Die deutsche Geschichte ist kein Steinbruch

Störer aus dem Bundestag rauswerfen und nicht hochstilisieren

Für die AfD und viele selbsternannte ‚Querdenker‘ ist das vom Bundestag im Eiltempo verabschiedete Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten vom 24. März 1933 vergleichbar. Doch sie vergreifen sich dabei an der deutschen Geschichte, denn politische Gegner wie die KPD-Abgeordneten waren damals bereits inhaftiert oder untergetaucht, was auch für einen Teil der SPD-Parlamentarier galt. Die Kritiker des jetzigen Infektionsschutzgesetzes sitzen dagegen gemütlich im XXL-Bundestag. Aber wer nun eine Handvoll von der AfD eingeschleuste Störer im Bundestag zum “Angriff auf die Herzkammer unserer Demokratie” hochstilisiert – wie Claudia Roth oder diese gar – wie die Tagesschau-Kommentatorin Franka Welz mit „Männer der Sturmabteilung SA und der Schutzstaffel SS, die die Parlamentarier beleidigten und einschüchterten“ vergleicht, der hat die deutsche Geschichte genauso wenig verstanden. Und kaum einem der empörungswilligen Politiker und Journalisten scheint zu dämmern, dass sie der AfD mal wieder auf den Leim gegangen sind, die eine riesige Medienresonanz erfährt, die ihrer sonstigen Performance nun wirklich nicht entspricht. Störer müssten im Handumdrehen aus dem Deutschen Bundestag rausfliegen, ohne der AfD oder anderen Gruppierungen ein mediales Spitzenthema zu liefern! Das sollte doch wirklich machbar sein!

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier wird von einer Frau mit dem Handy gefilmt, als er gerade den Liftknopf drückt.
Claudia Roth sieht als grüne Bundestagsvizepräsidentin die Parlamentarier schon „eingeschüchtert“ und „bedroht“. Doch Peter Altmaier kann sie damit nicht gemeint haben: er erläuterte Rebecca Sommer seine Sicht des Infektionsschutzgesetzes, drehte sich um und bestieg den Lift. Wer im Bundestag als Störer seine Weltsicht propagieren will, der gehört vor die Tür gesetzt! Politiker sollten nicht wie Roth von einem “Angriff auf die Herzkammer unserer Demokratie” sprechen und damit AfD & Co. die Bühne bereiten. Und dies sollte die Grüne als frühere Dramaturgin eigentlich wissen. (Bild: Screenshot, Twitter, 19.11.2020)

Claudia Roth: „eingeschüchterte“ Abgeordnete

Als ich die grüne Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth, im SWR hörte, da sah ich schon wilde Horden durch das Reichstagsgebäude toben. An ihr schrilles Auftreten habe ich mich in Jahren mühsam gewöhnt, aber wenn ich vernehme, es habe eine “neue Dimension von völliger Entgrenzung gegeben”, dann erwarte ich nicht skurrile Einzeltypen und Corona-Leugner, die Politiker mit ihren Handys filmen, sondern einen ernsthaften Angriff. Völlig vergessen hat Roth wohl auch die Provokationen, mit denen sich ihre Partei in die Landes- und Bundespolitik gearbeitet hat. „Kolleginnen und Kollegen seien bedroht worden“, ruft Roth über die Medien ins Land, sie seien „eingeschüchtert“ worden. Es kann und darf nicht sein, dass sich Störenfriede in den Hallen unseres Parlaments breitmachen, aber mal ganz ehrlich: Wer kann sich denn im Roth‘schen-Sinne von einigen verwirrten Geistern „bedroht“ fühlen? So abgehoben können unsere Abgeordneten doch nicht sein! Und Wirtschaftsminister Peter Altmaier machte es richtig, er erklärte der ihn filmenden Frau, warum er sich für das Infektionsschutzgesetz ausspricht und stieg dann unbehelligt in den Lift. Der Berliner Tagesspiegel vermeldete zu dieser seltsamen ‚Besucherin‘: „Dabei handelte es sich um die Medienaktivistin Rebecca Sommer, die früher in der Flüchtlingshilfe aktiv war und sich dann zunehmend AfD-Positionen zugewandt hat.“

Screenshot SWR Aktuell mit einem bild aus dem Bundestagsplenum und dem Text: Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth zu Störern im Deutschen Bundestag. "Angriff auf die Herzkammer unserer Demokratie."
Claudia Roth erkannte in einer Handvoll Störer einen „Angriff auf die Herzkammer unserer Demokratie“. Ungebetene Gäste, die sich nicht benehmen können, sollten stets an die Luft gesetzt werden, doch ob das Filmen von Politikern und ungehörige Schimpfwörter schon als „Nötigung“ gelten – wie der FDP-Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki betonte -, das müssen dann wohl die Gerichte klären. (Bild: Screenshot, swr.de, 20.11.2020)

„Die Vorfälle gestern im Bundestag sind skandalös, erschütternd und völlig unzulässig“, unterstrich Claudia Roth nicht nur in der Augsburger Allgemeinen. „Feinde der Demokratie haben ihre Verachtung für demokratische Spielregeln zum Ausdruck gebracht und sie haben ihr wahres Gesicht gezeigt.“ Wer sich an die besagten Spielregeln im Bundestag nicht hält, der wird an die Luft gesetzt, und so geschah es auch. Aber nicht lange, und Kommentatoren griffen Roths ‚Erschütterung‘ auf und verrannten sich gleich in einer anderen historischen Sackgasse. Ein Musterbeispiel war Franka Welz aus dem ARD-Hauptstadtstudio. „Jetzt die nächste Eskalationsstufe: direkte Einschüchterungsversuche demokratisch gewählter Abgeordneter im Reichstagsgebäude selbst.“ Politiker, die sich vor Corona hin und wieder unters Volk mischten, dürften gespürt haben, dass nicht alle Bürger ihrer Meinung sind. Und so mancher vergreift sich gewiss im Ton, aber ist es wirklich ein „Einschüchterungsversuch“, wenn Abgeordnete mit einer anderen Meinung konfrontiert werden – und dies auch im Parlament? Wer wird sich denn als Abgeordneter von seiner Meinung abbringen lassen, wenn sich vor ihm ein Andersdenkender mit Handy aufbaut? Diese Störer stellen sich selbst ins Abseits und sollten dort auch verbleiben. Und wer solche Zeitgenossen – wie AfD-Abgeordnete – einlädt, der kann sich gleich zu ihnen stellen, daran ändert auch eine laue Entschuldigung von Alexander Gauland als AfD-Fraktionsvorsitzender nichts.

Screenshot aus tagesschau.de mit einem Kommentar von Franka Welz.
Wer in den Räumen des Deutschen Bundestags Politiker unangemessen begegnet, sie beleidigt, muss mit juristischen Folgen rechnen – dies steht für mich außer Frage. Doch warum verirren sich nicht nur manche Gegner des Infektionsschutzgesetzes in die deutsche Geschichte und ziehen falsche Vergleiche zum Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten, sondern auch Franka Welz aus dem ARD-Hauptstadtbüro, die noch eins draufsetzt: die von der AfD eingeschleusten Störer werden gar mit „Männer der Sturmabteilung SA und der Schutzstaffel SS, die die Parlamentarier beleidigten und einschüchterten“ verglichen. Ich würde mir etwas mehr geschichtliche Kenntnisse und etwas weniger Theatralik wünschen. (Bild: Screenshot, tagesschau.de, 19.11.2020)

Maßlose historische Vergleiche

Doch dann versteigt sich Franka Welz in ihrem Kommentar auf tagesschau.de zu einem historischen Vergleich, der nicht nur hinkt, sondern schmerzt. „Eine bei den Nazis beliebte Strategie – 1933, als das Parlament sich mit seiner Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz de facto selbst abschaffte, standen an allen Eingängen des Gebäudes, in dem die Abstimmung stattfand, Männer der Sturmabteilung SA und der Schutzstaffel SS, die die Parlamentarier beleidigten und einschüchterten. Mit Erfolg.“ Die über die AfD in den Bundestag gelangten Störenfriede mögen Rechtsextremisten sein oder gerne auch mal einen Aluhut tragen und die Covid-19-Pandemie leugnen, aber wer sie mit den brutalen und menschenverachtenden, gut organisierten und tödlichen Schlägern und Mördern von SA und SS vergleicht, der hat nicht nur im Geschichtsunterricht gepennt, sondern er relativiert das nationalsozialistische Unrecht! Wenn wir uns zurecht gegen Vergleiche des Infektionsschutzgesetzes mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten verwahren, dann können wir aber auch keine Geschichtsklitterung à la Franka Welz durchgehen lassen.

Gruppe bunt gekleideter FahrradfahrerInnen, im Hintergrund der Reichstag mit der Glaskuppel.
Die Bundestagsverwaltung und die Regierungsfraktionen sollten nicht über einen Graben nachdenken, der zum Schutz des Bundestags angedacht ist, sondern über ein schnelles Reagieren, wenn im Haus oder davor Probleme auftreten. Ein Graben würde nur sinnbildlich die Distanz verbreitern, die so manchen Parlamentarier von den Wählern und Bürgern trennt. (Bild: Ulsamer)

Wenn bei sogenannten ‚Querdenken‘-Demonstrationen ein Mädchen betont, sie fühle sich wegen der Corona-Restriktionen wie Anne Frank, dann stellt sich die Frage nach der Erziehungsfähigkeit ihrer Eltern, denn auf eine solch abwegige Gleichsetzung kommt keine Elfjährige selbst. Nur zur Erinnerung: Anne Frank wurde 1945 im KZ Bergen-Belsen von den Nationalsozialisten wegen ihres jüdischen Glaubens ermordet. Eine junge Frau sah sich auf einer Linie mit Sophie Scholl, die als Mitglied der Weißen Rose Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur leistete und dafür hingerichtet wurde. Solche Vergleiche sind nicht nur maßlos und völlig falsch, sondern sie sprengen auch den Rahmen jeder echten Debatte! Mehr Geschichtsunterricht in unseren Schulen ist angesagt!

Die deutsche Geschichte ist kein Steinbruch, aus dem sich jeder nach Gutdünken einen Brocken herausbrechen und dem Gegenüber an den Kopf werfen kann. Wer beim Infektionsschutzgesetz das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten wieder auferstehen sieht, dem fällt der schräge politische Vergleich höchstens selbst auf die Füße. Wer aber einige aus der Spur geratene Unruhestifter mit SA und SS gleichsetzt, der vergeht sich gleichfalls an unserer deutschen Geschichte. Etwas mehr Gelassenheit verbunden mit Standhaftigkeit und konsequenter Sacharbeit würde ich mir auf Seiten der demokratischen Kräfte wünschen. Regelverletzungen auch in Pandemie-Tagen dürfen nicht durchgehen, allemal nicht in unserem Parlamentsgebäude! Unsere Demokratie wankt aber auch nicht wegen solcher Provokationen! Ich weiß nicht, ob es im Vereinigten Königreich, in Frankreich oder den USA ähnliche Störaktionen in den Parlamenten gegeben hat, doch eines ist sicher: Kein Parlamentsmitglied hätte – wie Claudia Roth – gejammert, Kollegen seien eingeschüchtert worden, sondern jeder hätte betont, dass man sich durch solche Störer gewiss nicht einschüchtern lasse! So sollte dies auch bei uns sein!

 

Corona-Maske auf dunklem Gehwegbelag mit welken Hernstblättern.
Am Rande bemerkt: Musste das Infektionsschutzgesetz wirklich an einem Tag von Bundestag und Bundesrat verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterzeichnet werden? Wer so handelt, der liefert den Gegnern schon die Munition für die nächste Attacke, denn die Debatte kann bei einer solchen Abfolge nicht im Mittelpunkt gestanden haben. Im Grunde hätten die von Angela Merkel geführten Regierungen bereits in den letzten Jahren ein angepasstes Infektionsschutzgesetz vorlegen können. Gewarnt waren unsere Politiker, doch sie wollten nicht hören. Die Fraunhofer-Gesellschaft legte 2013 die Studie „Pandemische Influenza in Deutschland 2020 – Szenarien und Handlungsoptionen“ vor. Ziel war es, Deutschland besser auf weltweite Seuchen vorzubereiten, doch die notwendigen politischen Schritte unterblieben. In einer weiteren Studie warnte – ebenfalls 2013 – das Robert-Koch-Institut die Bundestagsabgeordneten vor einer drohenden Pandemie: Und dieses Szenario erhielten die Angeordneten sogar als Bundestagsdrucksache 17/12051 mit dem Titel „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ direkt auf den Schreibtisch. Die Vorbereitung auf eine Pandemie unterblieb – und jetzt haben wir alle darunter zu leiden. Im Frühjahr hätte sich Covid-19 noch eindämmen lassen, und jetzt haben wir den zweiten Flächenbrand. (Bild: Ulsamer)

Eine Antwort auf „Die deutsche Geschichte ist kein Steinbruch“

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
    herzlichen Dank für Ihren Artikel, in dem Sie die Verhältnisse zurecht rücken. Zum Infektionsschutzgesetz und dem damit verbundenen Teilrückzug der Parlamentarier aus der Ihnen übertragenen Verantwortung, kann man stehen wie man will. Zur erzwungenen Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz gibt es keinen Bezug.
    Irrlichternde Gäste im Bundestag, sollte man wie geschehen entfernen und dem Vorgang, keine ihm nicht zustehende Bedeutung zuschreiben.
    Kein Mitglied des Parlaments wurde gefährdet. Sicher auch niemand verängstigt. Beängstigend ist allenfalls die unbegründete Überhöhung des Vorfalls und die sich ergebende Erkenntnis, wie einfach es für die am rechten Rand tätigen ist, sich eine Bühne zu schaffen.
    Etwas mehr Gelassenheit und Vertrauen in die Funktion unseres Rechtsstaates ist in schwierigen Zeiten notwendig.
    Mit freundlichen Grüßen aus Immendingen

    Gerhard Walter

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