Deutschland: Kirchenmitglieder erstmals in der Minderheit

40 000 kirchlichen Immobilien droht die Umwidmung

In den Kirchen leeren sich nicht nur die Bänke, sondern auch die Kassen, denn es fehlen gleichzeitig die Kirchensteuerzahler. Der Trend weg von den christlichen Religionen hat in Deutschland ein dramatisches Ausmaß angenommen. Um so verwunderlicher ist es, dass weder durch die katholische noch die evangelischen Kirchenleitungen ein echter Ruck geht. Hat sich so mancher hauptamtliche Kirchenvertreter damit abgefunden, dass – wie auf der Titanic – zwar noch die Musik spielt, doch das Kirchenschiff ist längst leckgeschlagen und sinkt ohne echten Widerstand? Ein Augenöffner ist die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Titel „Wie hältst du’s mit der Kirche?“ Besonders aufschlussreich sind die Ergebnisse dieser Forsa-Befragung von über 5 000 Personen, da erstmals auch die Deutsche Bischofskonferenz als Auftraggeber mitwirkte und so ein sehr viel breiteres Bild in Sachen Religiosität entsteht. Waren 1972 noch 46 % der Bevölkerung Mitglied der EKD-Gliedkirchen und 44 % der römisch-katholischen Kirche, so entfielen 2022 – zum Zeitpunkt der Befragung – 23 % auf die evangelischen und 25 % auf die katholische Kirche, auf andere Religionsgemeinschaften 9 %. Die konfessionslosen Bürger brachten es auf 43 %. Folgen wir den Autoren der Studie, dann werden die Konfessionslosen bereits 2027 in der Mehrheit sein. Aber schon im laufenden Jahr 2024 dürften die christlichen Religionen – evangelisch, katholisch, orthodox u. a. – in Deutschland unter die 50-Prozent-Marke fallen. Drohen die großen Volkskirchen in Deutschland zu Sekten zu schrumpfen?

Das Ulmer Münster mit seinem hohen Kirchturm erhebt sich über den Markt mit einem Blumenstand.
Kirchtürme recken sich gen Himmel, und sie sind nicht nur ein religiöses Symbol, sondern auch von kultureller Bedeutung. Das Ulmer Münster, der größte evangelische Sakralbau Deutschlands, wird von einem über 161 Meter hohen Turm überragt, dem höchsten Kirchturm der Welt. Mit der Grundsteinlegung 1377 bekannten sich die weniger als            10 000 Einwohner Ulms zu ihrer geplanten Pfarrkirche und übernahmen die Finanzierung. Das Ulmer Münster steht somit für bürgerschaftliches Engagement und städtische Eigenständigkeit. (Bild: Ulsamer)

Gesunkenes Vertrauen in Kirchen

Die Studie „Wie hältst du’s mit der Kirche?“ macht deutlich, dass bereits zum Zeitpunkt der Befragung eine Mehrheit der Bürger zu den „Säkularen“ zählte: 56 % der Bevölkerung gaben an, dass Religiosität in ihrem Leben keine Rolle spiele, in Westdeutschland waren es 53 %, in Ostdeutschland 73 %. Interessant ist der Hinweis, dass sich auch 35 % der katholischen und 39 % der evangelischen Kirchenmitglieder zu den ‘Säkularen‘ zählen, 85 % sind es bei den Konfessionslosen. Selbst unter manchen Kirchenmitgliedern spielt somit Religion eine geringe oder gar keine Rolle mehr. Die hohe Zahl der Befragten lässt Schlüsse auf Muslima und Muslime zu. „Die Hälfte von ihnen sind Religiös-Distanzierte. Jeweils zu einem Viertel handelt es sich um Säkulare oder um Menschen mit einer religiösen Orientierung, die der Kirchlich-Religiösen entspricht“, so die Autoren der knapp 100seitigen Veröffentlichung ‚Wie hältst du’s mit der Kirche?‘, die ‚Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung‘ präsentiert. Im Übrigen: Eine höchst aufschlussreiche und lesenswerte Publikation! Zu den ‚Kirchlich-Religiösen‘ zählen dagegen nur noch 13 % der Bevölkerung, wobei sich wieder ein deutlicher Unterschied zwischen Westdeutschland (14 %) und Ostdeutschland (9 %) zeigte. Die ‚Kirchlich-Religiösen‘ verlieren Menschen gerade an die ‚Religiös-Distanzierten‘, und ihre Gruppe hat den höchsten Altersdurchschnitt, was rein demographisch seine Folgen haben wird. Insgesamt nimmt nicht nur der Bezug zur Religion bei vielen Menschen ab, sondern aus Distanz entsteht zunehmend Feindseligkeit: „Innerhalb der Säkularen dominierten lange Zeit die Indifferenten, die sich bei Religionsfragen gleichgültig zeigen. Nun sieht es so aus, dass dort die religiöse Entfremdung so groß geworden ist, dass Religion als etwas kulturell Fremdes und damit als eine Bedrohung der eigenen Identität empfunden wird“, so die Autoren des bereits genannten Büchleins. Bei Bürgern, die die christliche Religion geradezu als Bedrohung empfinden, gibt es natürlich wenig Chancen, sie für die evangelische oder katholische Kirche zurückzugewinnen. Die Untersuchungsergebnisse lassen erkennen, dass die These, man könne ohne Kirche religiös sein, in der Breite nicht zutrifft. Vielfach wird gemutmaßt, dass Mitglieder ihrer Kirche den Rücken kehren und sich in neue esoterische Welten aufmachen, doch dafür gibt es ebenfalls keine empirischen Daten für unsere Tage.

Blick in einen Kirchenraum mit zahlreichen hellbraunen Holzbänken. Im Hintergrund einige Steinsäulen und dazwischen der Altar. Dahinter bemalte Glasfenster.
Nicht nur in Deutschland werden die Gottesdienstbesucher immer weniger, sondern auch in Irland. Vor drei Jahrzehnten waren die Kirchen an Sonntagen gut gefüllt, doch aufgedeckte Missbrauchsskandale ließen den Besucherstrom versiegen. Dies trifft in einem Land ohne Kirchensteuer die kirchliche Organisation noch härter. Der Grundstein für St. Mary in Dingle (Kerry) wurde 1862 gelegt, denn viele Kirchen entstanden in Irland erst im 19. Jahrhundert, als die Repressionen der englischen Besatzer gegen die katholische Kirche nachließen. (Bild: Ulsamer)

Wenn immer mehr Mitglieder ‚ihrer‘ Kirche den Rücken kehren, dann ist das kein Ausdruck der Individualisierung, denn ansonsten müsste es zu mehr wechselseitigen Übertritten kommen, sondern um einen Prozess der Entkirchlichung. Die Verbundenheit mit der evangelischen oder katholischen Kirche hat stark nachgelassen, lediglich vier Prozent der katholischen und sechs Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder sagen noch von sich selbst, sie seien ein gläubiges Mitglied der Kirche und fühlten sich mit dieser eng verbunden. Ernüchternd sind die Aussagen zum Vertrauen, das die Kirchenmitglieder in ihre Kirche haben. Bei den Katholiken liegt das Vertrauen in ihre Kirche auf dem gleichen Niveau wie zu politischen Parteien. „Die evangelische Kirche schnitt dabei bei ihren Mitgliedern besser ab als die Bundesregierung und nur wenig schlechter als Diakonie/Caritas oder die Justiz.“ Die Mitglieder beider Kirchen sehen erheblichen Veränderungsbedarf bei den jeweiligen Organisationen, wobei der Druck auf katholischer Seite deutlich stärker ist. Dies war im Grunde nach den Missbrauchsskandalen und den jahrzehntelangen Vertuschungsversuchen nicht anders zu erwarten. Nicht nur mir fehlt jegliches Verständnis für die Vertuschung verabscheuungswürdiger Übergriffe auf Kinder und Jugendliche durch Pfarrer. Wer – wie Kardinal Rainer Maria Woelki – den Elan des Aufklärers vermissen lässt, der hätte längst von Papst Franziskus abberufen werden müssen. Aber der Rücktritt der EKD-Vorsitzenden Annette Kurschus im November 2023 als Folge von Vertuschungsvorwürfen zeigt, dass auch in der evangelischen Kirche noch so manches dunkle Eck ausgeleuchtet werden muss.

In hellen Buchstaben steht St. Katharina an einem Kirchengebäude. Darunter ein blaues Transparent mit Informationen zum Diskussionsprozess, ob die kleine Kirche erhalten werden kann.
In den nächsten Jahrzehnten stehen voraussichtlich 40 000 kirchliche Immobilien zur Disposition, da sie wegen des Mitgliederschwunds nicht mehr gebraucht oder nicht länger unterhalten werden können. Daher macht es Sinn, möglichst früh über neue Konzepte oder alternative Nutzungen nachzudenken. (Bild: Ulsamer)

Von der Mehrheit zur Minderheit

Sollte sich die Entwicklung der zurückliegenden 50 Jahre fortsetzen, die die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen umfassen, dann droht der evangelischen Kirche eine Halbierung der Mitgliederzahlen in den 2040er Jahren. Nicht nur Austritte oder das Versterben Älterer spielen bei beiden Kirchen eine Rolle beim Schwund der Mitglieder, sondern auch die zurückgehende Zahl von Täuflingen bzw. von Kindern und Jugendlichen, die noch eine religiöse Sozialisation erfahren. Wer in jungen Jahren keine Bezüge zur Religion hat, der wird sich nur in seltenen Fällen später für einen Kircheneintritt entscheiden. Unter den evangelischen Kirchenmitgliedern nennen 70 % die Konfirmation an erster Stelle, wenn sie danach gefragt werden, wer in ihrer Kinder- und Jugendzeit einen Einfluss auf die Entwicklung ihrer späteren religiösen Einstellung hatte. Auf Platz zwei folgt mit 64 % die Mutter. Bei katholischen Befragten liegt die Mutter mit 73 % an erster Stelle, die Erstkommunion und Firmung mit 69 % dahinter. Konfirmation und Erstkommunion/Firmung sind daher wichtige Ansatzpunkte, um Menschen in den Kirchen zu halten, wenn sie sich positiv an diese Anlässe und die vermittelten Inhalte – und nicht nur an die Geschenke – erinnern. Bei sinkenden Taufquoten entfallen für viele Menschen natürlich Konfirmation oder Erstkommunion. So geht laut der Studie der Anteil der Getauften an der Gesamtbevölkerung von einer Generation zur nächsten zurück. „Der Prozentsatz der Nicht-Getauften beträgt in der Generation ab dem 70. Lebensjahr 2 % (bezogen auf die Gesamtbevölkerung), unter den heute 45-69-Jährigen 19 %, unter den heute 14-44-Jährigen 27 %.“ Ursachen sind die nachlassende Taufbereitschaft bei Kirchenmitgliedern und nicht nur die zunehmende Zahl der Konfessionslosen oder die Zuwanderung aus dem Ausland. Fehlt die Taufe als Ausgangspunkt für eine religiöse Sozialisation, schwächeln folgerichtig die weiteren Verbindungen zur Kirche. Manche Eltern lassen ihre Kinder später doch noch taufen, aber es dürfte sich dabei um Einzelfälle handeln. Geraten Protestanten und Katholiken immer stärker in eine Minderheitenposition, dann stellt sich stärker als bisher beim christlichen Religionsunterricht die Akzeptanzfrage hinsichtlich einer konfessionellen Ausprägung bzw. kirchlicher Mitwirkung. Da sich die ökumenische Grundhaltung verstärkt hat, wäre ein christlicher Religionsunterricht ohne konfessionelle Aufteilung vermutlich ein wichtiger Schritt, um diesen überhaupt erhalten zu können.

Gebäude einer ehemaligen Kirche im englischen Chesterfield. Der Turm und die ehemaligen Kirchenfenster sind erhalten. Am Gebäude steht auf einem Schild SO! und kleiner Bar.
Bei den anstehenden Umwidmungen von Kirchen in Deutschland wäre es schön, wenn sie nicht als Bar – wie hier im englischen Chesterfield – oder als von chinesischen Investoren betriebenen Bazar wie im spanischen Bilbao enden. (Bild: Ulsamer)

Der Gottesdienstbesuch und das private Gebet haben an Zuspruch verloren. Dagegen ist die Erwartungshaltung groß, dass sich die Kirchen sozial und gesellschaftlich weiter engagieren. Ob sich das aber als Rettungsanker erweist, wage ich ernsthaft zu bezweifeln. Schnell könnten die Kirchen dann zu einem sozial engagierten Verein wie viele andere werden. Ein Rückzug aufs rein Religiöse hilft jedoch auch nicht weiter. Schwinden die Mitgliederzahlen wie prognostiziert, stellt sich vermehrt Ebbe in den kirchlichen Kassen ein. Dies bedeutet nicht nur das Zusammenlegen von Gemeinden, da Pfarrer bzw. Mitstreiter fehlen oder nicht mehr finanziert werden können. In einem Positionspapier, das in ‚Kirche & Recht‘ erschienen ist, machen der evangelische Oberlandeskirchenrat Adalbert Schmidt und der Justiziar des katholischen Erzbistums Hamburg, Karl Schmiemann, deutlich, dass bis 2060 rd. 40 000 Immobilien der evangelischen bzw. katholischen Kirche einer neuen Aufgabe zugeführt werden müssen, da es an Nutzern bzw. Finanzmitteln mangelt. Der Titel ihres Beitrags ‚Kirchliche Baudenkmale – Kulturelles Erbe auf einem steinigen Weg in die Zukunft‘ weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich nicht nur um Gemeinde- oder Pfarrhäuser, sondern gleichfalls um Kirchen handelt. Damit steht ein Teil unseres kulturellen Erbes auf dem Spiel, das in Europa nun mal christliche und jüdische Wurzeln hat.

Die Frauenkirche in Dresden umgeben von renovierten Gebäuden.
Die Dresdner Frauenkirche steht in besonderer Weise für die Verbindung von Religion und Kultur. Auf Vorläuferkirchen ab dem 11. Jahrhundert folgte 1726 die Grundsteinlegung der Frauenkirche. 1736/38 wurde die Orgel von Gottfried Silbermann eingebaut, der als bedeutendster mitteldeutscher Orgelbauer der Barockzeit gilt. Nach Abschluss des ‚Faust‘ besuchte Johann Wolfgang von Goethe 1813 erneut die Frauenkirche. Richard Wagner dirigierte die Uraufführung seines für die Frauenkirche komponierten Werks ‚Das Liebesmahl der Apostel‘. In der Endphase des vom nationalsozialistischen Deutschland begonnen Zweiten Weltkriegs wurde die Frauenkirche durch einen Bombenangriff zerstört und 1966 vom Rat der Stadt zum Mahnmal erklärt. Von 1982 bis 1989 protestierte eine unabhängige Friedensbewegung jeweils am 13. Februar mit Kerzen an der Kirchenruine gegen die Militarisierung der DDR. 1989 warb Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Trümmerberg für die Vision eines wiedervereinigten Deutschlands. Eine Bürgerinitiative setzte sich ab 1990 für den Wiederaufbau der Frauenkirche ein, der 2005 vollendet wurde. „Nach dem Abschluss des Wiederaufbaus erreicht die Frauenkirche mit jährlich 120 Gottesdiensten, 550 Andachten, über 100 Konzerten, zahlreichen Wortveranstaltungen und Zeiten der Besichtigung stets ca. 2 Millionen Gäste“, so heißt es auf ‚frauenkirche-dresden.de‘. Dies ist ein Beweis dafür, dass solch kulturelle Orte Menschen weit über den Kreis der Kirchenmitglieder hinaus ansprechen. (Bild: Ulsamer)

Auf die Menschen zugehen

„Auch wenn der Verlauf von Generation zu Generation bei verschiedenen Formen der Religiosität verschieden sein mag, im Ergebnis dominiert der Rückgang.“ Diese Aussage aus ‚Wie hältst du’s mit der Kirche?‘ wirft ein grelles Licht auf Veränderungen, die häufig wenig Beachtung finden. Die Studie rückt manche Vorurteile zurecht, so z. B. die Behauptung, mit wachsendem Wohlstand gehe zwangsläufig die Religiosität zurück. „Das bestätigt sich zwar empirisch im Ländervergleich, fraglich ist aber, ob sich das auch auf die Individualebene übertragen lässt. Für Deutschland bestätigt sich dies mit dem KMU-Datensatz jedenfalls nicht, eher im Gegenteil: Es sind tendenziell diejenigen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut einstufen, die kirchennaher Religiosität stärker zuneigen als andere.“ Interessant ist der Hinweis, dass häufig Zugehörigkeit zu einer Kirche und ehrenamtliche Tätigkeiten miteinander korrelieren. 41 % der Befragten geben an, sich innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate ehrenamtlich engagiert zu haben. „Differenziert man dies nach Konfessionszugehörigkeit, zeigt sich: 49 % der Katholischen und 46 % der Evangelischen engagieren sich in irgendeiner Weise ehrenamtlich – bei den Konfessionslosen sind es 32 %.“ Diese Zahlen lassen wenig Gutes für das ehrenamtliche Engagement erwarten, wenn die kirchlichen Bindungen weiter dahinschmelzen wie die Gletscher in den Alpen.

Ein Gebäude in weiß-rot gehaltenen Farben. Es ist eine griechisch-orthodoxe Kirche mit mehreren Kreuzen auf dem Dach.
In Esslingen am Neckar steht die größte griechisch-orthodoxe Kirche außerhalb Griechenlands in Europa. Mariä Verkündigung entstand nicht zuletzt mit sehr viel Eigenarbeit und eingeworbenen Spenden ab 1993, also zu einem Zeitpunkt, wo andere christliche Kirchen eher an Rückbau dachten. (Bild: Ulsamer)

Die Autoren des Büchleins – Edgar Wunder, Friederike Erichsen-Wendt und Christopher Jacobi -, dem Auswertungsbände folgen werden, haben sich alle Mühe gegeben und den einzelnen Kapiteln ‚Perspektiven für das Handeln der Kirchen‘ zugeordnet. Ein sicherlich löbliches Unterfangen, doch die aufgezählten Punkte machen mich nicht sehr zuversichtlich, dass sich das Driften gen Abgrund aufhalten lässt. Je schneller die Mitglieder abnehmen desto eher erreichen die evangelische und die katholische Kirche Kipppunkte, ab denen sie immer mehr zu geduldeten Sekten werden. „Die Kirche muss daher ihre Anstrengungen verstärken, ihre Botschaft in einer Sprache zu formulieren, die anschlussfähig ist.“ Dies klingt einfach, dürfte jedoch schwierig sein, denn die traditionell mit den Kirchen verbundenen Menschen dürfen gleichzeitig nicht verprellt werden. Eines ist sicher, die katholische Kirche muss zeitnah und mit der notwendigen Energie die Missbrauchs- und Vertuschungsfälle aufklären, schonungslos offenlegen und sich mit offenem Herzen den Opfern annehmen. Dies wird in manchen Fällen nicht ohne anderes Führungspersonal gehen.

Eine helle Kapelle steht über einer bunten Häuserreihe hoch oben im Fels.
Kirchen müssen nicht unbedingt besonders groß sein, um das Stadtbild mitzuprägen. Dies zeigt die Felsenkirche aus dem 15. Jahrhundert, die sich über den Häusern von Oberstein – einem Ortsteil von Idar-Oberstein – an den Hang schmiegt. (Bild: Ulsamer)

Kirchen nicht als Lifestyle-Accessoire

Die in den Kirchen noch beheimateten ‚Religiös-Distanzierten‘ gilt es anzusprechen und möglichst in der Organisation zu halten. Wichtig ist es, gerade Kinder und Jugendliche bei Erstkommunion und Firmung oder Konfirmation so einzubeziehen, dass das Religiöse auch für ihr weiteres Leben von Bedeutung sein kann. Zu viele Chancen werden beim Religionsunterricht vergeben, die Schülerinnen und Schüler alters- und zeitgemäß anzusprechen. Dies habe ich selbst erlebt, doch eine deutliche Verbesserung des Unterrichts konnten wir weder bei unseren Kindern noch heute bei unseren Enkelkindern erkennen, von Ausnahmen abgesehen. Die Autoren fordern dazu auf, „die gesellschaftliche Relevanz von Kirche aufzuzeigen, auszubauen und zu stabilisieren“. Das dürfte bei einer schrumpfenden Mitgliederschaft nicht einfach sein, allerdings bieten sich Ansatzpunkte bei kirchlichen Kitas, Kindergärten, Schulen, aber auch sozialen Aktivitäten wie Vesperkirchen für benachteiligte oder einsame Mitbürger, Krankenhäusern und Alteneinrichtungen. Diese positiven gesellschaftlichen Bezüge werden jedoch nur zum Tragen kommen, wenn der Reformdruck in der katholischen Kirche – wie beim Zölibat und der stärkeren Beteiligung von Frauen an kirchlichen Ämtern – zu Erfolgen führt. In der evangelischen Kirche sind die Problemfelder nach dieser Studie differenzierter, was deren Bearbeitung aber nicht erleichtert.

Blick vom sogenannten Martin-Buber-Blick über die Grabsteine des jüdischen Friedhofs Heiliger Sand zum christlichen Dom St. Peter in Worms.
Friedhöfe und Gotteshäuser tradieren auch die Kultur einer Gesellschaft. So verbindet der Martin-Buber-Blick den Heiligen Sand, den ältesten jüdischen Friedhof in Europa, mit dem christlichen Dom in Worms: 1000 Jahre gemeinsame jüdische und christliche Geschichte werden hier spürbar. Gewidmet ist diese Aussicht dem berühmtesten jüdisch-deutschen Philosophen und Autor Martin Buber. Mehr dazu in meinem Blog-Beitrag: ‚Worms: Friedhof Heiliger Sand und Dom St. Peter. 1000 Jahre christlich-jüdische Stadtgeschichte‘. (Bild: Ulsamer)

„Zwei Drittel der evangelischen Kirchenmitglieder und drei Viertel der katholischen Kirchenmitglieder schließen einen Kirchenaustritt als Option nicht aus.“  In fast jedem Unternehmen würde bei einer solchen Aussage zur Kundschaft an einer Neuausrichtung oder Restrukturierung gearbeitet. Dafür ist es höchste Zeit in der evangelischen und noch drängender der katholischen Kirche! Dabei geht es um eine personelle und inhaltliche Neuorientierung, die jedoch das traditionelle Wertekonzept berücksichtigen muss, denn ansonsten wird die Kirche nur zu einem Lifestyle-Accessoire. Kirche darf nicht zu einer dekorativen Hülle werden, die mit allerlei Aktivitäten befüllt wird. So ließen sich Bundesfinanzminister Christian Lindner und die Journalistin Franca Lehfeldt im November 2020 in der evangelischen Kirche St. Severin auf Sylt trauen, obwohl sie beide keine Kirchenmitglieder sind. Ich habe erhebliche Zweifel, ob Events solcher Art zur Stärkung der evangelischen Kirche beitragen. Wenn in einer Kirche eine Eheschließung vollzogen wird, dann sollte doch zumindest ein Ehepartner Kirchenmitglied sein, dies sieht im Übrigen auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) so. Ob sich das Dahinwelken der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland abbremsen lässt, das weiß ich nicht. Ich würde mir aber zumindest deutlich mehr Anstrengungen in beiden Organisationen wünschen, den Niedergang zu stoppen. Reformen müssen den religiösen Kern erhalten und die Strukturen verändern, denn nur dann gibt es Hoffnung für die christlichen Kirchen in Deutschland!

 

Ein helles Gebäude mit grünlichen Teilen, darüber ein schmales Türmchen und ein gewölbtes golden glänzendes Dach. Eine Moschee in Esslingen.
Moscheen gehören zunehmend zum Stadtbild. Problematisch sind die politischen Verknüpfungen mancher Moscheevereine über die DITIB mit der türkischen Regierung unter Präsident Erdogan. (Bild: Ulsamer)

 

Aus rotem Backstein wurde die Kirche in Keyenberg gebaut, doch bald soll auch sie abgerissen werden.
Wirklich neu ist die Profanierung, die Entweihung von Kirchen, in Deutschland nicht. Für den Abbau von Braunkohle mussten bereits einige Kirchen weichen. Zwei Beispiele: Im Herbst 2021 stimmte das Bistum Aachen der Entwidmung der Heilig-Kreuz-Kirche in Keyenberg – einem Ortsteil von Erkelenz – zu. Die Nachfolge der drei Kirchen in Keyenberg, Kuckum und Berverath wird im Übrigen eine Kapelle mit 80 Sitzplätzen einnehmen, obwohl allein die Heilig-Kreuz-Kirche 550 Gläubige fasste, aber es werden eben immer weniger Kirchgänger. Um freie Fahrt für die Braunkohlebagger zu gewährleisten, wurde bereits 2018 der sogenannte ‚Immerather Dom‘, die römisch-katholische Pfarrkirche St. Lambertus abgerissen. Mehr zum Thema: ‚Rheinisches Braunkohlerevier: Heimat ade, Braunkohleabbau tut weh‘. (Bild: Ulsamer)
An einer aus Naturstein gemauerten Kapelle steht auf einem Transparent "Rooms for hire" - Räume zu mieten.
Für deutsche Kirchgänger mag es vielerorts noch ein Problem sein, wenn in der Kirche oder Kapelle Räume für ganz andere Aufgaben vermietet werden, aber das kann helfen, Kirchen zu erhalten. Dieses Bild stammt aus Cornwall. (Bild: Ulsamer)

 

Auf einer Kirche aus roten Backsteinen ist eine PV-Anlage zu sehen.
In Ländern ohne Kirchensteuer – wie in Frankreich – sorgt schon mal eine PV-Anlage auf einer historischen Kirche für zusätzliche Einnahmen. Bei der Umwidmung von Kirchen in Deutschland wird der Denkmalschutz so einige Kröten schlucken müssen. (Bild: Ulsamer)

 

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Blick auf eine Stadt mit roten Ziegeldächern (Esslingen). Links ein hoher Kirchturm und rechts ein doppelter Kirchturm etwas weiter entfernt. Dazwischen ein kleines Türmchen auf einer weiteren nur schwer erkennbaren Kirche.Kirchen prägen in vielen Kommunen noch immer das Stadtbild, und nicht selten haben sie die Geschichte der Städte und Gemeinden mitgeschrieben. Links im Bild die evangelische Frauenkirche in Esslingen, mit einem kleinen Türmchen – ehemalige Bettelordenkirche – das katholische Münster St. Paul in der Mitte und rechts die evangelische Stadtkirche St. Dionys mit dem markanten Doppelturm und einem Verbindungssteg. (Bild: Ulsamer)

 

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