Saville-Report hatte deutlich gemacht, dass die Toten am Bloody Sunday keine Gefahr für die Soldaten dargestellt hatten, und damit jeder Schuss aus britischen Gewehren unverantwortlich war! Im Vorfeld des Einsatzes waren die Soldaten nicht zur Zurückhaltung aufgefordert worden, sondern im Gegenteil: „As to General Ford’s memorandum, where he suggested shooting selected ringleaders of rioters after warning, we are surprised that an officer of his seniority should seriously consider that this was something that could be done, notwithstanding that he acknowledged that to take this course would require authorisation from above.“ Der Vorschlag des Generals, Rädelsführer nach Vorwarnung zu erschießen, wurde zwar nicht autorisiert, doch schon allein diese Grundeinstellung wirkte prägend und forderte Todesopfer. Die Northern Ireland Civil Rights Association, die die Demonstration organisierte, trifft nach Meinung der Richter Saville, Hoyt und Toohey „no responsibility for the deaths and injuries on Bloody Sunday“. Dies ist ein Freispruch erster Klasse für die Organisatoren und Teilnehmer des Demonstrationszugs und ein Schuldspruch ohne jeden Zweifel für die britischen Soldaten.
Das Unterdrücken der Wahrheit hatte nicht nur nach dem Bloody Sunday, sondern auch bei anderen Fällen System. Das britische Militär sowie Polizei und Justiz machten es sich oft leicht, Schuldige für Anschläge zu finden, und sie taten alles, um die unschuldig Inhaftierten nicht wieder in Freiheit gelangen zu lassen. So wurden die ‚Guildford Four‘ – drei Nordiren und eine Engländerin – für einen Bombenanschlag als Terroristen verurteilt, den sie nicht begangen hatten. Geständnisse wurden unter Folter erpresst – und dies mitten in Großbritannien durch Polizisten aus Surrey und eingeflogene Verhörspezialisten der protestantischen Royal Ulster Constabluary. Das Fehlurteil erging im Londoner Old Bailey im Oktober 1975, obwohl die Angeklagten ihre Geständnisse widerriefen. Auch die Berufung führte zu keinem Freispruch, obwohl IRA-Mitglieder die Verantwortung für den Anschlag übernommen hatten und wegen anderer Anschläge einsaßen. Erst 14 Jahre später kamen die unschuldig Verurteilten wieder frei. Sechs andere Iren wurden 1975 ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt, da ihnen ein verheerender Anschlag in Birmingham zur Last gelegt wurde – ein Justizskandal, wie sich herausstellte: „In der Tat waren die Geständnisse aus ihnen herausgeprügelt worden“, so ‚Zeit online‘. Auch die ‚Birmingham Six‘ mussten fast 16 Jahre auf ihre Freilassung warten. Oft genügte es schon, als Ire zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, und die Gefängnistüren schlugen zu. Von großer Bedeutung war daher, dass der Saville-Report klar herausstellte, dass bei dieser Demonstration kein bewaffneter Angriff von IRA-Mitgliedern auf die ‚Ordnungskräfte‘ ausging, und dies galt gerade auch für die erschossenen Bürger. „With the exception of Gerald Donaghey, who was a member of the Provisional IRA’s youth wing, the Fianna, none of those killed or wounded by soldiers of Support Company belonged to either the Provisional or the Official IRA.“ Und auch von Martin McGuinness, damals einer der führenden Köpfe der IRA, ging im Rahmen dieses Protestmarsches keine Gefahr aus: „we are sure that he did not engage in any activity that provided any of the soldiers with any justification for opening fire“.
Frieden sichern
Die brutale Erschießung friedlicher irischer Demonstranten durch britische Soldaten hat 1972 maßgeblich zu weiterem Blutvergießen in Nordirland beigetragen. Paramilitärische Organisationen auf katholischer und protestantischer Seite fühlten sich berechtigt, für ihre eigene Volksgruppe zu kämpfen – mit Gewalt. Das britische Militär hatte seine Chance vergeben, vermittelnd und Frieden stiftend zu agieren. Die englische und nordirische Polizei und Justiz versuchten mit illegalen Mitteln – z. B. der Internierung ohne Gerichtsprozess -, den Konflikt zu ‚befrieden‘, wobei sie allerdings nur die katholische Seite ins Visier nahmen und die protestantischen Paramilitärs insgeheim als Bündnisgenossen betrachteten. Viel zu oft wurde vergessen, dass es nicht um einen Religionskrieg geht, sondern um die Unterdrückung und Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die protestantische Mehrheit. Nicht religiöse Werte, sondern der Zugang zu politischen Ämtern, zu Jobs oder Sozialwohnungen standen im Mittelpunkt.
Das Karfreitagsabkommen von 1998 hat das Tor zum Frieden aufgestoßen und letztendlich hat das damalige Aufeinander-zugehen auch die intensive Arbeit der Saville-Kommission ermöglicht. Der Weg zum Frieden mag holprig sein, doch das ist er immer. Aber die Nordiren haben mit dem Karfreitagsabkommen einen zentralen Schritt in eine friedliche Zukunft getan. Keinen Beitrag zur weiteren Annäherung leisten allerdings die britischen Konservativen, mögen sie Theresa May oder Boris Johnson heißen oder zu rechten nationalistischen Tory-Gruppierungen gehören. Wir alle sind gefordert, dass der einst blutige Konflikt nicht wieder aufflammt, und dies gilt auch für die EU und ihr Mitglied, die Republik Irland, in besonderer Weise aber für die britischen Regierungen. Die Aufarbeitung des Bloody Sunday hat zumindest auf katholischer Seite einen Beitrag dazu geleistet, die britische Justiz und Politik nicht nur als Feinde zu sehen. Wer Derry oder Belfast besucht, der wird schnell erkennen, dass die Vorurteile auf manchen Seiten noch sehr ausgeprägt sind, daher ist es wichtig, soziale und politische Missstände zu benennen und zu beseitigen. Der Bloody Sunday darf sich nicht wiederholen. Frieden und Freiheit lassen sich nur sichern, wenn die Menschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gleich behandelt werden.
2 Antworten auf „Ein trauriger Gedenktag: Bloody Sunday, 30. Januar 1972“