Torjubel wichtiger als Wohltätigkeit?
Nun gut, es ist schon sechs Jahre her, doch beim Anblick des für die Europameisterschaft verunstalteten Schlossplatzes in Stuttgart ging mir Rudolf Diebetsberger durch den Kopf. Er hatte 2018 am Kleinen Schlossplatz, nur acht Meter von einer Stelle entfernt, die ihm vom Ordnungsamt zugewiesen worden war, für erblindete indische Kinder ins Horn gestoßen, und als er die verhängte Strafe wegen dieser ‚Ordnungswidrigkeit‘ nicht bezahlen wollte, wanderte er allen Ernstes in die Justizvollzugsanstalt in Stammheim. Mehr zu diesem Skandal finden Sie in meinem damaligen Beitrag ‚Justizposse: Für ‚ins Horn blasen‘ gibt’s jetzt Knast – Stuttgart: Ordnungsamt und Justiz auf Abwegen‘. Einst saßen im Übrigen in Stammheim die RAF-Terroristen ein! So zügig wie der sozial engagierte Rudolf Diebetsberger atmeten in Stammheim die Randalierer nicht gesiebte Luft, die im Jahr 2020 rund um den Schlossplatz Polizisten attackierten und Geschäfte plünderten. In ‚Stuttgart Riots: Sozialer Hintergrund der Täter ist für Prävention wichtig‘ bin ich auf die problematische Aufarbeitung der Krawallnacht eingegangen. Nun aber zurück zu einer friedlicheren Nutzung des Schlossplatzes als ‚Fan Zone‘ für die Europameisterschaft im Fußball 2024: 30 000 stimmgewaltige Fußballanhänger erfreuen scheinbar die Stadtoberen meiner Geburtsstadt, doch der Hornist Diebetsberger wurde kriminalisiert, obwohl er deutlich weniger Lärm erzeugte.
Besser mal ins Horn stoßen
Ich warte bereits auf den typisch deutschen Hinweis, die Fußballfreunde hätten ja eine Erlaubnis für ihr Rufen, Schreien, Grölen – je nach Grad des Alkoholkonsums. Und Rudolf Diebetsberger hätte höchst ‚illegal‘ seinen Standort leicht verändert, weil am vorgesehenen Platz eine Musikgruppe auftrat. Als ich an der ‚Fan Zone‘ vorbeikam, spielte niemand Horn oder ein anderes Instrument am Kleinen Schloßplatz, dafür schlief auf einer der Steinstufen ein Obdachloser. Er hätte sich vielleicht über Zuwendung durch Sozialarbeiter der Stadt Stuttgart gefreut.
„Die ganze Stadt wird zum Stadion“, so die Eigenwerbung der ‚Sportregion Stuttgart‘, und dagegen spricht im Grunde nichts, allerdings würde ich mir etwas mehr Offenheit gegenüber sozialem Engagement wünschen, wie es z. B. Rudolf Diebetsberger gezeigt hatte. Nicht geschadet hätte eine offizielle Entschuldigung der Stadt Stuttgart bei Rudolf Diebetsberger für die überzogene Vorgehensweise – zu jener Zeit noch unter dem grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn.
Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass in Deutschland immer häufiger die Wertmaßstäbe verschwimmen, denn ansonsten dürfte man nicht einen sozial aktiven Bürger mit einer Strafe belegen, weil er am Schlossplatz Horn spielt und dann bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit den Schlossplatz für deutlich lärmintensivere Großveranstaltungen nutzen. Nicht fehlen dürfen natürlich die Klohäuschen, die einen Schutzwall um die historischen Brunnen auf dem Schlossplatz bilden. Nun, über Geschmack kann man streiten, aber Klohäuschen versperrten schon bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Berlin den Blick aufs Brandenburger Tor. Historische Orte haben es nicht leicht in unserem Land!
Am Rande möchte ich noch ein anderes Beispiel anführen, das zeigt, wie schnell Wertmaßstäbe verschwimmen: Marco Goecke hatte sich als Ballettdirektor der Staatsoper in Hannover so über die Texte der FAZ-Ballettkritikerin Wiebke Hüster echauffiert, dass er ihr 2023 den Kot seines Dackels ins Gesicht schmierte, den er im Theater mit sich geführt hatte! Zwischen Künstler und Kritikerin mag sich über die Jahre ein Spannungsfeld aufgebaut haben, doch wer wie Marco Goecke handelt, der begibt sich selbst ins gesellschaftliche Abseits. Dort musste er nicht lange ausharren, denn ab Sommer 2025 wird Goecke Ballettchef am Theater in Basel. Mal sehen, wen er dort mit Hundekot angreifen wird. Da scheinen nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz Wertmaßstäbe zu verschwimmen.
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Blick auf die ‚Fan Zone‘ auf dem Schlossplatz in Stuttgart zur Fußball-Europameisterschaft. Die zahlreichen Klohäuschen im Mittelpunkt des Bildes schützen einen der historischen Brunnen. Ja, historische Orte haben es nicht leicht in unserem Land, denn meist dienen sie nur als Kulisse. (Bild: Ulsamer)