XXL-Parlament zwischen Qualität und Quantität
Über den Sondierungs- und wohl nachfolgenden Koalitionsgesprächen ist die Größe des Deutschen Bundestags ganz aus dem Blick geraten. Nicht nur bei den laufenden Diskussionen zwischen CDU, CSU, FDP und Bündnis90/Die Grünen kommen ganze Heerscharen zusammen, sondern auch in unserem Parlament in Berlin versammelten sich die Damen und Herren Abgeordneten in einer Zahl, die alle bisherigen Rekorde gebrochen hat: 709 Mitglieder quetschen sich in den Plenarsaal, obwohl eigentlich nur 598 Politikerinnen und Politiker – jeweils hälftig – über die direkt gewonnenen Wahlkreise bzw. die Landeslisten ins Parlament einziehen sollten. Soweit die Theorie, die jedoch durch Überhang- und Ausgleichsmandate in der Praxis weit übertroffen wurde.
Komplizierte Gerechtigkeit
Prinzipiell ist unser Verhältniswahlrecht ‚gerechter‘ als eine Mehrheitswahl, bei der nur direkt gewählte Abgeordnete ins Parlament einziehen. Musterbeispiel ist das Vereinigte Königreich, wo kleinere Parteien wie die Liberalen ein Schattendasein führen, da sie nur einige wenige Sitze direkt gewinnen konnten und ihr landesweiter Stimmenanteil keine Rolle spielt.
Ganz anders in Deutschland: Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen würden, dann ziehen selbstverständlich alle Abgeordnete ins Parlament ein, denn sie sind ja direkt vom Volk gewählt. Bei den über den rein rechnerischen Anteil hinausgehenden Sitzen spricht man von Überhangmandaten. Nun kommt das Bundesverfassungsgericht ins Spiel, das eine Wahlrechtsreform anstieß, die ab 2013 dafür sorgt, dass die Überhangmandate vollständig durch Ausgleichsmandate so austariert werden, bis die Sitzanteile der einzelnen Parteien wieder deren Zweitstimmenanteil entspricht. Eigentlich eine demokratische Änderung, die jedoch weitreichende Folgen hat.
Kuschelige Nähe statt technische Ausstattung
Da haben es die Länder natürlich einfacher, die nach dem Mehrheitswahlrecht einen Abgeordneten pro Wahlkreis ins Parlament entsenden. Dreht niemand an der Wahlkreisschraube kommt nach jeder Wahl die gleiche Anzahl an Abgeordneten zurück. Es gibt kein Stühlerücken und die Suche nach einem Plätzchen für jede Parlamentarierin und jeden Parlamentarier wie im neuen Bundestag.
Dazu kommt auch, dass im Deutschen Bundestag jedes Mitglied über Tisch, Stuhl und technisches Equipment zu verfügen hat: Warum auch immer, denn bei den meisten Sitzungen sind ohnehin die Reihen eher etwas gelichtet. Lassen wir unseren Blick nach London schweifen, dann können wir leicht feststellen, dass dem House of Commons zwar 650 Members of Parliament angehören, dass sie jedoch kuschelige Nähe zueinander und zum politischen Gegner haben: Längst gibt es auch nicht für alle Mitglieder des Unterhauses einen festen Sitzplatz. Wenn mal alle da sind, dann stehen sie eben bis zur Tür. Die politische Debatte ist jedoch durch die räumliche Nähe deutlich direkter und Frage und Antwort kommen nicht vom weit entfernten Rednerpult, sondern vom Gegenüber.
Nur chinesischer Volkskongress ist kopfstärker
Aber zurück zum Deutschen Bundestag und seiner Größe: Inzwischen gibt es nur noch ein Parlament, das mehr Köpfe zählt, wenn man den Nationalen Volkskongress in China als solches bezeichnen möchte. Dort kommen zwar 3000 Personen in jedem Jahr nur für einige Tage zusammen, aber immerhin hat China auch knapp 1,4 Milliarden Einwohner. Viermal so viele Mitglieder des Volkskongresses, aber siebzehnmal so viele Bürgerinnen und Bürger, die ‚vertreten‘ werden. Folgt man diesem Vergleich, dann liegt der Deutsche Bundestag zumindest bei der Größe des Parlaments an zweiter Stelle in der Welt.
Für alle, die den Nationalen Volkskongress in Beijing für einen schlechten Vergleichsmaßstab halten, bietet sich noch eine Stippvisite in Indien an: Bei mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern begnügt sich Indien mit 543 Abgeordneten! Nun habe ich es nicht nachgerechnet, aber Wikipedia liegt sicherlich nicht ganz falsch, wenn für die Parlamentswahl 2014 festgestellt wird: „Knapp 815 Millionen Inder waren wahlberechtigt, mehr Wähler als die gesamte Europäische Union, die Vereinigten Staaten und Russland zusammen an Wählern haben.“ Und dann zählt unser Bundestag allen Ernstes 709 Mitglieder! Vielleicht ist es an der Zeit, über diese Relationen nachzudenken. Auch unsere französischen Nachbarn begnügen sich in der Nationalversammlung mit 577, die USA im Repräsentantenhaus mit 435 Parlamentariern.
Mahner nicht gehört
Die Kritik an der Aufblähung des Deutschen Bundestags ist nicht neu, aber Reformunwilligkeit zeigt sich nicht nur bei diesem Thema in Deutschland. Irgendwie ist es menschlich auch verständlich, wenn Bundestagsabgeordnete ungern ihr eigenes warmes Plätzchen im Berliner Reichstag streichen sollen. Die Bremse wollte schon Dr. Norbert Lammert in seiner Zeit als Bundestagspräsident durchtreten, aber über all den anderen wichtigen Aktivitäten war wohl keine Zeit, seine Anregungen aufzugreifen.
So hatte Lammert bei der konstituierenden Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am 22. Oktober 2013 ausgeführt: “Es gibt Anlass, noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen, auch wenn das Wahlergebnis vom 22. September nur zu einer maßvollen Ausweitung der Anzahl der Mandate geführt hat. Ganze vier Überhangmandate ‑ viel weniger als in den allermeisten früheren Legislaturperioden ‑ haben durch die neuen Berechnungsmechanismen des fortgeschriebenen Wahlrechts, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind, zu 29 Ausgleichsmandaten geführt. Dies lässt die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.“ Und bei der Wahl am 24. September 2017 wurde seine Befürchtung wahr: Die Sitzzahl erhöhte sich gegenüber den eigentlich vorgesehenen 598 um 111 auf die bereits genannt Zahl 709.
Lassen wir Norbert Lammert nochmals zu Wort kommen: “Da es immer besser ist, sich mit solchen Entwicklungen dann auseinanderzusetzen, wenn die Probleme noch nicht eingetreten sind, spricht manches dafür, dass wir nicht erst nach der nächsten Wahl, sondern rechtzeitig vor der nächsten Wahl noch einmal einen gemeinsamen sorgfältigen Blick auf diese Regelungen werfen.“ Leider verhallten seine mahnenden Worte weitgehend ungehört, zumindest resultierten aus ihnen keine politischen Handlungen.
Wer stoppt die Aufblähung?
Andere Parlamente schaffen es, sich selbst zu begrenzen, auch wenn sie sich nach der Wahl mit der Regierungsbildung schwertun. Beispiel für beides ist die Northern Ireland Assembly, das Regionalparlament des zum Vereinigten Königreich gehörenden nördlichen Teils der irischen Insel. Im Jahr 2016 wurde die Zahl der Abgeordneten im Stormont für künftige Wahlen per Gesetz von 108 auf 90 reduziert. Dies gelang, indem in jedem der 18 Wahlkreise seitdem nicht 6, sondern 5 Abgeordnete gewählt werden. Erstmals zur Anwendung kam diese Regelung bei der Wahl 2017, die allerdings aus anderen Gründen zu einer Hängepartie bei der Regierungsbildung führte.
Wenn ich mir die Sondierungsgespräche der Parteien in Deutschland anschaue, die für eine Regierungsbildung in Frage kommen, dann zweifle ich sehr daran, dass eine zukunftsorientierte Regierung gebildet werden kann. Zwar sehe ich eher die Gesprächsbeteiligten in der Mehrheit, die lieber eine Regierung bilden als in der Opposition zu versauern, aber die grundsätzlichen Aussagen liegen so weit auseinander, dass sich – selbst, wenn sie gebildet wird – die Regierungsgeschäfte nur sehr mühsam fortbewegen werden. Und ob dann wirklich noch die Kraft vorhanden ist, den Bundestag auf eine sachgerechte Größe zu reduzieren, das glaube ich kaum. Viele werden die Aufblähung bedauern oder beklagen, doch letztendlich will niemand dem Parteifreund zumuten, zukünftig die Debatten, wenn es denn wirklich welche gibt, statt im Reichstag zu Berlin am Fernseher zuhause zu verfolgen.
So geht der Bund der Steuerzahler davon aus, dass der jetzige Bundestag rd. 75 Mio. EURO Mehrkosten bei Diäten und Kostenpauschalen hervorruft als bei der angedachten Zahl von knapp 600 Mitgliedern. Generell wirft der Bund der Steuerzahler auch die Frage auf, ob alle Regelungen zu Diäten – sprich Gehältern – und Kostenpauschalen – z.B. für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – gerechtfertigt sind.
Üppige Pensionen untergraben Unabhängigkeit
Gleiches gilt für die Pensionsregelungen, die im Verhältnis zu den Wählerinnen und Wählern durchaus als üppig anzusehen sind. Und wenn es den Parlamentariern gelegen kommt, dann wollen sie schon mal innerhalb einer Woche die von ihnen selbst festgelegte Altersabsicherung aus dem privaten Bereich wieder in staatliche Hände legen, da private Absicherungssysteme dank der Nullzinspolitik von Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), kaum etwas abwerfen. Nur dem Aufschrei in der Wählerschaft war es zu verdanken, dass der schon vom baden-württembergischen Landtag gefasste Beschluss wieder gekippt wurde, allerdings blieb die Verdopplung der Kostenpauschale bestehen. Darüber hinaus macht sich jetzt eine Kommission Gedanken, wie den Angeordneten doch noch zu günstigeren Bedingungen in der Alterssicherung verholfen werden kann. Würden wir uns das nicht auch wünschen, dass wir über unsere Altersabsicherung selbst abstimmen könnten – und dies auf Kosten anderer?
Schon 1993 griff Lord Dahrendorf diese Thematik bei einem Vortrag in Frankfurt kritisch auf: „Ich verfolge immer mit großem Interesse und mit Erstaunen die Diskussionen über die Pensionsansprüche von Parlamentsabgeordneten.“ Er setzte sich für angemessene Bezüge ein, denn „die Unabhängigkeit von Parlamentariern hat eine Schlüsselbedeutung für alle Demokratien.“ Und dazuhin betonte er die Eigenverantwortung der Abgeordneten für ihre Alterssicherung: „Im übrigen aber soll es den einzelnen Parlamentariern wie auch den übrigen Menschen überlassen bleiben, ob sie ihr Geld ins Kasino tragen oder ob sie das Angebot der zahlreichen und vorzüglichen Versicherungen annehmen, um für ihr Alter Vorsorge zu treffen.“ Damit trifft er den Kern dieses Aspekts: Warum sollen Abgeordnete anders gestellt werden als die Menschen, die sie wählen?
Ralf Dahrendorf geht dann noch ins Grundsätzliche: „Ein Staat, der seine Parlamentarier mit Pensionen versieht, macht sie zu Beamten, nimmt ihnen genau die Unabhängigkeit, die ein Schlüssel zur Demokratie ist, und beweist eine Mentalität, die ganz sicher nicht geeignet ist, in einer bewegten Zeit das Überleben der Institutionen zu garantieren.“ Wer aber möchte schon auf seine üppigen Pensionsregelungen verzichten und sich durch eine Wahlreform den eigenen Sitz im Bundestag unter dem Allerwertesten wegziehen?
XXL-Parlament behindert Funktionsfähigkeit
Wie so oft im Leben ist Kritik am neuen XXL-Bundestag natürlich einfacher als die Umsetzung notwendiger Reformen, aber ein Parlament, das aus allen Nähten platzt, ist gewiss nicht zukunftsorientiert. Von einer Vergrößerung der Wahlkreise und damit einer Reduzierung der Mandate bis zu einer Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten reichen die Reformvorschläge, die aber bisher von den Betroffenen kaum diskutiert werden.
Sind die Parlamentarier überhaupt in der Lage, das System, an dessen Tropf sie hängen, selbst zu reformieren? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Zwar ist XXL ja bei vielen Produkten inzwischen in Mode, aber ein immer stärker ausufernder Bundestag schadet der Demokratie. „Die Zeiten sind bewegt“, so Lord Dahrendorf bereits 1993. „Starre Gesellschaften zahlen einen hohen Preis dafür, dass sie an ihren erstarrten Institutionen festhalten.“ Hoffen wir gemeinsam, dass sich unser Land in Sachen Bundestag, aber auch bei vielen anderen Fragen, als reformfähig zeigt. Ich halte es wirklich für abwegig, dass wir einen Bundestag in Berlin arbeiten sehen, der schlichtweg kopfstärker ist als alle anderen Parlamente in unserer Welt – mit Ausnahme des Nationalen Volkskongresses in China.
Wenn wir davon ausgehen könnten, dass mehr Köpfe auch mehr schlaue und sachgerechte Ideen hervorbringen und diese dann auch umsetzen, dann müssten wir auf XXL setzen, aber im Regelfall geht doch Qualität vor Quantität.
13 Antworten auf „Deutscher Bundestag: Zweitgrößtes Parlament der Welt“