Bald eine Welt der leeren Sockel?
Die Statue des einstigen Sklavenhändlers Edward Colston wurde im englischen Bristol von Demonstranten ins Wasser geworfen. Eigentlich kein größerer Verlust – zumindest auf den ersten Blick. Aber wenn bei ‚change.org‘ per Petition die Entfernung einer Skulptur in Leicester gefordert wird, die Mahatma Gandhi zeigt, dann sind Nachfragen angebracht. Kerry Pangulier, der Initiator der Petition, betont: „Gandhi, is a facist, racist and sexual predator.“ Über 6000 Zeitgenossen unterzeichneten, obwohl die Petition keine Belege für die Anschuldigungen enthielt. Im Zuge der gegen Rassismus und Polizeigewalt gerichteten Demonstrationen bekommen auch Bilderstürmer wieder Auftrieb, die ich im Mittelalter oder bei den Taliban wähnte. Da wird in London ausgerechnet das Denkmal von Winston S. Churchill mit „Churchill was a racist“ beschmiert, obwohl gerade er mit seinem Durchhaltewillen einen zentralen Beitrag leistete, um Deutschland und Europa von Adolf Hitler und der rassistischen Diktatur der Nationalsozialisten zu befreien. Auch mir gefallen viele Denkmäler nicht, und ich habe kein Verständnis dafür, dass in Deutschland beispielsweise weiterhin Straßen nach Paul von Hindenburg benannt sind, der als Reichspräsident zum Steigbügelhalter Hitlers wurde. Doch in einer demokratischen Gesellschaft kann nicht jedes Grüppchen Denkmäler nach Gutdünken vom Sockel stürzen oder wir landen in einer westlichen Taliban-Ordnung. Und das will ja vermutlich kaum einer!
Der geköpfte Kolumbus
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es im Sinne der Familie von George Floyd ist, wenn sein Tod, Folge der Brutalität eines Polizisten, zum Vorwand genommen wird, Bilderstürmern Tür und Tor zu öffnen. Selbstredend gibt es Personen, die es durch ihr bestialisches Verhalten verwirkt haben, im öffentlichen Raum durch Denkmäler präsent zu sein, und dazu gehört Adolf Hitler. Aber schon bei Josef Stalin oder Mao Tse-Tung gibt es Diskussionen in dieser Welt, obwohl sie Millionen von Mitbürgern das Leben genommen haben. Gehen wir von der Ebene der Weltverbrecher einige Stufen zurück, dann bleiben noch genug Zweifelsfragen. Wie steht es denn mit den Entdeckern vom Schlage eines Christoph Kolumbus oder Hernán Cortés, die Kontinente ‚entdeckten‘ oder Regionen im Auftrag der Krone unterwarfen und im Grunde den Weg zum Völkermord ebneten? Im Bostoner Columbus Park verlor der Entdecker bereits seinen Kopf, in Richmond (Virginia) landete ein Kolumbus-Denkmal in einem See. So manchem Demonstranten ist wohl nicht bewusst, dass er den Entdecker seines Kontinents vom Sockel holt. Muss das Denkmal der Entdecker im portugiesischen Lissabon abgerissen werden? Nach den puristischen Maßstäben mancher heutiger Denkmalstürmer vielleicht schon, aber werden wir dann den damaligen historischen und moralischen Maßstäben gerecht? Wohl kaum.
Für so manchen Demonstranten in den USA stellt das eigene Land einen Hort des Rassismus dar, und nicht wenige sehen in unserer Welt die US-Truppen als Speerspitze der Imperialisten. Sollte man dann auch die Freiheitsstatue in Stücke schlagen? Sicherlich nicht! Bilderstürmer, die im Zuge der Reformation bildliche Darstellungen von Jesus und Gott aus den Kirchen schleppten und zerdepperten, ähneln heutigen Taliban, die in Afghanistan die größten stehenden Buddha-Statuen der Welt mit Kanonen zerschossen. UNESCO-Welterbe hin oder her, hier siegte der Hass über die Kultur. In gleicher Weise sprengte die Miliz des Islamischen Staats (IS) in der syrischen Oasenstadt Palmyra 2000 Jahre alte Kultstätten, die nicht in ihr Weltbild passten. Nun verwechsele ich ganz sicher nicht die Statue eines Sklavenhändlers mit UNESCO-Welterbestätten, aber ich würde doch rufen: Wehret den Anfängen! Wer zieht denn die Grenzen zwischen der Zerstörung von Kulturgütern und verzichtbaren Denkmälern?
Irrende Denker
Die Jahrhundertverbrecher haben sich für immer außerhalb von Moral und Kultur gestellt, daher brauchen wir über sie auch nicht zu debattieren, doch manche Bilderstürmer sollten aufhören, jede historische Persönlichkeit nach heutigen Wertvorstellungen zu bewerten. So halte ich z. B. Alexis de Tocqueville für einen der wichtigsten politischen Theoretiker und Mitbegründer der Soziologie, allerdings ist auch er nicht ohne Fehl und Tadel. Aber wer ist dies schon! In ‚Über die Demokratie in Amerika‘ schrieb Tocqueville: „Obwohl das unermeßliche, eben beschriebene Land von zahlreichen Eingeborenenstämmen bewohnt war, kann man doch mit Fug sagen, daß es zur Zeit der Entdeckung nur eine bloße Wildnis darstellte. Die Indianer bewohnten es, sie besaßen es aber nicht.“ Ist Tocqueville mit diesen Sätzen verantwortlich für den Mord der weißen Kolonisatoren an den indianischen Nationen? Tocqueville macht dann deutlich, was er aus Sicht des 19. Jahrhunderts meint: „Der Ackerbau erst macht den Menschen zum Eigner des Bodens“. Und er spitzt zu und meint „dieser ganze Erdteil“ sei „die noch leere Wiege einer großen Nation“. US-Präsident Donald Trump würde vielleicht eifrig nicken, doch mir stößt die letzte Feststellung besonders auf, denn die Heimat der indianischen Nationen war keine „leere Wiege“. Aber sollten wir daher nach Tocqueville reisen und das Denkmal des Autors zerstören? Nein! Das Gesamtwerk Tocquevilles unterstreicht seine Bedeutung für die geistesgeschichtliche Entwicklung Europas, und man darf sich auch mal irren.
Nicht nur Denkmäler eines meiner Lieblingsautoren (Tocqueville) sollten sakrosankt sein, sondern gleichfalls bildliche Darstellungen von politischen Theoretikern, die nach meiner Meinung so manche revolutionäre Bewegung in eine Sackgasse geführt hat. Zwar wurden Karl Marx und Friedrich Engels, das traute Paar der kommunistischen Denker, in Berlin an den Rand gerückt, doch noch immer pilgern ihre unverbesserlichen Jünger zu ihnen, und in Trier legen verspätete Apostelinnen bei einer überlebensgroßen Marx-Statue aus chinesischer Künstlerhand Rosen nieder. Aus meiner Sicht haben Marx und Engels geirrt, aber dennoch käme ich nicht auf die Idee, diese Skulpturen zerstören zu wollen. Sie gehören zu unserer Geistesgeschichte: für mich sind sie Irrende, für ihre Anhänger haben Marx und Engels wegweisende Gedanken niedergeschrieben. So ist dies nun mal in einer demokratischen Gesellschaft.
Historischen Kontext beachten
Wenn es sich jeder herausnimmt, Denkmäler zu zerstören, dann wird es in unserer Welt eine große Zahl leerer Sockel geben, und ich befürchte, dass sich Befürworter und Gegner einzelner Personen nicht nur verbal um diese Denkmäler streiten werden. In Paris zeichnete sich dies bei den jüngsten Demonstrationen bereits ab. Bleiben wir für den Moment noch in Deutschland: Otto von Bismarck hat die verschiedenen Landesfürsten der deutschen Lande zusammengeführt, aber dazu hat er auch den Deutsch-Französischen Krieg mit angezettelt. Sollen nun nicht nur die nach ihm benannten Straßen umgetauft und die Bismarck-Türme geschliffen werden? Werfen wir einen kurzen Blick nach Frankreich: Ich halte es für eine unverzeihliche Fehleinschätzung, wenn Emmanuel Macron Marschall Philippe Pétain als „großen Soldaten“ bezeichnet. Macron wörtlich: „le Maréchal Pétain a été un grand soldat“. Die militärischen Leistungen Pétains im Ersten Weltkrieg sind das eine, doch er war während der nationalsozialistischen Besetzung weiter Teile Frankreichs im Zweiten Weltkrieg ein Kollaborateur und unterstützte die Deportation zehntausender von Juden in NS-Vernichtungslager. Immerhin wurde Pétain nach dem Krieg als Chef des Vichy-Regimes von einem französischen Gericht zum Tode verurteilt, und er hatte es dem provisorischen Regierungschef General Charles de Gaulle zu verdanken, dass das Urteil in eine lebenslängliche Haft umgewandelt wurde. Auch an diesem Beispiel sieht man, wie schnell die Einschätzungen historischer Persönlichkeiten auseinandergehen, und das macht deutlich, dass sich Bilderstürmer auf dünnem Eis bewegen.
Für den einen steht ein Denkmal für den erfolgreichen Freiheitskampf, für den anderen ist es eine Erinnerung an gewalttätige Attacken und Mord. Betrachten wir ein Beispiel aus der Republik Irland: Die irische Unabhängigkeit musste mit einem hohen Blutzoll gegen die britischen Truppen und deren Hilfstruppen (‚Black and Tans‘) erkämpft werden, und der nachfolgende Bürgerkrieg zwischen den Befürwortern der ‚kleinen‘ Lösung (Free State aus 26 Countys) und den Streitern für eine gesamtirische Lösung forderte weitere Opfer. Mögen die Ereignisse auch rd. 100 Jahre zurückliegen, so sind sie dennoch im Empfinden und politischen Denken vieler Iren lebendig. In Ballyseedy bei Tralee im südirischen Kerry erinnert dieses Denkmal an die Brutalität des Bürgerkriegs. Neun Gefangene, die gegen den Vertrag mit dem Vereinigten Königreich gekämpft hatten, da jener die sechs nördlichen Countys in britischer Hand beließ, wurden 1923 zusammengebunden und in ihrer Mitte von den Befürwortern des Free States eine Mine gezündet. Ein Gefangener konnte schwer verletzt entkommen, die anderen wurden im wahrsten Sinne des Wortes zerrissen. Erinnert dieses Denkmal nun an den Freiheitskampf oder ist es eine problematische Glorifizierung? Eine solche Frage lässt sich nicht leicht beantworten und erfordert Kenntnisse über den historischen Kontext. Wer heute mal so nebenbei ein Denkmal stürzt, der hat sich nur im seltensten Falle mit den geschichtlichen Hintergründen befasst.
Künstlerische Bearbeitung und Geschichte verbinden
Und wer heute Denkmäler stürzt, der könnte sich morgen an anderen kulturellen Artefakten vergreifen, denn nicht selten wurden heute weltberühmte Skulpturen, Bilder oder Bauten von Fürsten, Großbürgern oder auch mal Sklavenhändlern finanziert, die ihr Vermögen auf höchst fragwürdige Weise gewonnen haben. Sein Vermögen machte der bereits erwähnte Edward Colston mit dem Handel von Menschen, und dies ist damals und heute ein wirklich menschenverachtendes Gewerbe. Mit großen Summen förderte er Schulen, Kirchen, Kranken- und Armenhäuser – und so erschien er seinen Mitbürgern nicht selten als Philanthrop. In diesem Zusammenhang schlägt mein Herz für die Kinder und Erwachsenen, denen er die Freiheit nahm, das ist keine Frage, aber ich hätte das Denkmal dennoch nicht ins Hafenbecken befördert. Für weit sinnvoller hätte ich es gehalten, das Denkmal durch eine historische Einschätzung zu ergänzen, um das Bewusstsein für seine Untaten ebenso wachzuhalten wie für die Gelder, die die Gesellschaft gerne entgegennahm, um damit in der eigenen Region Fortschritt zu ermöglichen. Denkbar wäre es auch, an von ihm geförderten Einrichtungen, wenn es diese noch gibt, ebenfalls auf das menschenverachtende Handeln des ‚Stifters‘ hinzuweisen.
Colston verschwand nun aber nicht für immer im Hafenbecken, sondern wandert jetzt in einen Museumskeller. Damit besteht natürlich die Gefahr, dass er und viele andere nicht minder problematische historische Figuren aus der Öffentlichkeit verschwinden und mit ihnen der Anlass zum Nachdenken. Banksy, der weltberühmte Street-Art-Künstler, hat auf Instagram einen bedenkenswerten Vorschlag gemacht: Man solle die Colston-Statue aus dem Hafenbecken fischen und sie wieder aufstellen und dabei gewissermaßen den Moment ‚verewigen‘ in dem er gestürzt werden soll. Einige neue Bronzestatuen könnten dabei die Demonstranten darstellen, die dem Sklavenhändler bereits ein Tau um den Hals gelegt haben. Eine solche künstlerische Bearbeitung, ergänzt durch einen Text, der die historischen Zusammenhänge aufzeigt, wäre eine durchaus sinnvolle Kombination.
Leere Sockel ersetzen Aufarbeitung nicht
Wenn Denkmäler vom Sockel gestürzt werden, dann brandet Beifall auf, und nicht selten ist dieser inhaltlich auch gerechtfertigt. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an den Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein, der in einem ersten Aufwallen der Gefühle der Massen vom Sockel gerissen wurde als Ausdruck der Erleichterung angesichts des Todes eines perfiden Massenmörders. Wer hätte dafür kein Verständnis? Doch heute zeigt sich: der Diktator ist tot, das Denkmal ist weg, aber die Lage ist dennoch schlecht. Und Bilderstürmerei ersetzt die Debatte über Personen und ihre Handlungen nicht. Ganz im Gegenteil: Wenn Denkmäler aus der Öffentlichkeit verschwinden und auf dem Schrottplatz der Geschichte oder im Hinterhof eines Museums landen, dann fehlen auch die Ansätze für den gesellschaftlichen Diskurs. Wer ein Denkmal in die Fluten stürzt, wird meist erleben, dass dann der Grundsatz gilt: ‚Aus den Augen, aus dem Sinn!‘ Wir brauchen aber offene Diskussionen über historische und gegenwärtige Entwicklungen, wenn wir wirklich etwas gegen den Rassismus tun wollen! Und wir brauchen ebenfalls eine hervorragende politisch-historische Bildung junger Menschen, die sie dazu in die Lage versetzt und sollten nicht ausgerechnet am Geschichtsunterricht ‚sparen‘! Ein gutes Beispiel für Gedenken im Alltag sind die ‚Stolpersteine‘, die in personifizierter Weise erinnern an die millionenfachen Morde der Nationalsozialisten an unseren jüdischen Mitbürgern.
Wer kurzerhand Denkmäler aus dem öffentlichen Raum verschwinden lässt, der leistet der Verdrängung Vorschub. Dies scheint beispielsweise die demokratische Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, nicht zu erkennen, die den Kongress von Statuen säubern möchte, die an Südstaatenpolitiker erinnern, welche im Bürgerkrieg auch für die Erhaltung der Sklaverei kämpften. Betroffen wäre u.a. Jefferson Davis als Südstaaten-Präsident. Donald Trump, geschichtlich nicht sonderlich bewandert, lehnt dies kategorisch ab. Wer Pelosis Vorschlag weiter denkt, der wird schnell erkennen, dass er keine Lösung darstellt. Selbst Thomas Jefferson, der 3. Präsident der Vereinigten Staaten und Mitverfasser der Unabhängigkeitserklärung, hielt aus Überzeugung Sklaven auf seinem Landsitz in Virginia. Irgendwann würden sich die Hallen auf dem Capitol Hill leeren, denn warum stehen dort Statuen von Präsidenten, die nichts für die Gleichberechtigung oder den Umweltschutz getan haben? Wenn wir aktuelle Kriterien an historische Entscheidungsträger anlegen, dann werden nur wenige bestehen können. Wir müssen uns mit ihrem Wirken auseinandersetzen und selbstredend auch unsere heutigen Werte und Moralvorstellungen einbeziehen, aber daraus wird nur in seltenen Fällen ein Denkmalsturz resultieren, sondern eine klare Stellungnahme, die Denkmäler und Gedenksteine ergänzen können.
Literatur und politische Korrektheit
Der US-Schriftsteller Mark Twain steht mit seinem ‚Huckelberry Finn‘ immer wieder am Pranger, da die Wortwahl heute aus der Zeit gefallen scheint, denn im Original wird Jim als ‚Nigger‘ angesprochen, doch bereits in deutschen Ausgaben aus meiner Jugendzeit ist der Begriff verschwunden und durch ‚Neger‘ ersetzt worden. Mag jenes Wort heute ebenso unpassend sein, so sollten wir aber auch diesen Satz nicht vergessen: „Vielleicht hätte mich mancher verachtet, der mich gesehen hätte, wie ich einen Neger um Verzeihung bat. Ich selbst aber habe es nie bereut und es ist mir auch vollständig einerlei, was andere darüber denken.“ Kritiker sollten nicht übersehen, dass Huck und Jim ein frühes weiß-schwarzes Duo in der Literatur darstellen, das sich gemeinsam durch eine gefährliche Welt schlägt. Ich bin mir sicher, Mark Twain würde heute anders schreiben, aber gilt dies nicht für alle, die ihre Gedanken schon mal in ein Buch fließen ließen? Auch seine literarische Darstellung einer wilden Floßfahrt auf dem Neckar enthält so manchen Seitenhieb auf Land und Leute, aber sie schildern die damaligen Gegebenheiten in bewundernswert satirischer Überspitzung.
In Astrid Lindgrens ‚Pippi Langstrumpf‘ wurde aus der an deren Vater gerichteten liebevollen Bezeichnung “Negerkönig” ab 2009 in der deutschen Fassung “Südseekönig”. Bei Otfried Preußler verschwand aus ‘Die kleine Hexe’ die Kostümierung für eine Fastnachtsfeier als “Negerlein”. Diese Änderungen tun den Geschichten der betroffenen Autoren sicherlich keinen Abbruch, aber wirklich kleinlich wirkt es, wenn bei Enid Blytons ‚Die fünf Freunde‘ „Aus einem Mädchen namens ‚Bessie‘ wird ‚Beth‘, weil Bessie ein Name aus der Kolonialzeit ist“, so Corinna Bochmann und Walter Staufer in ihrem Beitrag, „Vom „Negerkönig“ zum „Südseekönig“ zum …? – Politische Korrektheit in Kinderbüchern“. Bis zu welchem Grad dürfen literarische Texte beständig auf den neuesten Stand der political correctness gebracht werden? Und wer entscheidet über die Begrifflichkeit?
Propaganda auf der Leinwand
Zweifellos gibt es Filme, die man aus dem Verkehr ziehen kann und muss. Dies gilt z. B. für das nationalsozialistische Machwerk ‚Der ewige Jude‘. Ein antisemitischer Propagandafilm, der die Deutschen auf die von den Nationalsozialisten eingeleitete Ermordung der Juden ‚einstimmen‘ sollte. Gewissermaßen vorbereitet worden war dieser Film durch ‚Jud Süß‘. Der Film kann heute noch gezeigt werden, wenn er in eine entsprechende Informations- und Diskussionsveranstaltung eingebettet ist. Den Film zu sehen war erschütternd, und es ist wichtig, die ganze Perfidie, mit der die Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung hetzten, zu erleben und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Gerade wenn Zeitzeugen aussterben ist es umso wichtiger, das System der Nationalsozialisten zu entlarven.
Ich befürchte jedoch, dass in unseren Tagen die Gefahr besteht, dass auch Filme aus dem Programm genommen werden, die aus heutiger Sicht zwar problematisch sind, aber dennoch ein Zeitdokument darstellen. Der US-Streamingdienst ‚HBO Max‘ hat ‚Vom Winde verweht‘ aus dem Programm genommen, da er die Sklaverei beschönige. Daran besteht kein Zweifel, doch der Hollywoodschinken stammt aus dem Jahre 1939. Gespannt sein darf man, ob ‚HBO Max‘ die Zusage wahrmacht, und den Film mit einer historischen Einordnung und Bewertung wieder ins Programm aufnehmen wird.
Wachsam nach allen Seiten
Wenn wir aus unserer eigenen Geschichte lernen, dann sind wir wachsam nach allen Seiten. Schon einmal wurden Bücher verbrannt, weil den herrschenden Nationalsozialisten der Inhalt der Werke nicht ins verquere politische Denken passte. Zensiert wurde danach aber auch fleißig in der DDR, wo man für eine Karikatur ins Gefängnis wanderte. „Die Verbannung missliebiger Bücher ist doppelt problematisch: Erstens greift sie immer weiter um sich. Die Grenzen des Unsag- und Unzeigbaren neigen zur Ausdehnung“, schrieb Thomas Klingenmaier in der Stuttgarter Zeitung. „Zweitens kann sich der Zensurwille immer nur gegen das bereits als problematisch Erkannte richten. Von Anstößigem völlig bereinigte Umgebungen neigen aber dazu, den kritischen Geist gegenüber dem Zugelassenen einzuschläfern nicht, ihn zu schärfen.“ So mancher eifrige Zensor, der heute ihm missliebige Statuen zerstört oder eine ihm genehme Wortwahl in Büchern einfordert, scheint uns allen auch nicht zuzutrauen, dass wir selbst entscheiden können, wer ein Sklavenhalter oder Rassist ist. Bilderstürmer neigen stets dazu, ihre Weltsicht allen anderen aufzudrücken. Und in einer Mediengesellschaft, die täglich nach einer neuen Sau lechzt, die man durchs Dorf treiben kann, sind auch stürzende Denkmäler gerne gesehen.
Historische Persönlichkeiten werden immer Sonnen- und Schattenseiten haben, was immer auch Anlass für Diskussionen sein wird. Auch Gandhi ist kein Übermensch gewesen, dies zeigt sein Hang, die schwarze Bevölkerung in Südafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht auf eine Stufe mit Indern und Weißen zu stellen. Auch Frauenrechtlerinnen unserer Tage haben wenig Freude an ihm, dennoch bleibt er die Persönlichkeit, die im indischen Freiheitskampf gegen die Briten auf gewaltlose Aktionen setzte. Muss man ihn deshalb vom Sockel stoßen? Nein, aber es ist angebracht, sein Wirken in den politischen Kontext zu setzen und entsprechende Erläuterungen beim Denkmal bereitzustellen. Und Churchill hat im Laufe seiner langen politischen Karriere nicht nur ethisch einwandfreie Pfade beschritten, aber es bleibt der Widerstand der Briten und der USA gegen das verbrecherische NS-Regime, den er zurecht befeuerte.
Moderne Bilderstürmer brauchen wir nicht, sondern wachsame BürgerInnen, die offene Debatten über geschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten führen und an einem gesellschaftlichen Konsens mitarbeiten: Diese aus den Debatten resultierende Erkenntnisse sollten dann Denkmäler besser einordnen lassen. Und hin und wieder sollten wir Banksy folgen, der eine künstlerische Einbindung des überkommenen Denkmals in die heutige Zeit vorschlägt.
Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
Ihren Betrachtungen zu den Denkmälern möchte ich zustimmen. Aus heutiger Sicht werden Personen geehrt, deren Tun wir uns nur zur Warnung angedeihen lassen können.
So verstanden ist ein Denkmal auch ein Aufruf mal zu Denken. Nachzudenken und vielleicht besser, Vorauszudenken.
Ich habe großes Verständnis für die Opfer, die es nicht mehr ertragen wollen, dass die Täter geehrt oder im besten Fall von der Mehrheit ignoriert werden.
Gleichwohl auch Gewalt gegen Sachen stellt Gewalt dar. Die Unterscheidung in den 60er und 70er Jahren, zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen, bildete eine Autobahn, die sich als Sackgasse herausgestellt hat.
Die Verlagerung von Denkmälern, die nicht oder nur schwer erträglich sind in Museen, könnte einen Weg darstellen. Ob und wie er begangen werden soll und kann, muss auf demokratisch legitimiertem Weg entschieden werden.
In unserer Gemeinde endete die Diskussion, was mit der Hindenburgstraße geschieht, damit dass es sie noch gibt und das erläuternde Schild zur Person noch auf sich warten lässt .
Gleichwohl in einer demokratisch, rechtsstaatlichen Gesellschaft, Hände weg von Denkmälern. Der richtige Weg ist die Diskussion, wie mit diesen umzugehen ist, der eine legitimierte Entscheidung folgt.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Walter