Den Lauf der Sonne verstehen: Stonehenge, Newgrange und die Himmelsscheibe

Das unterschätzte Wissen der Jungstein- und Bronzezeit

Die Sonne sorgt mit ihrer Wärme nicht nur für Leben auf unserem Planeten, sondern der Stand der Sonne spielte auch in religiösen Riten jahrtausendelang eine wichtige Rolle und war mit ausschlaggebend für den Zeitpunkt der Aussaat. Heute ermitteln die Bauern den richtigen Zeitpunkt für ihre Aktivitäten nicht mehr nach dem Sonnenstand, sondern nach Kalender oder Wettervorhersage. Dies war jedoch bei unseren Vorfahren in der Jungsteinzeit oder im Bronzezeitalter noch ganz anders. Die beeindruckende englische Steinkreisanlage Stonehenge und das gewaltige irische Ganggrab Newgrange sind nach dem Termin der Sonnenwende ausgerichtet, die Himmelsscheibe von Nebra in Sachsen-Anhalt gilt als die älteste astronomische Darstellung des Himmels. Alle drei Objekte dienten sicherlich Kulthandlungen, doch sie brachten auch ganz praktischen Nutzen für die Menschen in der ausgehenden Jungstein- bzw. der nachfolgenden Bronzezeit. Unsere Vorfahren müssen bereits damals komplexe astronomische Kenntnisse und enorme technische Fähigkeiten besessen haben, und die baulichen Strukturen wären ohne eine ausgefeilte Logistik nicht geschaffen worden. Für die Himmelsscheibe kamen Zinn und Gold aus Cornwall, und das Kupfer war im Salzburger Land abgebaut worden. Dies deutet darauf hin, dass bereits vor drei bis sechs Jahrtausenden die gesellschaftlichen Strukturen in unseren Breiten differenzierter waren als lange angenommen wurde. Hochkulturen gab es – wenngleich ohne Schrift – auch auf dem europäischen Kontinent.

Blick auf Newgrange. Heller Quarz auf der gsamten Front, darüber eine Deckschicht aus Erde mit Gras.
Für das Ganggrab Newgrange in Irland wurden rd. 200 000 Tonnen an Gestein und Erde bewegt. Die Funde deuten darauf hin, dass es sich bei diesem Bauwerk am Ufer des Boyne auch um einen Kultplatz und ein Observatorium handelte. Gewaltige Granitblöcke stabilisieren den Hügel, Quarzgestein sorgt für das eindrucksvolle weiße Muster. (Bild: Ulsamer)

Newgrange: Jungsteinzeitliches Ganggrab und Kultstätte

Das Ganggrab Newgrange im County Meath gehört zu einem Komplex von Grabhügeln im Tal des Boyne. Für das bekannteste Ganggrab Irlands wurden rd. 200 000 Tonnen an Gestein und Erde bewegt, und dies einige hundert Jahre vor dem Bau der Cheops-Pyramide in Ägypten. Eine bäuerliche Gesellschaft schuf zwischen        3 370 und 2 920 vor Christus in jahrzehntelanger Arbeit Newgrange, das vermutlich nicht nur als Grabstätte, sondern auch als Kultstätte diente. Ausgerichtet ist die Gesamtanlage so, dass die Sonne an mehreren Tagen um die Wintersonnenwende am 21. Dezember bei Sonnenaufgang für ca. 15 Minuten durch eine Öffnung oberhalb des Eingangs zuerst den Gang und dann die kreuzförmige Kammer beleuchtet. Aus der Sonnenwende konnten die damaligen Bauern auch den nachfolgenden Jahresverlauf errechnen, um sich so besser auf ihre landwirtschaftlichen Arbeiten vorbereiten zu können. Bereits vor dem Baustart mussten die Menschen aus Erfahrungswerten oder Berechnungen gewusst haben, wo der Zugang und die Öffnung liegen mussten, denn die gewaltigen Steinmassen konnten ja nicht so lange umgeschichtet werden, bis sie zu einem bestimmten Sonnenstand passten.

Eingang des Ganggrabs Newgrange. In Front ein gewaltiger Felsbrocken mit Ornamenten. Dahinter der Eingang und darüber eine kleine quadratische Öffnung.
Zu den Besonderheiten des irischen Ganggrabs Newgrange gehört nicht nur die gewaltige Dimension, sondern auch die kleine Öffnung über dem Zugang. Durch diese strahlt die Sonne an mehreren Tagen um die Wintersonnenwende bei Sonnenaufgang für ca. 15 Minuten in den Gang und dann in die kreuzförmige Kammer. Der reich verzierte Felsbrocken vor dem Eingang war nach Meinung vieler Wissenschaftler ein Bollwerk zwischen den Lebenden und den Toten. (Bild: Ulsamer)

Die notwendigen astronomischen Kenntnisse wurden lange nur den sogenannten Hochkulturen in Ägypten oder in Mesopotamien zugeschrieben, und sie hatten für Historiker den Vorteil, dass sie schriftliche Zeugnisse hinterließen. Am Boyne können jedoch nicht nur einzelne Familien gelebt haben, denn diese hätten niemals die gewaltigen Erdarbeiten erledigen können – zusätzlich zur Nahrungsbeschaffung. Eine gesellschaftliche Struktur muss es erlaubt haben, eine größere Anzahl von Arbeitskräften zusammen zu holen, und diese müssen gemeinsam für ein Bauwerk geschuftet haben, das ihnen persönlich weder als Grab noch als Tempel dienen würde. Bei der damaligen niedrigen Lebenserwartung haben viele die Fertigstellung der Kultstätte nach 20- oder 30-jähriger Bauzeit nicht mehr erlebt. Den Zusammenhalt und die erforderliche Energie können nur religiöse oder kulturelle Vorstellungen hervorgebracht haben. Die zu leistenden Arbeiten waren mit einfachen Geräten zu bewerkstelligen: Die 79 Randsteine wiegen jeder zwischen zwei und fünf Tonnen und umfassen eine Gesamtlänge von 270 Metern. Die Autoren des Buches „Newgrange“, Geraldine und Matthew Stout*, gehen davon aus, dass diese Granitsteine mit insgesamt 300 Tonnen dem Gewicht des Gewölbes einer gotischen Kathedrale entsprechen. Sie mussten ebenso wie die Quarzbrocken an der Front der Konstruktion über 40 bis 70 km herantransportiert werden – mit Booten aus einem Weiden- oder Haselrutengeflecht, das mit Rinderhaut bespannt war. Wie auch bei Stonehenge gab es zur Entstehung von Newgrange die These, die Felsen wären mit Gletschern auf natürlichem Wege transportiert worden, doch diese gilt als widerlegt, denn an den Steinen gibt es keine der typischen Gletscherschrammen, die beim eiszeitlichen Geschiebeprozess zurückgeblieben wären. Daher bleiben nur die menschliche Muskelkraft, ergänzt durch die technischen Hilfsmittel jener Zeit oder Zugtiere als Erklärung für den Transport der tonnenschweren Steine – verbunden mit einem unbändigen Willen, dieses Bauwerk zu schaffen.

Tonnenschwerer Stein mit eingemeißelten Ornamenten.
Dieser Randstein (kerbstone K 52) an der Rückseite des Ganggrabes ermöglicht durch die in Stein gemeißelten Symbole einen Einblick in die künstlerischen Traditionen der irischen und bretonischen Jungsteinzeit. (Bild: Ulsamer)

Rund 1 000 Jahre wurde Newgrange für Zeremonien und als Observatorium genutzt, und in der Bronzezeit durch Holz- und Steinkreise ergänzt, die ebenfalls eine Beobachtung des Laufs der Sonne ermöglichten. Ab dem zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wurde es still in Newgrange, und das Ganggrab wurde erst 1699 ‚wiederentdeckt‘. Über die Jahrtausende waren Steine verschwunden oder umgefallen, doch die Grundstruktur blieb erhalten und wurde zwischen 1962 und 1975 von Professor M. J. O’Kelly und seinem Team vom Dubliner Trinity College ausgegraben und in Teilen rekonstruiert. Die besonders eindrucksvolle weiße Quarzfassade wurde aus aufgefundenen Steinen wieder aufgeschichtet – und bis heute streiten die Wissenschaftler über die Zulässigkeit dieses und anderer Eingriffe. Die Wiederherstellung von Teilen eines jahrtausendealten Bauwerks ist immer problematisch, doch halte ich sie für legitim, wenn vorsichtig mit den archäologischen Funden umgegangen wird. Dies scheint mir in Newgrange zuzutreffen, denn die 1993 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommene Grabanlage vermittelt heute gemeinsam mit dem Museum einen interessanten Einblick in das Leben der Menschen in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit.

Steine in Stonehenge: Manche wiegen bis zu 50 Tonnen. Querliegende Steine runden die stehenden Felsen ab.
Die Menschen der Jungsteinzeit haben Steine mit bis zu 50 Tonnen über 30 Kilometer nach Stonehenge herantransportiert und mit einfachsten technischen Mitteln aufgerichtet. Am Bau von Stonehenge und dazugehöriger Anlagen dürften tausende von Menschen beteiligt gewesen sein. (Bild: Ulsamer)

Stonehenge: Ein Steinkreis für Kult und Astronomie

Das steinerne Monument, das heute im englischen Süden noch immer jedes Jahr nicht nur selbsternannte Druiden, sondern hunderttausende von Besuchern anzieht, ist zwar etwas jünger als das irische Ganggrab Newgrange, doch Stonehenge hatte hölzerne Vorgänger und Wallanlagen, die bis 3 000 vor Christus zurückreichen. Um 2 500 vor unserer Zeitrechnung dürfte der heute noch sichtbare Steinkreis fertiggestellt worden sein. Die Monolithen, gewaltige Sandsteinblöcke mit bis zu 50 Tonnen Gewicht, beeindrucken auch in unserer technisierten Welt, denn staunend stellt man sich die Frage, wie die Menschen in der Jungsteinzeit diese Steine bewegen, punktgenau aufrichten und dann noch mit darauf querliegenden Steinen verbinden konnten? Bis heute gibt es experimentelle Archäologen, die versuchen, die logistischen und bautechnischen Fragen zu klären, doch noch immer bleibt vieles Spekulation. Die sogenannten Blausteine im Innern des Steinkreises wurden aus den Preseli Mountains in Wales herangeschafft, immerhin eine Strecke von rd. 300 km mit dem Auto. Die Erbauer von Stonehenge hatten es natürlich schwerer mit den 80 ‚Bluestones‘, die immerhin bis zu 4 Tonnen pro Stück auf die Waage brachten: Vermutlich wurden sie über Baumstämme gerollt und auf Schlitten bis zur walisischen Küste transportiert, um sie dann in der Gegend um den heutigen Fährhafen Milford Haven auf Flöße, Lastkähne oder Boote zu laden, danach an der Küste entlang und den Avon hinauf zu schippern. Anschließend ging es über Land zum River Wylye bis ins heutige Salisbury, nochmals über den Salisbury Avon, und schließlich musste noch der Weg von West Amesbury nach Stonehenge geschafft werden. Bei diesen Strapazen wird – wie in Newgrange – überdeutlich, dass die beteiligten Menschen eine immense innere Motivation anspornte, die auf religiösen oder kulturellen Inspirationen fußte. Die weit größeren Sarsensteine des äußeren Rings mussten zwar nur gut 30 Kilometer von den Marlborough Downs zum ‚Bauplatz‘ geschleppt werden, und an steileren Passagen waren 500 bis 1 000 Personen notwendig, um einen 50-Tonnen-Giganten voran zu bringen. Zwar wissen wir bis heute nicht, wer die Steinstrukturen in Stonehenge schuf, doch für solche Arbeiten müssen Menschen aus einer weiten Umgebung zusammengekommen sein, was ebenfalls auf eine gesellschaftliche Struktur hindeutet, die über einzelne Familiengruppen oder kleine Stämme definitiv hinausgeht.

Eine schwarze Krähe mit offenem Schnabel auf einem hellen Stein in Stonehenge.
Wenn der Ruf der Krähe erschallt, wenn Nieselregen oder Nebel die Szene bestimmen, dann kann man sich in die mystischen Zeiten zurückdenken, als Stonehenge eine Kultstätte war. (Bild: Ulsamer)

Wenn tausende von Menschen in der Bauphase und bei späteren kulturellen Festen zusammenkamen, dann mussten diese natürlich versorgt werden. Hier gibt eine Untersuchung in „Antiquity“ von Oliver E. Craig** u.a. mit dem Titel ‚Feeding Stonehenge: cuisine and consumption at the Late Neolithic site of Durrington Walls‘ tiefere Einblicke. Durrington Walls liegt in unmittelbarer Nähe des Steinkreises Stonehenge, und die Ausgrabungen deuten darauf hin, dass dort die beim Bau mitwirkenden Menschen bzw. Festteilnehmer lebten. Im Vordergrund der Ernährung standen Schweine, in kleinerem Maße Rinder. Interessant ist die Tatsache, dass die Tiere nach Stonehenge getrieben wurden, denn es fanden sich vollständige Skelette. Anders gelagert war dies z. B. um 1500 vor Christus in Hallstatt, heute Oberösterreich, denn dort wurden mit dem gewonnenen Salz Teile der Schweine gepökelt und dann mit anderen Regionen gehandelt. Die gemeinsamen Feste und jungsteinzeitliche Barbecues in Stonehenge unterstreichen, dass es sich beim Bau nicht – wie in Ägypten – um eingesetzte Sklaven oder Zwangsarbeiter gehandelt hat. Das gemeinschaftliche Essen dürfte zum Zusammenhalt der Menschen beigetragen haben, die aus unterschiedlichen Regionen Britanniens herbeiströmten – und teilweise auch ihre Tiere mitgebracht haben.

Ein aufrecht stehender Stein, umgeben von kleineren Felsen auf einer Grasfläche.
Die sogenannten Bluestones – die kleineren Steine im Inneren des Monuments – stammen aus den Preseli Hills in Wales und könnten dort bereits Teil eines Steinkreises gewesen sein. Als die Menschen nach England wanderten, transportierten sie diese Bluestones nach Stonehenge. Mit dem Auto sind es vom walisischen ‚Steinbruch‘ bis Stonehenge etwa 300 km, doch die Erbauer von Stonehenge hatten über Flüsse, Meer und Land eine deutlich längere Strecke zu bewältigen, und dies mit den technischen Mitteln der Jungsteinzeit. (Bild: Ulsamer)

Die Ausrichtung von Stonehenge lässt – wie Newgrange – den Schluss zu, dass die Erbauer sehr genau über den Lauf der Sonne Bescheid wussten. Die Aufstellung der Steine in Stonehenge lässt die Sommersonnenwende und den Termin der Tag- und Nachtgleiche präzise erkennen. Einer Gesellschaft, die sich in der Jungsteinzeit von der Jagd verstärkt auf den Anbau von Getreide und die Viehzucht konzentrierte, musste daran gelegen sein, den Verlauf der Jahreszeiten bestmöglich zu kennen. Stonehenge und Newgrange gehören jeweils zu einem weitläufigen Areal mit weiteren Wallanlagen und Gräbern. Früher liehen sich Besucher beim örtlichen Schmied noch einen Hammer, um sich ein Stück aus Stonehenge mit nach Hause nehmen zu können, und so war es für den Erhalt des Denkmals zwingend, dass 1902 ein Zaun gezogen und der Zutritt organisiert wurde. Zum UNESCO-Welterbe gehört Stonehenge seit 1986. Am Rande möchte ich erwähnen, dass vermutlich nicht nur aus ganz Britannien bereits am Ende der Jungsteinzeit Teilnehmer für die kulturellen Feste nach Stonehenge zogen, sondern auch der Austausch innerhalb Europas weiter gediehen war als lange angenommen wurde. Nur fünf Kilometer von Stonehenge entfernt wurde 2002 in Amesbury ein Grab entdeckt, das zahlreiche Grabbeigaben enthielt. Besonders bedeutsam war jedoch das aufgefundene Skelett eines Mannes, der mit 35 bis 45 Jahren gestorben war. Der ‚Amesbury Archer‘ (Der Bogenschütze von Amesbury) stammte nach Analysen seines Zahnschmelzes aus der Alpenregion – Schweiz, Österreich oder Südtirol. Und die Bestattung fand nach der Radiokarbondatierung zwischen 2 380 und 2290 statt. Es liegt daher nahe, dass ihn Stonehenge in die Region von Wessex geführt hat. Vielleicht hat er auch neue Techniken zur Metallverarbeitung am Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit mit nach Britannien gebracht. Die großartige Steinstruktur in Stonehenge hat die Jahrtausende überdauert und ist ein Zeichen für die Schaffenskraft unserer Vorfahren.

Die Himmelsscheibe von Nebra. Die Bronzescheibe ist grün, darauf als Goldblech die runde Sonne, der Mond, Sterne, eine Barke und ein Horizontbogen.
Die Himmelsscheibe von Nebra, geschmiedet zwischen 1800 und 1750 v.Chr., wurde verschiedentlich während ihrer Nutzung in der Bronzezeit umgearbeitet. Zuerst wies die Bronzescheibe nur astronomische Objekte wie Sonne, Mond und Sterne auf, die es erlaubten, das Sonnen- und Mondjahr in Einklang zu bringen. Später kamen links (fehlt) und rechts Horizontbögen hinzu, deren Enden die Auf- und Untergänge der Sonne zum Termin der Sonnenwenden festhalten. Die Sonnenbarke im unteren Bereich wurde ebenfalls später angebracht. (Bild: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, J. Lipták)

Die Himmelsscheibe von Nebra – der ‚geschmiedete Himmel‘

Stonehenge und Newgrange überstanden die Jahrtausende unter den Augen der jeweiligen Anwohner, die sich jedoch lange Zeit keine Gedanken über das imposante steinerne Monument oder den gewaltigen Erdhügel machten. Ganz anders erging es der Himmelsscheibe, die im Sommer 1999 von zwei Raubgräbern auf dem Mittelberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt gefunden wurde. Bereits um 1 600 vor Christus war die beeindruckende Bronzescheibe mit der frühesten astronomischen Darstellung von Sonne, Mond und den Plejaden gemeinsam mit zwei Schwertern vergraben worden, vermutlich am Ende der Aunjetitz-Kultur. Wer sich für die Details der Fundgeschichte, die jedem Kriminalroman Ehre machen würde, und die wissenschaftlichen Hintergründe interessiert, dem möchte ich das höchst lesenswerte Buch ‘Die Himmelscheibe von Nebra’ ans Herz legen. Professor Harald Meller***, Direktor des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, und der Wissenschaftsjournalist Kai Michel haben aus der ‚Himmelsscheibe‘ heraus eine Theorie entwickelt, die im heutigen Mitteleuropa eine Kultur verortet, die nicht nur über die künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten verfügte, diese Himmelsdarstellung zu schaffen, sondern auch eine differenzierte Sozial- und Herrschaftsstruktur ausgebildet hatte. Der wissenschaftliche Diskurs hält bis heute an: ob Professor Meller hier nicht zu phantasievoll die Himmelsscheibe und andere Artefakte aus der Bronzezeit interpretiert? Wenn wir Stonehenge und Newgrange in die Überlegungen mit einbeziehen, dann bin ich sehr wohl der Überzeugung, dass diese Bauwerke und die Himmelscheibe nicht aus Gesellschaften stammen können, in denen Familienverbände oder kleine Stämme ohne übergreifende Strukturen lebten.

Blick auf eine Landschaft: Vorne einzelne verdorrte Kräuter, dann Wiese und Wald. Im Wald ein Turm, der kaum zu sehen ist.
Von der ‚Arche Nebra‘, dem Ausstellungszentrum zur Himmelscheibe, hat man einen guten Blick auf den Mittelberg. Dort erlaubt es ein Aussichtsturm bei der Fundstelle der Himmelsscheibe, die Sichtachsen nachzuvollziehen, die in der Bronzezeit auf dem damals unbewaldeten Berg bestanden. Die Sonne geht zur Sommersonnenwende um den 21. Juni hinter dem Brocken und am 1. Mai hinter dem Kyffhäuser unter. „Berg und Scheibe passen bestens zusammen“, so Meller/Michel. Dies ist ein wichtiger Beleg dafür, dass die Himmelsscheibe in der Region des Fundorts entstanden sein muss. (Bild: Ulsamer)

Doch nun nochmals zurück zum eigentlichen Fundgegenstand. Die Himmelscheibe – mit immerhin einem Gewicht von 2 kg und einem Durchmesser von 32 cm – hat in der Bronzezeit verschiedene Überarbeitungen erlebt, und hat sich so von einem reinen „Kalendarium für das bäuerliche Jahr“, das auf der Beobachtung der Gestirne basiert, zu einem Kultinstrument entwickelt, das auch als Zeichen der Herrschaft dienen konnte. Bei der Darstellung des Himmels – Sonne, Mond, Plejaden – stehen die rationalen Momente im Vordergrund, es geht nicht um eine mythische Darstellung. Die künstlerische Qualität gerade der mit Goldblech eingearbeiteten Symbole ist überaus bemerkenswert, doch die Details stehen für wissenschaftliche Zwecke: Die Dicke des Mondes ist somit kein Zufall, was auch für seine Stellung zu den Plejaden und der Zahl der Sterne gilt, sondern von großer Bedeutung, denn sie stehen für einen bestimmten Zeitraum. Das Mond- und Sonnenjahr sollten in Einklang gebracht werden, ein Problem, das sich allen Kalendermachern stellt. Ob die notwendigen langjährigen Mondbeobachtungen als Grundlage der Arbeit in Mitteleuropa alleine erbracht werden konnten – denn für Aufzeichnungen fehlte die Schrift! – oder Wissen aus Mesopotamien hinzukam, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Da aber eine schriftliche Niederlegung des Wissens über Sonne, Mond und Sterne nicht möglich war, dürfte eine präzis gearbeitete Himmelsscheibe der Ausweg gewesen sein, um die Kenntnisse zu tradieren. 2013 wurde die Himmelscheibe ins UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen.

Die Himmelsscheibe von Nebra, zwei Schwerter und weitere Gegenstände.
Vor ca. 3 600 Jahren wurden die Himmelscheibe, zwei Schwerter und weitere Gegenstände auf dem Mittelberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt der Erde übergeben. Raubgräber entdeckten den Hort im Sommer 1999 und versuchten die Artefakte zu Geld zu machen. Professor Harald Meller, Direktor des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, konnte die Himmelsscheibe mit Hilfe der deutschen und Schweizer Polizei in Zürich retten und der Öffentlichkeit zugänglich machen. (Bild: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, J. Lipták)

Die Himmelscheibe lässt Rückschlüsse auf Handelsbeziehungen in der Bronzezeit zu: Das für die Himmelsscheibe verwandte Kupfer kam aus der Alpenregion, Zinn und Gold stammen aus Cornwall. Mit Hilfe der Isotopenanalyse ließ sich sogar das Flüsschen Carnon als ‚Goldquelle‘ bestimmen. Auf diesen Zusammenhang bin ich bereits in meinem Blog-Beitrag ‚Cornwall: Die Burgen des Zinnzeitalters. Vom Industriestandort zum Eldorado für Touristen‘ eingegangen. Der Handel florierte in der Bronzezeit über weite Distanzen, und die Lage des heutigen Sachsen-Anhalts in der Mitte Europas könnte vermutlich ein Beleg dafür sein, dass die Aunjetitz-Kultur nicht nur über gute Ackerböden, sondern auch über Einnahmen aus Handelsverbindungen verfügte. Wie auch immer: Die Himmelsscheibe ist ein kunsthandwerkliches Meisterstück eines Schmieds aus der Bronzezeit, und das in ihr ‚gespeicherte‘ Wissen legt die Vermutung nahe, dass selbst in einer schriftlosen Gesellschaft enorme Kenntnisse über den Lauf von Sonne und Mond entstehen und gesammelt werden konnten. Vergraben wurde die Himmelscheibe wohl nicht, um sie vor feindlichen Angriffen zu schützen, sondern als Opfergabe an die Götter, die die Menschen der Aunjetitzer Kultur in schwierigen Zeiten wieder für sich gewinnen wollten.

Ein geschotterter Weg führt direkt auf ein Tor in einer Holzpalisade zu. Im Hintergrund sieht man, dass auch dort Holzstämme in den Boden gerammt wurden.
Bei Erkundungsflügen wurde die Kreisgrabenanlage von Goseck in Sachsen-Anhalt 1991 entdeckt und ausgegraben. Die heutige Rekonstruktion vermittelt einen guten Eindruck von dem vor rd.      6900 Jahren entstandenen Bauwerk, das vermutlich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Bestimmung der Winter- und Sommersonnenwende diente. Für kultische Feiern ebenso wie für die bäuerliche Arbeit war es wichtig, gerade auch die Wintersonnenwende zu kennen. (Bild: Ulsamer)

Die europäische Vor- und Frühgeschichte aufarbeiten

Unseren Vorfahren war – auch in fernen Zeiträumen – daran gelegen, den ‚Himmel‘ zu verstehen, und dies nicht nur in religiöser Hinsicht. Wer über den Lauf von Sonne, Mond und Sternen Bescheid wusste, der konnte in einer bäuerlichen Gesellschaft den richtigen Aussaattermin besser bestimmen, aber auch rituelle Zeremonien konnten auf den ‚richtigen‘ Tag gelegt werden, Menschen überregional zu Festen oder Baumaßnahmen zusammenkommen. Und in späteren Kulturen sandten die Herrschenden immer zum gleichen Termin die Steuereintreiber ins Land. „Das Geheimnis des Himmels, der verborgene Rhythmus von Mond und Sonne: das war die Weltformel der Bronzezeit“, so Meller/Michel in ihrem erwähnten Buch zur Himmelsscheibe. Ganz praktische Hilfestellung konnte die Berechnung des Laufs der Sonne geben, dies belegen nicht nur Newgrange, Stonehenge oder die Himmelsscheibe, sondern auch andere noch frühere ‚Observatorien‘ wie die Kreisgrabenanlage in Goseck, unweit von Nebra, ebenfalls in Sachsen-Anhalt. Die Zugangstore waren in Goseck so ausgerichtet worden, dass sich die Winter- und Sommersonnenwende relativ präzise ‚ablesen‘ ließen – und dies vor fast 7 000 Jahren! Das Sonnenobservatorium von Goseck gilt daher als das älteste der Welt!

Blick in einen Museumsraum im Besucherzentrum für Newgrange. Ein Felsbrocken liegt auf Holzstämmen.
Bis heute bleibt es Spekulation, wie die tonnenschweren Steine für Newgrange und Stonehenge transportiert wurden. Die experimentelle Archäologie legt den Schluss nahe, dass die Steine über Baumstämme gerollt, mit Schlitten gezogen und – wo immer möglich – mit Booten und Flößen über das Meer oder Flüsse transportiert wurden. Das Besucherzentrum Brú Na Bóinne vermittelt einen ausgezeichneten Einblick in das jungsteinzeitliche Leben und ist Ausgangspunkt für die Besichtigung der Grabanlagen Newgrange, Knowth und Dowth. (Bild: Ulsamer)

Viele Fragen sind in Stonehenge oder Newgrange, bei der Himmelscheibe oder in Goseck bis heute offen, und so manche Hypothese wird sich nie belegen lassen. Dies ist mit auf das Fehlen schriftlicher Aufzeichnungen zurückzuführen, aber auch auf das relativ geringe Interesse an Steinzeit und Bronzezeit in Europa, gab es doch am Nil, an Euphrat und Tigris noch so viel auszugraben. „Was wissen wir nicht alles über Mesopotamien oder Ägypten – unsere eigene Vergangenheit ist uns dagegen gänzlich unbekannt“, schreiben Meller und Michel. Und sie fahren fort: „Dass das prähistorische Europa so lange eine terra incognita war, liegt vor allem am Fehlen schriftlicher Quellen.“ Hier würde ich mir ein Umdenken wünschen, gerade auch vor dem Hintergrund, dass die europäischen Staaten über Jahrhunderte Raubkunst aus aller Herren Länder auf den eigenen Kontinent verschleppten. Wenn sich durch die Rückgabe des Beuteguts freie Räume nicht nur in Museen, sondern auch in den wissenschaftlichen Agenden finden, dann wäre es schön, die eigene Geschichte im umfassenden Sinne aufzuarbeiten und dies aus einem interkulturellen Blickwinkel. Es geht nicht um Newgrange oder die Pyramiden, Stonehenge oder Maya-Tempel, die Himmelsscheibe oder frühe astronomische Arbeiten wo auch immer, sondern um das kulturübergreifende Zusammenführen der Erkenntnisse. Für mich passt zu einer solchen Neuorientierung allerdings der Neubau des Berliner Stadtschlosses nicht, denn dort werden im Humboldt Forum wieder Kunstgegenstände aus aller Welt mit einer höchst fragwürdigen Provenienz im Mittelpunkt stehen.

In Stonehenge oder Newgrange und bei der Himmelsscheibe konnten bereits viele Geheimnisse entschlüsselt werden, doch es gibt noch weitere Rätsel zu lösen. Einen Besuch – in Nach-Corona-Tagen – lohnen alle drei Wunder der Jungsteinzeit bzw. Bronzezeit.

 

 

Literaturhinweise

* Geraldine und Matthew Stout: Newgrange, Cork University Press, Cork, reprinted 2016

**Oliver E. Craig, Lisa-Marie Shillito, Umberto Albarella u.a.: Feeding Stonehenge: cuisine and consumption at the Late Neolithic site of Durrington Walls, Cambridge University Press, online, 2015

***Harald Meller, Kai Michel: Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas, Propyläen, Berlin 2018

 

Stonehenge: Besucher können zwischen den Steinen umhergehen. Aufgenommen 1969.
Noch 1969 konnten die Besucher innerhalb des Steinkreises herumlaufen, zum Glück zumindest ohne Hammer wie es noch im 19. Jahrhundert nicht unüblich war! Die Zunahme der Touristen lässt dies heute nur noch bei Sonderführungen zu, doch Stonehenge ermöglicht trotzdem einen eindrucksvollen Blick in die Jungsteinzeit. (Bild: Ulsamer)

 

Stonehenge 2004: PkW und Busse parken fast bis ans Monument.
So sah es in Stonehenge noch 2004 aus: Ein Parkplatz dominierte die UNESCO-Welterbestätte. Das heutige Besucherzentrum ist dagegen so weit vom Steinkreis entfernt, dass es in keiner Weise als störend empfunden wird. Und der Besucher kann sich nun zu Fuß langsam dem historischen Monument nähern – wie dies jetzt auch am französischen Mont-Saint-Michel möglich ist. Bei der Lenkung der Touristenströme hat sich viel zum Besseren verändert. (Bild: Ulsamer)

 

Der Steinkreis Stonehenge. Querliegende Steine auf hohen Steinen. Im Vordergrund grünen Wiese mit Mohnblumen.
4 500 Jahre ist der bis heute erhalten gebliebene Steinkreis alt: Und Stonehenge hat seine Anziehungskraft auf die modernen Menschen behalten. Stonehenge ist fürwahr ein magischer Ort. Und die neue Gestaltung des Areals – hier von 2015 – hat dem Steinkreis seine Würde zurückgegeben. (Bild: Ulsamer)

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