Wenn Gänsewürstchen zum Politikum werden
Grau- und Ringelgänse oder Brandgänse gelten zwar nicht als akut gefährdet, doch ihr Lebensraum schwindet. Und Nilgänse, die manche Parkbesitzer als ‚Ziervögel‘ im 18. Jahrhundert wegen ihrer bunten Federpracht nach Europa holten, gelten in der EU als invasive Art. Nicht wenige Zeitgenossen fordern daher ihren Abschuss. Über das traurige Schicksal armer weißgefiederter Gänse, die als Braten für die Vorweihnachtszeit gezüchtet oder gar in Frankreich auf brutale Weise bis zur Fettleber gestopft werden, wollen wir an dieser Stelle traurig schweigen. Wildgänsen nimmt der Mensch ihre Nist- und Rastplätze, wenn das Schilf an Flüssen und Seen verschwindet und Feuchtgebiete trockengelegt werden. Sie verlieren ihre angestammte Nahrungsgrundlage, wenn sich Muscheln, Schnecken und Würmer rarmachen bzw. Seegrasbestände verlorengehen. So manche Graugans flüchtet sich folglich in Parkanlagen, wo sie zunehmend auf die konkurrierende Nilgans trifft. Wegen ihrer Hinterlassenschaften auf Wegen oder ‚Liegewiesen‘ werden sie dann gescholten. Suchen Wildgänse aber auf Feldern und Wiesen nach Nahrung, machen sie sich nicht selten die Landwirte zum Feind, und mit deren Lobby ist allemal nicht zu spaßen. So haben es Gänse nicht leicht in unserer Welt, in der zu viele Menschen glauben, tierischen Mitlebewesen stehe kein Anteil an unserer Landschaft zu. Viel zu schnell wird auch von Politikern vergessen, dass wir Menschen nur eine Chance zum Überleben haben, wenn wir mit Tieren und Pflanzen in unserer gemeinsamen Natur pfleglich umgehen.
Gänsewürstchen werden zur Gefahr stilisiert
Die Ringelgans oder Brent Goose zieht für den Winter aus dem hohen Norden, wo sie brütet, nach Europa. Von September bis in den April ist sie z. B. auch an der deutschen Nordseeküste zu beobachten, ehe sie wieder in die arktischen Regionen zurückkehrt, um dort Eier zu legen und die Küken aufzuziehen. Ringelgänse sind nicht wählerisch, wenn es um ihr Futter geht, denn sie lassen sich Seegras, Tang und Algen, genauso wie Kräuter, Moose oder Flechten und Süßgräser schmecken. Die Langstreckenzieher, die in Deutschland mit rd. 10 000 Tieren im Winter vertreten sind, gehören zu den kleineren Gänsen und sind am dunklen Kopf und Hals gut zu erkennen, um den sich ein weißer Ring zieht. Ringelgänse sind gesellige Tiere und leben gerne in Kolonien. Häufig sind sie ihrem Partner ein Leben lang treu. Seegraswiesen werden weniger, und damit schwindet auch das Nahrungsangebot. Ringelgänse bekommen von den Elternvögeln die Flugrouten gezeigt, denn diese sind bei ihnen nicht – wie bei anderen Vogelarten – genetisch hinterlegt. Der Schutz der Rastplätze und ein Jagdverbot haben in Westeuropa zu einer Erholung der Population beigetragen, allerdings von einem niedrigen Niveau aus. Die Ringelgans benötigt weiterhin umfassenden Schutz.
Zu den bekanntesten Gänsearten gehört mit Sicherheit die Graugans, was sie nicht zuletzt dem Nobelpreisträger Konrad Lorenz verdankt, der bei seinen Studien zur Verhaltensforschung besonders auf Graugänse setzte. Zwar gelten einzelne Forschungsansätze von Lorenz inzwischen als problematisch, da er Graugänse nicht in Freiheit beobachtete, sondern nur auf dem Institutsgelände, und seine anfängliche Nähe zu den Nationalsozialisten brachte ihn in ein negatives Licht. Generell bleiben seine Erkenntnisse jedoch sehr interessant, ja wegweisend, die sich u. a. auf die frühe Prägung von Gänseküken beziehen: Wen oder was sie nach dem Schlüpfen als erstes wahrnehmen, dem folgen sie – wie ansonsten der Vogelmutter. Dies galt für Konrad Lorenz ebenso wie für einen Fußball. Der Instinkt, somit ein angeborenes Verhalten, scheint für diese frühe Lebensphase der Graugans entscheidend zu sein. Graugänse fühlen sich in weitläufigeren Parkanlagen oder an Seen, Flüssen und am Meer wohl. Sie sind grau und braun und fliegen in der typischen V-Formation. Die Graugänse kommen als Trupp bei der Futtersuche auf Grünland und Viehweiden an – sofern noch vorhanden – oder Stoppelfelder. Feuchtgebiete spielen eine wichtige Rolle in ihrem Gänseleben, doch gerade diese sind in den letzten Jahrzehnten weniger geworden. Und bevölkern sie einen Park, weil ihr ursprünglicher Lebensraum verschwunden ist, dann lassen Beschwerden über ihre Kotwürstchen nicht lange auf sich warten, denn so mancher Mitbürger hat längst verlernt, mit der Natur zu leben. Völlig abstrus ist es, wenn der Kot der Gänse auf Wiesen – meist ist es eh nur monotoner Rasen – oder Wegen zur großen gesundheitlichen Gefahr stilisiert wird, obwohl der von Menschen hinterlassene Müll oder ihre Hinterlassenschaften im nächsten Gebüsch bei weitem problematischer sind. Mit Sicherheit kommen mehr Kleinkinder durch verschluckte Zigarettenstummel in Lebensgefahr als durch die Würstchen einer Gans!
Mit Wildgänsen die Welt teilen
Unter den Gänsen sind die Brandgänse eine Besonderheit: Sie brüten am liebsten in Höhlen, so z. B. in früheren Kaninchenbauen. Sie schlagen aber auch einen Fuchsbau nicht aus, selbst wenn er noch bewohnt ist von Meister Reineke, ihrem ‚Erzfeind‘ aus zahlreichen Märchen. Sollten tiefere Baue fehlen, versuchen sie ihr Glück manchmal unter Gebäuden und zwischen Steinblöcken oder begnügen sich mit einem Nest unter einem Busch. Die Männchen zeigen den potenziellen Nistplatz an, letztendlich aber entscheidet das Weibchen, ob dort das Brutgeschäft starten kann. Zwar brütet nur das Weibchen die Eier aus, doch das Gelege wird von beiden Elternvögeln energisch verteidigt. Aus einem Gelege wird oft nur ein Küken flügge, und bei rd. 20 % der Brandgänse, die jährlich sterben, ist ein Zuwachs der Population folglich gering. Zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Brandgänse in weiten Regionen ihres ursprünglichen Lebensraums ausgerottet oder nahe daran. „Die Brandgans ist heute“, so der NABU, „in den meisten nord- und mitteleuropäischen Ländern ganzjährig geschützt. Dank dieser Schutzmaßnahmen hat die Art stark zugenommen, es gibt aber Hinweise darauf, dass der Populationszuwachs bis 1996 zum Stilstand kam und seitdem rückläufig ist.“ Im Zuge des Klimawandels verliert die Brandgans nach verschiedenen Modellen ihren Lebensraum in Mitteleuropa.
Besonders viele zornige Blicke zieht die Nilgans auf sich, die ihr Verbreitungsbiet in den vergangenen Jahren in Europa ausgedehnt hat. Ihre Kritiker scheinen ganz vergessen zu haben, dass sich diese Gänseart nicht freiwillig vom Nil in Ägypten zur Migration nach Mitteleuropa entschlossen hat, sondern es waren zuerst wohlhabende Parkbesitzer, die mit der ‚exotischen‘ Nilgans einen Farbtupfer in ihre Anlagen bringen wollten. Entflogene oder ausgesetzte Nilgänse haben dann die wachsende Population auch in Deutschland begründet. Kaum taucht heutzutage eine Nilgans im urbanen Bereich auf, da läuten die medialen Alarmglocken: „Stören Nilgänse auf dem Friedhof?“ fragte die Stuttgarter Zeitung in einem Vierspalter, kaum dass ein Pärchen Nilgänse über den Fangelsbachfriedhof pilgerte, noch nicht einmal brütete – und schon eignen sich die bunten Gänse für den Aufmacher im Lokalteil desselben Mediums: „Stuttgart will Nilgänse eindämmen“! Droht mit den Nilgänsen wirklich die Apokalypse? Diesen Eindruck hat der Leser nach der Lektüre! „Nur wenige Vogelarten erhalten derzeit so viel mediale Aufmerksamkeit wie die nicht-heimische Nilgans, die sich bei uns ausbreitet. Dass die Vogelart ökologische Schäden verursacht, ist nicht erwiesen. Daher ist es aus NABU-Sicht nicht gerechtfertigt, den Bestand zu reduzieren.“ Dennoch frohlocken nicht wenige Jagdbegeisterte, denn fliegende Ziele haben wohl auch ihr Interesse geweckt. Nach der Statistik des Deutschen Jagdverbands wurden 2020/21 knapp 116 000 Wildgänse geschossen, und über 221 000 Wildenten mussten ihr Leben durch die Flinten der deutschen Jägerschaft lassen. Nach meiner Meinung belegen diese Zahlen, dass es nicht um ein sachorientiertes ‚Wildtiermanagement‘ geht – wie so oft behauptet wird -, sondern um das Abschießen gefiederter Lebewesen. Es gibt sogar Jäger, die noch nicht einmal vor dem Abschuss eines Schwans zurückschrecken.
Schutz der Wildgänse verbessern
Geschnatter hat so manchem Menschen das Leben gerettet, weil Gänse rechtzeitig Alarm schlugen – und dies nicht nur zu Kriegszeiten. Den Wildgänsen steht ein Plätzchen in unserer Natur zu, und den weiß gefiederten Vertreterinnen zumindest ein erträgliches Leben, bis sie als Gänsebraten enden – leider enden, so sage ich aus Überzeugung. Gänse haben ein Anrecht auf ihren Lebensraum, selbst wenn sie hie und da ein Würstchen hinterlassen – oder auch mal mehrere! Die Lebensräume der Wildgänse müssen geschützt werden, damit sie nicht – wie andere Wildtiere – in städtische Parks oder auf Felder mit aufkeimenden Pflänzchen ausweichen müssen.
Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger fühlen sich bereits durch ein Kotwürstchen auf einer Grünfläche neben dem Grillplatz belästigt oder durch das Geschnatter gestört, doch dies kann nicht entscheidend sein! Wildgänse haben ein Recht auf Leben – wie wir Menschen auch. Ein Abschussverbot für Wildgänse wäre aus meiner Sicht richtig! So mancher Zeitgenosse muss wieder lernen, dass diese Welt nicht nur den Menschen gehört, seinen Vorlieben oder Neigungen, sondern gleichfalls den Wildtieren – seien es Insekten, Igel, Feldhasen oder Wildgänse. Wenn es uns Menschen nicht gelingt, einen neuen Ausgleich zwischen der Natur und den menschlichen Forderungen zu finden, dann wird es ein böses Ende nehmen – nicht nur für Zweibeiner mit Federn, sondern auch für solche im Anzug, in Jeans, im Kleid oder in der Badehose.