Die Kraft des Meeres naturverträglich nutzen
Wer sich mit seinen Füßen in die Brandung stellt, merkt schnell, dass die Bewegung der Wellen eine intensive Kraft besitzt. Und wer schon einen richtigen Sturm am Meer erlebt hat, sah furchteinflößende Wellenberge auf die Küste zulaufen. Energie im Übermaß! Dies gilt auch für Ebbe und Flut, ganz ohne Stürme, das ganze Jahr über – und nach dem Zeitplan der Natur. Wirklich neu ist die Einsicht, dass unsere Ozeane ein gewaltiges Potential an Energie besitzen, natürlich nicht. Davon zeugen nicht nur wissenschaftliche Berechnungen aus früheren Jahrhunderten, sondern auch Mühlen, die unmittelbar an der Küste schon im 7. Jahrhundert mit dem Gezeitenstrom betrieben wurden. Seit 1967 erzeugt das Gezeitenkraftwerk an der Mündung der Rance in der französischen Bretagne Strom für rd. 150 000 Haushalte. Die Strömungen in den Meeren, Ebbe und Flut oder Wellen sind für die regenerative Energieerzeugung Schätze, die noch gehoben werden können und müssen: selbstverständlich so nachhaltig und so naturverträglich wie möglich.

Meeresenergie nicht unterschätzen
Deutschland mit seinen kurzen Küsten bietet zwar relativ geringe Möglichkeiten zur regenerativen Energieerzeugung im Meer, wenn man von Windkraftanlagen absieht, dennoch müssen die Forschungsarbeiten intensiviert werden. Kooperationsprojekte und die Lieferung von benötigtem Equipment für andere Regionen dürfen nicht unterschätzt werden. Und Wellen gibt es durchaus vor deutschen Küsten! Diese Einsicht scheint sich zunehmend auch bei den Entscheidungsträgern in Berlin durchgesetzt zu haben, obwohl Meeresenergie in den Förderprogrammen noch immer eher ein Schattendasein fristet. Es wird aber nicht ausreichen, Windräder in Wälder zu ‚pflanzen‘ und Solarzellen auf die Dächer zu packen oder mal wieder bei wenig demokratischen Regimen auf der arabischen Halbinsel in Sachen Wasserstoff zu antichambrieren! Ich werde ohnehin den Eindruck nicht los, dass die Bundesregierungen – unter welcher Führung auch immer – zu wenig Wert auf die Nutzung aller nachhaltigen Energieträger legen. Zu schnell und zu einseitig wurde das Batteriefahrzeug favorisiert, ohne die Produktion synthetischer Kraftstoffe, z. B. aus abgeschiedenem CO2, oder Wasserstoff für Brennstoffzellen sachgerecht zu berücksichtigen, und so kam auch die Meeresenergie im Verhältnis zur Windkraft zu kurz. Wer als Politiker beim Meer nur an Windparks denkt, der unterschätzt die Energie, die unterhalb der Wasseroberfläche vorhanden ist. „Aufgrund der geografischen Bedingungen ist die Energiegewinnung an deutschen Küsten wirtschaftlich nicht vielversprechend“, heißt es im Energieforschungsprogramm der Bundesregierung von 2018. Zwar werden die Exportchancen der deutschen Unternehmen für entsprechende Produkte erwähnt, doch insgesamt vermisse ich den politischen Elan. So manches Windrad wurde an einem Platz gebaut, der wirtschaftlich nur ertragreich ist, solange die Abnahmeentgelte für den Strom künstlich hochgehalten werden. Vor diesem Hintergrund sollte auch bei der Meeresenergie nicht bereits zu Beginn ein zu scharfer Maßstab bei den Fördermitteln angelegt werden.

Über ein Gezeitenkraftwerk dachten bereits vor einem Jahrhundert die Briten nach: in den Blick genommen wurde die Mündung des Severn. Er ist der längste Fluss Großbritanniens und mündet als Bristol-Kanal in die Keltische See, einem Teil des Atlantiks. Zwar überspannt eine gewaltige Brücke die breite Mündung, doch aus dem Gezeitenkraftwerk ist nichts geworden. Die Realisierung scheiterte – zuletzt 2010 – an den hohen Kosten und Gefahren für die Umwelt. Ganz anders verlief die Entwicklung auf der anderen Seite des Ärmelkanals, denn in Frankreich nahm nach langen Planungsphasen das Gezeitenkraftwerk an der Rance 1967 seinen Betrieb auf und speist seither Strom ins französische Netz ein. Das Kraftwerk hat eine Leistung von 240 Megawatt und wurde erst 2011 von einem südkoreanischen Gezeitenkraftwerk von Platz 1 verdrängt.

Gezeitenkraftwerk produziert grüne Energie
Die Eingriffe in die Natur springen sofort ins Auge, wenn man über den Damm fährt, denn der Fluss Rance wurde durch das Bauwerk vom Meer getrennt. Zwar liegt die Anlage an der Küste, doch im Grunde ähnelt sie einem herkömmlichen Staudamm an einem Fluss. Und so treten auch vergleichbare Probleme auf: Der Fluss kann wegen des Damms die mitgeführten Sedimente und den Schlamm nicht mehr ins Meer transportieren, sondern lagert alles in der Bucht ab, die zunehmend verlandet. Dies reduziert das Volumen des Wassers, das in der Bucht gespeichert werden kann und damit auch die Stromerzeugung. Ähnlich verhält es sich bei Stauseen hinter Dämmen an Flüssen: ein Musterbeispiel ist der Assuan-Staudamm. Hier kommt hinzu, dass der fruchtbare Nilschlamm flussabwärts fehlt, der sich ansonsten bei Hochwasser über die Äcker ergoss. Fische und andere Wassertiere sind bei Dammanlagen die Leidtragenden, wenn sie nicht mehr wandern können. Bei La Rance können zumindest kleinere Fische die Turbinen unbeschadet überwinden, ansonsten bleibt ihnen nur noch die ‚Mitfahrt‘ über den Schleusenbereich, der Booten eine Passage erlaubt.

Zu den Vorteilen eines Gezeitenkraftwerks gehört es, dass sowohl bei Flut das einfließende Wasser Strom erzeugt, als auch bei Ebbe, wenn sich die Bucht wieder leert. Es kann sogar zusätzliches Wasser in die Bucht gepumpt werden, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt eine höhere Energieerzeugung vorgesehen ist. Somit bieten sich hier Parallelen zu einem Pumpspeicherwerk, das mit aktuell nicht benötigtem Strom Wasser in den höhergelegenen Speichersee hebt. Kostenintensiv ist bei allen Anlagen zur Stromerzeugung im Meer, dass der Korrosionsschutz deutlich umfänglicher ist. Um Umwelteingriffe in Flusssysteme zu vermeiden, können Gezeitenkraftwerke auch an Buchten ohne Fließgewässer oder an künstlichen Lagunen errichtet werden, wenn der Tidenhub ausreichend hoch ist. Bei La Rance in der Nähe von Saint-Malo beträgt der Tidenhub, also der Unterschied des Wasserstands zwischen Ebbe und Flut, 12 bis 14 Meter, damit war diese Örtlichkeit prädestiniert für ein Gezeitenkraftwerk. Ebbe und Flut sowie die Wasserstände können im Voraus berechnet werden, was eine vorausschauende Planung der Elektrizitätsproduktion erlaubt. Der Nachteil sind dagegen die Schwankungen im Monatsverlauf. Bei Voll- und Neumond sorgen die Kräfte von Sonne und Mond zusammen für eine Springtide, starkes Hochwasser, bei Halbmond wirken die Kräfte von Mond und Sonne entgegengesetzt und die Werte von Ebbe und Flut fallen nicht so weit auseinander: Nippflut. Da sieht es dann bei der Stromerzeugung eher mager aus.

Es geht auch ohne Damm
Für Gezeitenkraftwerke lassen sich mit Sicherheit noch weitere Standorte in unserer Welt finden, die so dringend auf regenerative Energie angewiesen ist, wenn die Erderwärmung gestoppt werden soll. Die Zahl der Buchten mit einem Tidenhub von 10 bis 15 Metern ist jedoch überschaubar. Die Kraft des Meeres ist damit allerdings nicht erschöpft, ganz im Gegenteil. Das walisische Ingenieurbüro Rod Rainey & Associates hat verschiedentlich vorgeschlagen, Flussmündungen wie den Severn nicht mit einem Betondamm zu versperren, sondern eine Kombination der Stromerzeugung mit der Abwehr von Überflutungen zu realisieren. Baulich erinnern die Vorschläge an das Sturmflutsperrwerk an der Themse bei London. Bemerkenswert ist für mich auch der Vorschlag von Rod Rainey, statt Betondämmen mit Turbinen einzelne Installationen vorzusehen, die 50 Meter breite Wasserräder beherbergen. Diese ältere Technologie aus Mühlen an Flüssen oder am Meer seien darüber hinaus preisgünstiger und weniger problematisch für die Umwelt. Die hier zum Einsatz kommenden sogenannten mittelschlächtigen Wasserräder – in gänzlich neuer Dimension – drehen sich langsam und lassen Fischen Zeit zum Ausweichen. Es würde auch zu keiner nennenswerten Verlandung kommen, da die Sedimente vom Fluss weiterhin ins Meer geschwemmt werden können.

Die Gezeitenströme und andere Meeresströmungen oder Wellen lassen sich auch ohne große Bauwerke nutzen, was sich mit verschiedenen Techniken bereits belegen ließ. So wurde beispielsweise vor der nordirischen Küste an der Engstelle zwischen dem Stranford Lough und der Irischen See von 2008 an für mehrere Jahre mit einem Gezeitenkraftwerk Strom erzeugt: Untergebracht waren die beiden Turbinen in einem Turm, der sich rd. 40 Meter über den Meeresboden erhob. ‚SeaGen‘ wurde für Marine Current Turbines von der Belfaster Werft Harland & Wolff vorgefertigt. Ganz ohne Damm oder Turm kommt Orbital Marine Power mit seinem schwimmenden Gezeitenkraftwerk ‚Orbital 02‘ aus, das über Stahltrossen am Meeresboden befestigt ist. Die Konstruktion verfügt über zwei Rotoren mit je 20 Metern Durchmesser und kann an die Meeresoberfläche angehoben werden, wenn Wartungsarbeiten anstehen. Auf den schottischen Orkney-Inseln können mit ‚SeaGen‘ ca. 1 700 bis 2 000 Haushalte mit Strom versorgt werden.

Wenn die Wellen rollen
Nicht nur die Gezeitenströme bieten Ansatzpunkte für die Stromerzeugung im Meer, sondern auch die Wellen. Ja, Wellen, die so schön heranrollen und sich brechen, sind nicht nur etwas für ein stimmungsvolles Foto, sondern auch für die regenerative Stromerzeugung. Unterschiedliche Verfahren wurden bisher erprobt, mal ein schlangenförmiges Gebilde (‚Pelamis‘), durch das die Wellen strömen und über Hydrauliksysteme Energie bereitstellen, oder ein muschelförmiges Wellenkraftwerk, in das die Wellen einfließen. In der Gemeinde Mutriku im spanischen Baskenland wurde das Wellenkraftwerk in die Mole eingebaut, die den kleinen Fischereihafen schützt: Das eindringende Wasser der Wellen drückt in einer Röhre die Luft zusammen, die dann so komprimiert wird, dass sie zur Energieerzeugung dienen kann. Die Betreiber scheinen mit dem Ertrag noch nicht ganz zufrieden zu sein, andererseits können immerhin 250 Haushalte mit Strom versorgt werden. Zahlreiche weitere Konzepte wurden bisher in Prototypen oder Kleinanlagen realisiert, doch es scheint am politischen Nachdruck und der entsprechenden breiten Förderung zu mangeln, die gerade auch Start-ups benötigen.

Symptomatisch für das verspätete Durchstarten bei der Meeresenergie in der Europäischen Union ist eine kleine Zusammenstellung der EU-Kommission, in der zehn geförderte Projekte in einem ‚CORDIS Results Pack‘ vorgestellt werden. „Meeresenergie: Vielversprechende neue Technologien sollen Europa dabei helfen, seine ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen“, so der Titel, dessen Aussage ich nur zustimmen kann. Weiter heißt es: „Die Technologien zur Nutzbarmachung von Meeresenergie sind relativ neu und der Weg zur vollständigen Kommerzialisierung ist noch lang.“ Allerdings frage ich mich, wie die EU-Kommission ‚neu‘ definiert, denn Ideen für ein Gezeitenkraftwerk am walisischen Severn gab es bereits vor 100 Jahren, und Mühlen, die von Ebbe und Flut ihre Energie bezogen, seit deutlich mehr als 1 000 Jahren! Nun gut, die EU-Kommission hat dies vielleicht nicht mitbekommen, doch Innovationen müssen in Europa – und gerade auch in Deutschland – wieder deutlich schneller und zielgerichteter umgesetzt werden! Im EU-Papier hagelt es nur so Worthülsen wie „vielversprechende Option“, „Demonstrator“, „Erprobungsphase“, „auf den Weg bringen“, „Paket innovativer Entwurfswerkzeuge“, „neue technische Ansätze“, „schon bald“, „zukünftige Projekte“, …, die leider deutlich machen, dass die EU in Sachen Meeresenergie Nachholbedarf hat.

Nachhaltige Innovationen
Viel zu lange hat sich die EU auf die Subventionierung der Landwirtschaft und die Reglementierung im IT-Bereich oder bei Kraftfahrzeugen beschränkt, anstatt sich zur führenden Innovationsregion hochzuarbeiten. Wasserstoff- und Batterietechnologie oder Chips sind weitere Arbeitsgebiete, wo Europa nicht gut aufgestellt ist. Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der noch nicht einmal einen brauchbaren Vorschlag zur Zeitumstellung vorzulegen vermochte, hat bei Innovationen ebenso versagt wie seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen, die zwar mehrsprachig über den ‚Green Deal‘ plaudert, diesen aber nicht vorantreibt. Auch bei der Gewinnung von Energie aus dem Meer genügt es nicht, hie und da ein Einzelprojekt zu fördern: Der große Wurf muss das Ziel sein! Ideen scheinen bei Unternehmen und wissenschaftlichen Institutionen genügend vorhanden zu sein, doch ohne einen kräftigen Kapitalschub, Technologieoffenheit und Kooperation kommen wir nicht schnell genug zu breiten und nachhaltigen Anwendungen.

Nach meiner Meinung sollten gerade auch kleinere Anwendungen eine Umsetzungschance bekommen, denn wenn einzelne Küstenorte mit Strom aus dem Meer versorgt werden können, dann entlastet dies die ohnehin schwächelnde Infrastruktur. Denn es fehlen ja nicht nur Überlandleitungen, sondern auch regionale Großspeicher! Auf den ersten Blick mögen Windparks vor den Küsten mit sich drehenden Rotoren die Herzen vieler Politiker höherschlagen lassen, doch zu wenig wird dabei an die Meerestiere gedacht, die durch den Lärm beim Bau der gewaltigen Fundamente gestört, manchmal auch orientierungslos gemacht werden. Deshalb sind naturverträglichere Methoden der Stromerzeugung aus dem Meer wichtig. Ökologie und Nachhaltigkeit sowie der Artenschutz müssen im Meer und an Land beim Ausbau der regenerativen Energieerzeugung eine wichtige Rolle spielen! Grüner Strom – off- oder onshore erzeugt -, der zu Lasten von Natur- und Artenschutz produziert wird, ist kein nachhaltiger Weg in die Zukunft.
Eine Antwort auf „Ebbe und Flut als Energieträger“