Deutschlands Städte zwischen Wohnungsnot und Leerstand

Regionalförderung braucht innovative Impulse

So ist das in Deutschland: während in der niedersächsischen Stadt Goslar am Harz dringend neue Einwohner gesucht werden, tut sich das baden-württembergische Esslingen am Neckar schwer, die Neubürgerinnen und -bürger unterzubringen. So stehen in der einen Stadt Wohnungen leer, in der anderen werden auch die Kaltluftschneisen zugebaut, die das Leben in Zeiten des Klimawandels noch erträglich machen.

Aber dies sind nur zwei Beispiele unter vielen, noch schlimmer hat es eine ganze Reihe kleiner und großer Kommunen in den sogenannten neuen Bundesländern erwischt, denen die Menschen – vor allem die jungen Familien – abhandengekommen sind.  Chemnitz verlor rd. 20 % seiner Einwohnerschaft, Hoyerswerda 50 % und Schwerin fast 30 %. Im Mai 1990 wurden Halle und Halle-Neustadt in Sachsen-Anhalt vereinigt und brachten es auf knapp 317 000 Einwohner, heute leben dort nur noch rd. 237 000 Menschen: Ein rapider Schwund an Bewohnern mit all seinen Folgen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Nun wissen wir alle, dass man Menschen – auch wenn es die sozialistische DDR-Führung versucht hatte – nicht durch Mauern langfristig von der freien Wahl ihres Wohnortes abhalten kann. Aber wenn nicht neue Ansätze gefunden werden, um Menschen gleichmäßiger in Deutschland eine ‚Heimat‘ zu bieten, dann platzen manche Städte im Westen aus allen Nähten und im Osten macht irgendwann in manchen Gemeinden der letzte das Licht aus. Ein alter und makabrer Witz aus DDR-Zeiten würde dann doch noch wahr.

Wenn Städte wie Halle-Neustadt in Sachsen-Anhalt dramatisch Bewohner verlieren, dann bringen diese in anderen Kommunen den Wohnungsmarkt durch ihren Zuzug mit ins Wanken. Aber nicht nur Gemeinden in den neuen Bundesländern kämpfen um Einwohner, sondern auch Goslar am Harz. In Halle-Neustadt wurden viele Gebäude nach der Wende renoviert, doch wenn neue Mieter fehlen, dann macht auch dies keinen Sinn. (Bild: Ulsamer)

Entscheidung mit den Füßen

Nicht nur in den – nicht mehr so „neuen“ – östlichen Bundesländern machen sich noch immer viele Bürgerinnen und Bürger auf, um anderswo ihr Glück zu suchen, sondern eben auch in Goslar – um bei diesem Beispiel zu bleiben. 1950 hatte die Stadt 66 500 Einwohner, selbst 1985 zählte sie noch 60 800 Köpfe – und dies im damaligen Zonenrandgebiet – aber davon sind 2015 nur noch 50 800 übriggeblieben. Wirtschaftliche Schwerpunkte haben sich in der Bundesrepublik Deutschland verschoben, und es ist den Menschen natürlich nicht vorzuwerfen, dass sie sich in Richtung Arbeitsplätze aufmachen. Ganz im Gegenteil, denn daraus spricht Vernunft und Verantwortung für sich selbst, die Familie und die Gemeinschaft.

Nehmen wir die Flüchtlinge hinzu, die mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, aber allemal in Millionenstärke nach Deutschland kamen, dann zeigt sich dort ein ähnliches Phänomen. Sie suchen den Kontakt zu Landsleuten und bilden damit wieder Schwerpunkte, eher in den Ballungszentren, und dies ganz abgesehen von der Zuweisung in bestimmte Orte oder Landkreise. Nicht wenige Migranten sah ich ihre Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle in Richtung Bahnhof verlassen, obwohl sie noch nicht registriert worden waren. Auch sie nahmen die Entscheidung selbst in die Hand, wo sie ihre Zukunft sehen. Damit sind aber auch häufig offizielle Zahlen über Flüchtlinge obsolet – oder wer hat sie am Morgen zwischen Geldtausch bei der Kreissparkasse und Einstieg in den Zug registriert?

Technische Infrastruktur nicht ausschlaggebend

Wenn wir den Trend des Zuzugs nicht verändern – und dies gilt für angestammte Bürger und Neuankömmlinge gleichermaßen -, dann werden manche Städte und kleinere Gemeinden in den Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Bayern gewissermaßen überrannt, während sich strukturschwache Regionen entvölkern. Menschen werden aber nur in Kommunen bleiben, in denen sie Arbeit finden, die ein befriedigendes soziales Umfeld bieten, in denen sich für Kinder und Jugendliche Zukunftsperspektiven öffnen. Und in denen auch ein befriedigendes Verhältnis zwischen Natur und Besiedlung herrscht. Natürlich gibt es auch den absoluten Stadtmenschen, den jedes Gebüsch stört und Vogelgezwitscher erschreckt, aber die Mehrheit wünscht sich in und außerhalb der Städte auch grüne Bereiche.

Folgen wir diesem Gedankengang, dann bedeutet dies auch, dass es an der Zeit ist, nicht nur den Ausbau der technischen Infrastruktur in den neuen Bundesländern und anderen Regionen mit Strukturschwächen voranzutreiben, sondern nachhaltige Arbeitsplätze und soziale Strukturen aufzubauen. Die schönste Autobahn, die schnellste ICE-Verbindung oder die modernste Kläranlage und renovierte Plattenbauten oder preisgünstige Baugrundstücke halten keine Bürgerinnen und Bürger am Ort, wenn sich kein positives Lebensgefühl entwickelt.

Überzogene Fördermittel lähmen Veränderungswillen

Verleitet durch die jährlichen Milliardenbeträge aus dem Solidaritätszuschlag wurde viel zu lange auf Asphalt und Beton gesetzt! Ganz nebenbei entstand so auch eine neue zweifache Spaltung in Deutschland: In den westlichen Bundesländern gibt es Arbeitsplätze, in den östlichen Regionen leerstehenden Wohnraum oder Freiflächen für die Bebauung. In den alten Bundesländern bröselt die Verkehrsinfrastruktur vor sich hin, sei es Schiene oder Straße, und in den neuen Bundesländern gibt es Ortsumfahrungen um entvölkerte Gemeinden, Autobahnen und Schienentrassen mit höchstem Standard und wenig Auslastung. Längst mussten in den neuen Bundesländern Kläranlagen verkleinert werden, die nach der Wende viel zu üppig dimensioniert wurden.

Moderne Verkehrsinfrastruktur ist unerlässlich für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, aber wenn Arbeitsplätze fehlen und sich kein positives Lebensgefühl entwickelt, dann sind auch Autobahnen und ICE-Strecken – wie hier bei Halle – keine solide Basis für eine nachhaltige Entwicklung: Menschen zieht es dann auf diesen Verkehrsadern eher in die Ferne als in die strukturschwachen Räume. (Bild: Ulsamer)

Bestürzend ist es für mich, dass diese Probleme weder bei der Bundesregierung unter Angela Merkel noch in den Bundesländern frühzeitig zu einer Neuorientierung geführt haben. Wenn es um Fördermittel geht, dann ruft jeder erstmal ‚Ja‘, auch wenn ein weiterer Ausbau der Infrastruktur völlig sinnlos ist und die Menschen ganz andere Probleme haben: Verlustängste lassen sich nicht zubetonieren und wacklige Beschäftigungsverhältnisse können auch nicht mit Asphalt kaschiert werden. Wenn eine glänzende Infrastruktur in den neuen Bundesländern für die Bürgerschaft wahlentscheidend wäre, dann hätten sicherlich nicht so viele Wählerinnen und Wähler für die AfD gestimmt.

Ein Musterbeispiel dafür, dass eine Flut an Fördermitteln keine grundsätzlichen Probleme lösen kann, ist das Ruhrgebiet. Einst ein industrieller Kern, heute ein Kostgänger anderer Regionen. Somit ist dieses Beispiel aus Nordrhein-Westfalen ein Beleg dafür, dass es nicht immer um ein Spannungsverhältnis zwischen Ost und West geht. Fördermittel können lähmend wirken und die Entwicklung neuer Ideen und Projekte eher beeinträchtigen, denn voranbringen: Häufig wird Althergebrachtes mit Subventionen gepäppelt, während innovative Unternehmer keine Fördermittel erhalten. Und es können auch nicht alle Bürgerinnen und Bürger im Museum arbeiten, das an vergangene und oft glorifizierte Zeiten erinnert.

Verdichter statt Dichter

Nochmals zurück in eine wirtschaftlich erfolgreiche Region und zur Stadt Esslingen. Diese Stadt am Neckar in unmittelbarer Nähe der Landeshauptstadt Stuttgart ist nur ein Beispiel unter vielen: Die dort wohnenden Bürger nehmen pro Kopf mehr Wohnraum ein als in vorhergehenden Jahrzehnten. Ein genereller Trend in Deutschland und anderen entwickelten Industrienationen! Dazuhin zieht die florierende Industrie – mit Namen wie Mercedes-Benz, Bosch, Porsche, Festo – viele Arbeitnehmer aus anderen Regionen an. Zusammengenommen entwickelt sich dann – erhöht durch den Bedarf der Flüchtlinge – ein unglaublicher Druck auf den Immobilienmarkt.

So ist es auf den ersten Blick auch verständlich, wenn die Stadtverwaltung neue Baugebiete ausweist. Bei einer intensiveren Betrachtung der möglichen Bauflächen wird aber ein Widerspruch zu ökologischen Erfordernissen erkennbar. Musterbeispiel ist das ‚Greut‘, über das ich schon einmal berichtet habe. Statt 120 sollen nun nur noch 70 Wohnungen auf diese Fläche zwischen den Esslinger Stadtteilen Krummenacker und Serach gebaut werden. Dies ist eine Folge des Widerstands mehrerer Bürgerinitiativen, die die Kaltluftschneise erhalten wollen.

Wer sich gegen Bauvorhaben wendet, der gerät schnell in den Geruch, weiteren Nachbarn die eigene Wohnung nicht zu gönnen. Aber macht es wirklich Sinn, die letzten Frischluftschneisen – wie hier im Esslinger ‚Greut‘ – zu blockieren und jedes grüne Fleckchen zu betonieren? Letztendlich lassen sich Wohnungsengpässe nicht in einer einzelnen Stadt – wie Esslingen – lösen, sondern nur durch bundesweite Anstrengungen: Arbeitsplätze und Wohnungen sowie ein positives soziales Umfeld müssen Menschen auch in strukturschwache Regionen ‚locken‘ und ihnen dort eine Heimat bieten. (Bild: Ulsamer)

Letztendlich scheinen sich jedoch Stadtverwaltung und Gemeinderatsmehrheit durchzusetzen. Von Einsicht also keine Spur. Eine Streuobstwiese, so die Stadtverwaltung unter SPD-Oberbürgermeister Jürgen Zieger, soll erhalten und in einen ‚Bürgerpark‘ umgewandelt werden. Auch eine Aussichtsplattform soll die Anwohner ‚erfreuen‘, allerdings wird so aus einem echten Biotop mit minimaler Nutzung ein städtischer Park. Wenn die Aussichtsplattform dann so endet wie ein Aussichtspunkt oberhalb von Serach, also gar nicht weit entfernt, dann finden sich auch dort Müll, Glasscherben von zerschlagenen Flaschen, Zigarettenkippen usw. Ob dies im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und der Natur ist, das bezweifle ich dann doch.

In unmittelbarer Nähe zum geplanten Neubaugebiet ‚Greut‘ trafen sich im Schloss Serach in den 1830er Jahren Dichter wie Julius Kerner, Nikolaus Lenau, Emma Niendorf, Ludwig Uhland und Gustav Schwab. Doch in der Stadt der Dichter regieren heute die Verdichter, die auch die letzte Freifläche bebauen und in die Baulücke, die vorher ein kleines Einfamilienhaus beherbergte, ein Mehrfamilienhaus quetschen. Und in Zeiten der Nullzinspolitik des Mario Draghi, seines Zeichens Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), finden sich auch genügend Investoren und Bauherrn, die ihr Heil im Betongold sehen – und dies zu jedem Preis.

Klimawandel fordert Opfer

Von einer wirklichen Kaltluftschneise, die auch für die Esslinger Innenstadt wichtig ist, bleibt nach der Bebauung des Greuts wenig übrig, dennoch läuten bei der Stadtverwaltung die Alarmglocken nicht. Man zaubert das passende Gutachten aus der Tasche und bald sollen dann die Bagger anrollen. Nicht nur in Esslingen, sondern auch in vielen anderen Städten wird noch der Bauwut gehuldigt, obwohl der Klimawandel uns zusätzliche Sommertage mit drückender Hitze bringen wird. Manchmal frappiert mich die ungebrochene Verdichter-Strategie, obwohl vorausschauende Städteplaner vor der Bebauung von Grünflächen und dem Abschneiden von Kaltluftschneisen warnen. Aber die in der Zukunft von Hitze und Stress dahingerafften Opfer können sich ja dann nicht mehr rückwirkend beklagen.

Völlig unverständlich ist es für mich, dass in einem vom Verkehr ohnehin stark beeinträchtigten Stadtteil weitere Wohnungen gebaut werden sollen – zusätzlich zu den überall sichtbaren ‚Lückenfüllern‘. Bus und Rad können den Zuwachs nicht auffangen, sondern weitere Autos werden die Straßen von den Esslinger Höhen ins Neckartal verstopfen. Wie bei mehr Einwohnern der Verkehr reduziert werden soll, dies ist mir ein Rätsel. Der ÖPNV im Großraum Stuttgart würde ohnehin zusammenbrechen, wenn plötzlich 20 oder 30 Prozent mehr Fahrgäste Busse und Bahnen bevölkern würden.

Anreize zur Verteilung schaffen

Selbstredend können wir nicht mehr in eine Zeit zurückkehren, in der der bereits erwähnte Gustav Schwab schrieb: „Die alte Stadt Eßlingen ruht aus und verjüngt sich im Schoosse der reichsten Natur.“ (Otto Borst: Geschichte der Stadt Esslingen am Neckar) Seit den 1830er Jahren hat sich vieles verändert und in den meisten Fällen auch zum Besseren. Aber wir müssen dennoch aufpassen, nicht auch noch das kleinste Fleckchen Grün in unseren Städten zuzubauen. So werden wir auch politisch nicht umhinkommen, das Wachstum an Wohnungen und Häusern in manchen Städten zu stoppen. Festmachen müssen wir Entscheidungen dabei in erster Linie an der bebauten Fläche und nicht unbedingt an der Einwohnerzahl, denn auch bei weniger Bewohnern können durchaus mehr Flächen benötigt werden.

Ungewöhnliche Wege beschritt 2014 der Goslarer CDU-Oberbürgermeister, Oliver Junk: Er war bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, um dem Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken und leerstehende Wohnungen mit neuem Leben zu füllen. Mit seiner Erklärung fand er bundesweite Aufmerksamkeit. (Bild: Screenshot, „Der Tagesspiegel“, 4.12.17)

Wenn wir einer ‚falschen‘ Lokalisierung entgegenwirken wollen, dann müssen wir Anreize dafür schaffen, bestimmte Arbeitsplätze in Regionen anzusiedeln, die von Strukturschwächen und Abwanderung gekennzeichnet sind. Kein vernünftiger Mensch wird davon ausgehen, dass industrielle Großunternehmen umziehen, denn vielfache Milliardeninvestitionen und damit verbundene Arbeitsplätze können im Regelfall nicht an andere Orte verschoben werden. Es wird jedoch darum gehen, neue Cluster von Firmen in die schwächelnden Kommunen zu ‚locken‘. Ganz bewusst spreche ich nicht von einzelnen Betrieben, sondern von Netzwerken, die in bestimmten Themengebieten forschen oder Dienstleistungen erbringen. Hier können sich Fühlungsvorteile ergeben, wenn sich dank der in Deutschland dezentralen Hochschulstruktur auch entsprechende Institute in der Nähe befinden. Dass neue Technologien nicht unbedingt in alten Industriezentren sprießen, dies belegt die grandiose Entwicklung des Silicon Valleys in Kalifornien. Apple, Intel, Google, Facebook starteten dort ihre weltweite Erfolgsstory. Die Gründung eines Industrieparks durch die Stanford University bereits 1951 gab gewissermaßen den Startschuss, und viele Absolventen der Universität verbanden wissenschaftliche Erkenntnisse mit unternehmerischem Mut und schufen eigene Unternehmen.

Nicht jede deutsche Hochschule ist nun gleich eine Stanford University, dennoch ist es längst überfällig, intensiver als bisher Hochschulen in strukturschwachen Räumen – oft mit ländlicher Prägung – mit den Unternehmen zu verzahnen. Aus meiner Tätigkeit in zwei Hochschulräten ist mir vertraut, dass hier schon viel unternommen wird, um einen noch stärkeren Mehrwert für die jeweilige Region zu erbringen. Hierbei benötigen unsere Hochschulen aber mehr Unterstützung durch Bund und Länder. Letztendlich muss aber auch massiver als bisher Wagniskapital für innovative Unternehmensgründer zur Verfügung gestellt werden.

Regionalförderung neu fokussieren

Wirft man einen Blick auf die Internet-Seite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, dann finden sich in einer „Förderdatenbank (Förderprogramme und Finanzhilfen des Bundes, der Länder und der EU)“ durchaus erfreuliche Zahlen: „Im Zeitraum 1991 bis 2015 wurden für Investitionen der gewerblichen Wirtschaft im Rahmen der GRW-Förderung über 46 Milliarden EURO bewilligt. Damit wurden Investitionen mit einem Gesamtvolumen von 250 Milliarden EURO angestoßen und mehr als 1,1 Millionen zusätzliche Dauerarbeitsplätze geschaffen sowie über 2,4 Millionen vorhandene Dauerarbeitsplätze gesichert.“  Im gleichen Zeitraum wurden im Rahmen der „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GWR) weitere 23 Milliarden EURO für „wirtschaftsnahe Infrastruktur“ bewilligt.

Ländliche Regionen müssen nicht ‚ausbluten‘, dies belegt der Landkreis Tuttlingen in Baden-Württemberg: Im 19. und bis ins 20. Jahrhundert dominierten hier Schuhindustrie und Messerschmieden. Aus letzteren und weiteren Impulsen entwickelte sich die Herstellung von chirurgischen Geräten – und letztendlich wurde Tuttlingen zum ‚Weltzentrum der Medizintechnik‘ mit rd. 600 medizintechnischen Unternehmen. Die Schuhindustrie, die um 1925 in 40 Betrieben über 3400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigte, ist weitgehend aus der Region verschwunden. Erwähnenswert ist die Firma Rieker, die heute aus der Schweiz gesteuert wird und weltweit 20 000 Menschen beschäftigt. Gegründet wurde das Unternehmen 1874 als erste Schuhfabrik in Tuttlingen. Längst haben sich auch zahlreiche Automobilzulieferer in der Region angesiedelt. Neu hinzu – siehe Bild – kommt nun das Prüf- und Technologiezentrum der Daimler AG, und dies ohne Fördermittel: Auf 500 Hektar Fläche entstehen auf einem Standortübungsplatz und in einer ehemaligen Kaserne der Bundeswehr und der Deutsch-französischen Brigade in Immendingen hochmoderne Entwicklungs- und Forschungseinrichtungen. Es geht bei diesem Konversionsvorhaben um die Weiterentwicklung autonom fahrender Pkw und die weitere Optimierung von Verbrennungsmotoren, Hybridfahrzeugen und Elektroautos mit Batterie oder Brennstoffzelle. Auch dies ist ein Beleg dafür, dass der ländliche Raum wirtschaftliche Chancen hat, wenn die Bürgerschaft diese innovativen Projekte unterstützt. (Bild: Ulsamer)

„Regionalpolitik ist Standortpolitik von Regionen und für Regionen. Sie ist Teil der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Eine koordinierte und geordnete Regionalpolitik ist Voraussetzung für die ausgewogene regionale Entwicklung eines Landes“, so heißt es beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie weiter. Ob die Kriterien für die Förderprogramme richtig gewählt sind, das möchte ich hier nicht diskutieren, aber die Frage aufwerfen, ob nicht stärker als bisher auf besonders innovative kleine und mittelständische Unternehmen geachtet werden müsste, die sich im Umfeld von Hochschulinstituten oder anderen Forschungseinrichtungen gründen oder ansiedeln. Nur wer für einzelne Regionen klare inhaltliche Festlegungen trifft, der wird auch Erfolg haben: Jede Region bei allerlei Themen fördern, nur weil sie strukturschwach ist, bringt keine nachhaltige Entwicklung.

Wenn wir das ‚Überlaufen‘ mancher Städte und Regionen verhindern, dann können wir eine lebenswerte Umwelt erhalten, die für die Sicherung moderner Standorte so wichtig ist wie Produktionsanlagen. Aus meiner Sicht gibt es ein Recht auf Wohnung, aber nirgendwo steht, dass sich Städte über alle Maßen und zu Lasten der Ökologie aufblähen müssen. Wirtschaftliche und soziale Impulse sind dagegen für die Kommunen und ihr Umland wichtig, die durch die Abwanderung der Menschen und der Wirtschaft in die Knie gehen. Menschen können dann auch dort ihr Leben positiv gestalten. Viele Probleme wurden hier durch Mittel des Solidaritätszuschlags oder andere Subventionen nur übertüncht, aber Fördermittel dürfen nicht als dauerhaftes Beruhigungsmittel genutzt werden, sondern müssen Innovation und Nachhaltigkeit voranbringen.