Kolkraben – vom Götterboten zum Unglücksraben
Eigentlich hat der Kolkrabe ja Glück, dass es der Wolf bis nach Deutschland geschafft hat! Vor kurzem wurde noch in den Medien berichtet, dass 40 oder gar 80 Kolkraben eine Schafherde überfallen und Lämmer mit ihren Schnäbeln niedergemetzelt hätten. Jetzt ist der gefiederte Sänger weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Er wird doch nicht davon geflattert sein? Stattdessen knöpfen sich jetzt manche Weidetierhalter – unterstützt durch bestimmte Journalisten – ihren Intimfeind auf vier Pfoten, den Wolf, vor. Im Grunde hat der Kolkrabe eben Pech, dass sein Gefieder schwarz und nicht weiß ist, da hat es ein Storch allemal besser, und der bringt ja auch noch die Babys! Mit dem schwarzen Gefieder ist es nicht nur beim Kolkraben so eine Sache, sondern auch bei seinen kleineren Verwandten, den Dohlen, den Saat- oder Nebelkrähen. Aber auch der Kormoran kann davon ein Lied singen, wenn er könnte: Er schnappt den Anglern und Fischern nicht nur ihre Fische weg, sondern hat auch das Pech, von schwarzen Federn getragen zu werden.
Aas oder lebendige Lämmer?
Hast du erst mal das Image weg, dich an Lämmern zu vergreifen, dann nutzen auch wissenschaftliche Studien nichts, die belegen, dass Kolkraben im Regelfall nicht über wehrlose Lämmer herfallen, sondern sich als Allesfresser Aas munden lassen, aber auch kleine Wirbeltiere nicht verschmähen, und Vogeleier stehlen – was mich natürlich weniger erfreut -, aber auch größere Insekten, Regenwürmer und Wirbellose verspeisen, Früchte und Mais oder andere landwirtschaftliche Produkte in ihren Schnäbeln verschwinden lassen. Auch Nahrungsabfälle von uns Menschen – und davon gibt es je nach Region jede Menge – dienen zur Existenzsicherung.
Jungtiere, die krank oder schwach sind, stehen auch auf seiner Speisekarte. Und im Februar trug ich ein kleines Lämmchen, das zu früh geboren wurde, von seiner Mutter sauber geleckt worden war, dann jedoch nicht mehr ‚beschützt‘ wurde, da es nicht auf seinen noch schwachen Beinchen stehen konnte, hinter dem Muttertier her, damit es auch den ‚Geruchskontakt‘ nicht verlor. Dank Wärmelampe und etwas Ersatzmilch kam es auf die Beine und war nach wenigen Tagen mit seiner Mutter flott auf der Weide unterwegs. Ohne menschliches Eingreifen schließe ich nicht aus, dass das Lämmchen auch den Schnabel des Kolkraben – allerdings nach dessen Tod – zu spüren bekommen hätte. Aber welches gesunde Lamm wurde denn im Beisein seiner Mutter angegriffen? Schwierigkeiten kann es im Einzelfall geben, wenn das Muttertier mehrere Lämmer bekommt, die unterschiedlich schnell auf die Beine kommen. So hat die Zahl der Mehrlingsgeburten bei Schafen in den letzten Jahren zugenommen, vielleicht auch eine Folge des Zufütterns.
Die Natur kann brutal sein
Ich kenne auch die Videos, in denen Kolkraben ein Lamm verfolgen, doch wo ist da das Muttertier? Auch auf unserer Wiese bekommen zunehmend Schafe zwei oder vereinzelt auch drei Lämmer, und dann kann es für ein Mutterschaf schwierig werden, alle Jungtiere gegebenenfalls zu beschützen. Aber unmittelbar vor unserer Schafweide lebt seit längerem ein Kolkrabenpaar und zieht mal ein Junges – wie in diesem kalten Frühling in Irland – oder auch mal mehrere Küken auf, doch habe ich noch nie einen Angriff auf Lämmer gesehen. Auch mein Nachbar, dem meine ‚Leihschafe‘ gehören, sieht die Gefahr durch die Kolkraben relativ unkritisch. Gerade in diesem Jahr bedrohen eher die Futterknappheit – das Wachstum des Grases wird durch kalte Temperaturen verzögert – oder die Nässe – seit einem Jahr kaum mal ein Tag ohne Regen – die Schafe, die dadurch auch anfälliger für Krankheiten werden.
Da ich Schafe sehr mag, möchte ich nicht, dass Kolkrabe oder Wolf sich an ihnen vergreifen, aber auch die Weidetierhalter sind selbstredend für ihre Tiere verantwortlich. Als jüngst im Schwarzwald bei Bad Wildbad ein Wolf rd. 40 Schafe tötete oder diese so in Panik versetzte, dass sie in einem Bach ertranken, hatte der Schäfer einen normalen Weidezaun eingesetzt und am Bach erst gar keinen aufgebaut. Muss es da verwundern, wenn der Wolf sich sein Futter in jener Herde sucht, wo es ihm einfach erscheint?
Nun kann ein Schäfer nicht den ganzen Tag nach Kolkraben Ausschau halten, doch riesige Gruppen – wie dies in manchen Regionen kolportiert wird – können nur leben, wenn ergänzende Futterquellen vom Menschen geschaffen wurden. Ansonsten würden sie sich neue Reviere suchen und nicht zur Attacke auf Weidetiere rufen. Mag ihr raues „kraok kraok“ auch in der Luft erschallen, so sind zumeist nur einzelne Tiere in einem Revier ansässig, beispielsweise die Elterntiere und die Jungen des Vorjahres, die sich noch nicht auf die Suche nach einem eigenen Revier gemacht haben – und auch von den Altvögeln nicht aus dem Umfeld des ‚Hotel Mama‘ vertrieben wurden.
Staatsfeind Nr. 1
Kolkraben gehören zu den intelligentesten Tieren, und dies nicht nur wegen einer Vielzahl von unterschiedlichen Lautäußerungen, sondern auch wegen ihrer Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste Lebensräume. Dies alles hatte ihm in Mitteleuropa nichts genutzt, denn der Kolkrabe wurde in den 1940er Jahren weitgehend ausgerottet. Erst die nachlassende Jagd – auch während und nach dem Zweiten Weltkrieg – gab ihm die Chance, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Sein Wiedererscheinen wurde als positives Ereignis gesehen, doch wie beim Kormoran, Biber oder Wolf fällt bei vielen unserer Zeitgenossen die Freude an der Natur wie ein Luftballon in sich zusammen, wenn sich Konflikte zeigen: Dann ist die Luft raus, und es zeigt sich schnell, dass ‚Natur‘ nur so lange als schön gilt, wie keine Interessen dieser Menschen tangiert werden. Frisst der Kormoran die Fische aus dem Anglersee oder der Graureiher gar aus dem Zierteich, fällt der Biber einige Bäume am Bachufer, schnappt sich der Luchs ein Reh oder der Wolf ein Schaf, und wird der Kolkrabe auf einer Weide gesichtet, dann werden sie alle zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Aber Wildtiere sind keine dressierten Lipizzaner, sondern sie leben nach ihren eigenen Regeln. Macht dies nicht gerade den Schatz der Natur aus?
Für mich und meine Frau war es eine kleine Sensation, als wir auf einer Klippe saßen und plötzlich ein schwarz-gefiederter Kopf auftauchte – direkt vor unseren Füßen. Wir wollten es zuerst nicht glauben, doch da kam ein junger Kolkrabe auf seinen dünnen Beinen heraufgestakst, und war mindestens so verblüfft wie wir. Seine Flugkünste waren noch beschränkt, daher machte er sich erst nach einiger Zeit auf den Abflug, und wir hatten Muße, ihn aus der Nähe zu betrachten. Übrigens betrachtete er uns fast ebenso neugierig! Ein wirklich schönes Tier mit einem bereits recht kräftigen Schnabel! Er landete unweit, wieder etwas tiefer an der Klippe, und machte sich erneut zu Fuß auf den Weg nach oben, inzwischen beobachtet von den Altvögeln. Wir aber zogen den Rückzug vor, um das Familienglück bei Familie Rabe nicht zu gefährden, denn vier Junge waren im letzten Jahr großzuziehen.
Akrobatischer Flugkünstler
Auch das Fliegen will gelernt sein, dies musste einer der Jungvögel am nächsten Tag erkennen, als er auf unserer Weide zu landen versuchte und sich allen Ernstes dabei überschlug. Doch unbeschadet konnte er danach zum nächsten Ausflug ansetzen. Oder sein Nestgenosse: er musste im Stechginster ‚notlanden‘. Ist der Kolkrabe erst mal ausgewachsen, dann hat er mit einer Flügelspannweite von 115 bis 130 Zentimeter die besten Voraussetzungen für herausragende Flugfähigkeiten auch bei starken Winden, und ganz besonders akrobatische Flugkünste zeigt er in der Balz. Mit seiner Spannweite übertrifft er den Mäusebussard und ist mit deutlichem Abstand der größte Rabenvogel in Europa.
Viele Freunde macht sich der imposante Vogel allerdings nicht, und dies weder bei Menschen noch bei seinen gefiederten Artgenossen, ob bei anderen Rabenvögeln oder bei Möwen, die ihn gerne verfolgen. Er macht es ihnen als größter Singvogel aber auch leicht, da er durch lautes Rufen immer wieder auf sich aufmerksam macht: Viel Feind, viel Ehr, könnte man sagen, auch wenn er wohl eher sein Revier abstecken oder seine Familienmitglieder unterrichten möchte. Aber so ist das nun mal, nicht allen gefällt der Gesang des Kolkraben! Bei uns Menschen ist es ja oft auch nicht anders: Da stößt Rudolf Diebetsberger in Stuttgart an der Treppe zum Kleinen Schlossplatz ins Horn, und dies für einen guten Zweck, da rückt ihm das Ordnungsamt auf die Pelle und er darf gleich noch in der Justizvollzugsanstalt in Stammheim übernachten, wo schon die Terroristen der Roten-Armee-Fraktion (RAF) einsaßen.
Fällt er in den Graben, dann fressen ihn die Raben …
Und ganz wie wir Menschen unterscheiden die Kolkraben zwischen Artgenossen, die sie kennen und fremden Vögeln. Die Lautäußerungen sind dann in einer höheren Stimmlage oder tiefer und rauer. Bei der Futtersuche lassen Kolkraben – wie auch Möwen – Schnecken oder Muscheln auf einen harten Untergrund fallen, um sie aufplatzen zu lassen. Leicht perfide sind ihre Strategien, um in Lummen-Kolonien an Eier oder Jungvögel zu kommen: Sie ziehen eine brütende Lumme gegebenenfalls am Bein von der Klippe, sind in der Luft behende und schnappen sich ihre Beute, ehe die Lumme ihren Nistplatz wieder sichern kann. Kolkraben wurden auch schon beobachtet wie sie Grasbüschel auf Dreizehenmöwen warfen, um sie vom Nest zu vertreiben, und dann … Der Kolkrabe ist eben kein ‚Heiliger‘, aber er kann ja auch nicht wie wir einkaufen gehen und nett verpackte Produkte aus Massentierhaltung kaufen!
Wenn du schon im Märchen als Bösewicht dargestellt wirst, dann hast du es auch in unseren modernen und ach so aufgeklärten Zeiten schwer. Dies gilt für den Wolf, denn wer möchte schon wie Rotkäppchen und seine Großmutter verspeist werden? Und wer kennt nicht den Kinderreim „Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, …, fällt er in den Graben, dann fressen ihn die Raben?“ Ja, so ist das nun mal, alle Welt dünkt sich so fortschrittlich und wissenschaftlich, doch die alten Feinde – seien es Wolf oder Rabe – haben ihr mieses Image weg. Da nutzen auch wissenschaftliche Erkenntnisse wenig, wenn man zum Unglücksraben stilisiert wird. Und aus dem Götterboten mit „silberhellem Gefieder“ wird in Ovids ‚Metamorphosen‘ der Überbringer schlechter Nachrichten mit schwarzen Federn.
Hohe Intelligenz der Kolkraben
Kolkraben vermehren sich auch nicht explosionsartig wie in manchen Horrorgeschichten vorgegaukelt wird und sie haben auch nichts mit Alfred Hitchcocks ‚Vögeln‘ gemein, die eine Kleinstadt angreifen, denn sie haben alle Federn damit zu tun, ihre Art zu erhalten. So sterben in Schleswig-Holstein nach Angaben des NABU „95 Prozent der Kolkraben ohne je gebrütet zu haben“. Es gibt inzwischen in Deutschland zwar wieder 9 000 Brutpaare, doch dies sind 75 % des zu erwartenden Maximalbestands.
Die Kommunikationsfähigkeit der Kolkraben, ihre hohe Intelligenz und ihr Sozialverhalten sind beeindruckend. Und wer auf die Idee kam, die ‚Rabenmutter‘, den ‚Rabenvater‘, gar noch die ‚Rabeneltern‘ oder den ‚rabenschwarzen Tag‘ als Begriff in die Welt zu setzen, der hat auf jeden Fall keine Ahnung von Kolkraben, die sich – in ‚Dauerehe‘ lebend – intensiv um ihre Nachkommen kümmern. Nicht nur sie selbst beherrschen den Einsatz von Werkzeug, sondern sie führen auch ihre Jungen in die Welt ein. Und in dieser Welt muss sich der Kolkrabe insbesondere vor dem Menschen fürchten, auch wenn er – dem Jagdgesetz in Deutschland unterliegend – ganzjährig Schonzeit hat. Doch auch hier möchten so manche Feinde des Kolkraben – wie auch beim Wolf – die Uhr zurückdrehen und zum großen Halali blasen.
Die Natur ist unser Partner
In grauer Vorzeit profitierten die Jäger von den Raben, die sie oft zum Wild führten, und die Raben zogen ihren Vorteil aus den Hinterlassenschaften der Jagd, doch ausgerechnet in Zeiten, in denen es uns gut geht, erklären viele Menschen den Kolkraben zum Feind. Es ist geradezu aberwitzig, in welch einseitiger Weise nicht nur Raben und andere Rabenvögel, wie z.B. Dohlen, Krähen, Elstern oder Eichelhäher, sondern auch diverse Wildtiere zum Bösewicht erklärt werden, als würden sie uns in unserer Überflussgesellschaft, in der tonnenweise Nahrungsmittel weggeworfen werden, die Nahrungs- oder Lebensgrundlage entziehen. Für mich ist der Kolkrabe jedoch ein beeindruckendes Tier, das mit seinen Artgenossen kommuniziert, letztendlich auch als Gesundheitspolizei Aas beseitigt und uns mit seinen Flugkünsten erfreut.
Völlig unverständlich ist für mich die Panikmache, die bei manchen Gruppen und Medien grassiert, wenn es um den Kolkraben geht. Wenn wir die Natur erhalten wollen, dann geht dies nur, wenn wir auch den Pflanzen und Tieren ihren Lebensraum zubilligen: Die lebendige Natur ist nicht eine Modelleisenbahn, die wir nach unseren Wünschen gestalten, oder eine Art Zoo, wo die Tiere brav hinter Zäunen und Glasscheiben wohnen. Eine lebendige natürliche Umgebung muss auch die Chance haben, sich selbst zu entwickeln. Und dazu gehören auch Kolkrabe und Wolf, Kormoran oder Biber. Wie wenig sich dieser Gedanke durchgesetzt hat, das wurde auch in Brandenburg deutlich, wo ein friedlich grasender Wisent auf behördliche Anordnung hin erschossen wurde. Grund: Gefahr für die Allgemeinheit. In Polen durfte das Tier Jahr für Jahr friedlich durch Wiesen und Dörfer ziehen, doch in deutschen Landen knallte der finale Todesschuss. Ich kann nur hoffen, dass in Deutschland und in Europa die vernünftigen Kräfte obsiegen, die die Natur als Partner sehen!