Ein Tag mit der Chaos-Bahn
Trotz meiner jahrzehntelangen überwiegend negativen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn machten wir uns mit unseren Enkelkindern zu einem Ausflug auf, bei dem die DB nicht nur als Transportmittel eine Rolle spielen sollte. Wir wollten gemeinsam die kurz vor Weihnachten 2022 eingeweihte Schnellbahntrasse mit einem ICE befahren, die zwischen Wendlingen (nach Fertigstellung ab Stuttgart) und Ulm in Baden-Württemberg derzeit über 37 Brücken und durch 12 Tunnel führt. Doch um den Unterschied ‚erfahrbar‘ zu machen, benutzten wir zunächst die ‚alte‘ Trasse über die Geislinger Steige. Frohen Mutes machten wir uns vom wenig einladenden Bahnhof in Esslingen auf nach Ulm, vom Neckar an die Donau, um dort den historischen Spuren von der Steinzeit über das Mittelalter bis in die Neuzeit zu folgen. Da hätten wir noch nicht gedacht, welche Irrungen und Wirrungen die Bahn für uns auf einer gerade mal 63 Kilometer langen Strecke vorbereitet hatte!
Die DB weiß nicht, wo ihre Züge abfahren
Kaum am Bahnhof in Esslingen angekommen, traf ich eine ältere, stark sehbehinderte Frau, die seit fast zwei Stunden auf ihren Zug wartete, der sie zur Augenklinik an der Universität Tübingen bringen sollte. Angesichts dieses Jammers wurde mir wie bei so vielen vorhergehenden Bahnreisen schon mal richtig mulmig, doch in unserem Fall war die DB nur ein Teil des Problems: Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) versuchte an diesem Morgen erneut, die Südwestdeutsche Landesverkehrsgesellschaft (SWEG) zu einem Tarifangebot zu zwingen. Claus Weselsky und seine Lokführer setzten wieder auf Guerillataktik: Ohne Vorankündigung wird gestreikt, gerne fahren Züge zwar los, enden aber an irgendeinem Bahnhof! Wenn sich eine solche Vorgehensweise durchsetzen sollte, dann gute Nacht Deutschland. Glücklicherweise waren unsere Tübinger Enkelkinder vorsichtshalber bereits am Vortag ‘angereist’.
Doch jetzt zurück zur Deutschen Bahn: Brav hatten wir uns auf dem angegebenen Bahnsteig 5 eingefunden, wo wir nicht allein waren. So soll es ja auch sein. Plötzlich quäkte es aus dem Lautsprecher: Heute fahre der Regionalzug auf Gleis 8 ein. Nun gut, der Bahnhof in Esslingen ist recht übersichtlich, daher gings mit geschwinden oder langsameren Schritten auf den nächsten Bahnsteig. Für alle, die schlecht hören, aber gut lesen können, erreichte mich auch noch eine Mail mit dem „geänderten Abfahrtsgleis“. So warteten wir am Gleis 8, als ein Mitreisender am ursprünglich genannten Bahnsteig einen Regionalzug einfahren sah – mit dem Ziel Ulm. Schnell setzte sich die Erkenntnis in der wartenden Menge durch, dass die Bahn wohl nicht wisse, wo ihre Züge einfahren. Jung und Alt machten sich nun eilends auf – zurück zu Gleis 5. Um es kurz zu machen: selbst potenzielle Passagiere der jüngeren Altersgruppen schafften es nicht mehr rechtzeitig, und unser RE 5 entschwebte vor unser aller Augen. Eine Alternative ließ sich finden, ein Bummelzug von Go-Ahead, der an allen nachfolgenden Bahnhöfen stoppen würde, fand sich im Fahrplan. Da war sie wieder, die schnarrende Stimme, die über Lautsprecher verkündete, dieser Metropolexpress würde uns heute am Gleis 8 abholen. Zweifelnde Blicke allüberall, doch die Hoffnung stirbt zuletzt, also nochmals die zahlreichen Treppen runter und wieder rauf. Und nun: wir wollten es kaum glauben, der ‚MEX‘ fuhr ein, allerdings wieder auf Gleis 5. Einmal mehr legten alle – soweit möglich – wiederum an Tempo zu, und die Jüngeren blieben auf Bitten der nicht mehr so fußstarken Mitreisenden in der Tür des Zuges stehen, um auch älteren Menschen mit Stock noch eine Chance zur Mitfahrt zu eröffnen. Darauf erklang wieder eine Stimme, man solle die Türen freigeben. So ist das mit dem Kundenservice bei der Bahn: Fahrgäste in die Irre schicken und dann noch meckern!
Kostenlose Geografiestunde in der Bimmelbahn
Endlich im Zug, begann für viele Mitreisende die Suche nach neuen Anschlussmöglichkeiten. Ein freundlicher Zugbegleiter half nach Kräften, doch im Grunde zeichneten sich für viele Fahrgäste lange Wartezeiten ab. Wer mit der Bahn unterwegs ist, der ist eben selbst schuld, dies scheint das Credo beim DB-Vorstand zu lauten. Wir hatten Glück und kamen lediglich eine halbe Stunde verspätet an. Für unsere Enkel begann eine unerwartete Lehrstunde in Geografie und Landeskunde, denn wer weiß schon, wo Salach, Urspring oder Beimerstetten liegen. Nur schade, dass in Süßen keine Schokolade gereicht wurde, und in Kuchen gingen wir auch leer aus. Aber Hauptsache, Ulm hatten wir trotz des Unvermögens der Deutschen Bahn nach einigen Trimm-Dich-Einheiten erreicht! Das Ulmer Münster, das Gotteshaus mit dem höchsten Kirchturm der Welt, entschädigte für die holprige Anreise. 1890 erreichte der Kirchturm seine endgültige Höhe von 161,53 Metern. Und gut, dass diese Kirche seit dem Mittelalter – von den Bürgern seinerzeit finanziert – von fähigen Baumeistern und Handwerkern errichtet wurde und bis heute erhalten wird. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wenn die Deutsche Bahn dafür zuständig gewesen wäre! Vermutlich würde dann immer noch am Fundament gewerkelt!
Schon vor 40 000 Jahren waren Menschen auf der Schwäbischen Alb künstlerisch tätig: Ein Musterbeispiel für ihr Schaffen ist der Löwenmensch, der im Museum Ulm einem breiten Publikum präsentiert wird. Die 30 cm hohe Skulptur aus Mammutelfenbein hat mit dazu beigetragen, dass sechs Fundhöhlen von Eiszeitkunst zusammen zum UNESCO-Welterbe gehören: die Vogelherdhöhle, die Hohlenstein-Stadel-Höhle und die Bocksteinhöhle im Lonetal sowie Geißenklösterle, Hohle Fels und Sirgensteinhöhle im Achtal. Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie in meinem Blog-Beitrag ‚Eiszeitkunst: Geschichts- und konzeptionslose Landesregierung. Baden-Württemberg ohne Gesamtstrategie für UNESCO-Welterbestätten‘. Nach einem Abstecher zum 2020 errichteten Berblinger Turm, der sich kühn mit einer Neigung von 10 Grad an der Donau erhebt und an den fehlgeschlagenen Flugversuch des „Schneiders von Ulm“ erinnert, sowie einer Stärkung ging’s zurück zum Bahnhof. Wir bestiegen den ICE 914 und erwarteten voller Spannung die Fahrt über die neue Schnellbahntrasse zurück nach Stuttgart. Geschichte und Gegenwart wollten wir bahntechnisch bei unserem Ausflug verbinden, denn die Geislinger Steige, über welche wir bei der Fahrt nach Ulm auf knapp sechs Kilometern 112 Höhenmeter überwanden, wurde bereits 1850 fertiggestellt. Nun sollte uns der ICE deutlich zügiger über die mit 85 Metern Höhe dritthöchste Eisenbahnbrücke Deutschlands nach Stuttgart bringen – leider Fehlanzeige! Zurück ging es wieder über die alte Strecke! Die Zugfahrt dauerte somit erheblich länger und die Anschlussverbindung nach Esslingen war weg. Aber die Bahn verschickt natürlich eine Mail, weil wieder nichts funktionierte: „Anschluss nicht erreichbar“! Na, ganz toll: erst eine andere Strecke fahren und dadurch natürlich zu spät ankommen. Und schon die nächste Mail: „Reparatur am Zug“. Das ist allerdings keine Erklärung dafür, warum der ICE die falsche Route nahm. Misstrauisch hatte mich am Morgen bereits die Nachricht gemacht, dass die Staatsanwaltschaft einem Betrugsverdacht nachgehe gegen am Bau der Filstalbrücke beteiligte Firmen. Diese sollen zu viel Geld für Material und Personal abgerechnet haben. Puuh – zumindest haben sie wohl nicht an Beton und Stahl gespart! Hoffentlich! Aber warum sind wir dann nicht über die neue Talbrücke gefahren?
Überkommene Strukturen aufbrechen
Glücklich ist, wer mit einem verspäteten ICE in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart überhaupt eintrifft und nur noch wenige Kilometer bis nach Esslingen zurücklegen muss. Dort findet sich fast immer eine S- oder Regionalbahn, selbst wenn der geplante Zug längst abgedampft ist. Und so war es auch bei uns, nachdem wir durch den im Umbau befindlichen Stuttgarter Hauptbahnhof geeilt waren, der sich als Tiefbahnhof Stuttgart 21 seiner Fertigstellung nähert. Die Bauarbeiten hatten 2010 begonnen und umfassen den neuen Tiefbahnhof und die Schnellbahntrasse, die im Gegensatz zum Bahnhof inzwischen fertiggestellt ist und von Wendlingen bis Ulm befahren wird. Allerdings leider ohne uns. „Projekte wie die Strecke zwischen Wendlingen und Ulm sind entscheidend, weil sie zeigen, dass die Eisenbahn mehr als konkurrenzfähig ist und dadurch Menschen überzeugen können, dauerhaft auf die Schiene umzusteigen“, so der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Richard Lutz. Dann sollte die Bahn ihre Kunden aber auch über diese Strecke fahren lassen! Ob bei unseren Enkeln zwischen 9 und 15 Jahren unser kleiner Ausflug eine nachdrückliche Werbung pro Bahn für die nächste Urlaubsreise war, bezweifle ich. Trotz allem: Ich bin ein Befürworter des Ausbaus der Bahninfrastruktur, und darin schließe ich auch Stuttgart 21 mit ein. Bereits vor Baubeginn hätte bei Architektur und Planung darauf geachtet werden müssen, dass die Realisierung nicht 15 Jahre oder mehr benötigt. Nach der Volksabstimmung von 2011, die im ganzen Land, sogar in Stuttgart selbst, zugunsten des Bahnprojekts ausging, engagierte sich der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann durchaus für Stuttgart 21, doch einige Ewiggestrige besetzen noch heute ihr Protestzelt und fordern eine Umwidmung der Tunnel und des Tiefbahnhofs. Bei den Gegnern des Projekts und den Verantwortlichen der Deutschen Bahn gibt es wohl durchaus ähnliche Einstellungen: Die Realität und das Machbare geraten aus dem Blick.
Ein Tag mit der Deutschen Bahn eröffnet den Blick ins Chaos! Ich möchte mir wirklich nicht vorstellen, was in der Automobilindustrie passieren würde – wo ich lange tätig war -, wenn dort genauso wie bei der Bahn gearbeitet würde. Komplette Fahrzeuge würden wohl nur selten zum richtigen Zeitpunkt vom Band laufen. Vermutlich hätten Carl Benz und Gottlieb Daimler das Auto noch nicht einmal erfunden, wenn sie im Auftrag der DB tätig gewesen wären. Ich bin mir bewusst, was es heißt, ein bundesweites Netz am Laufen zu halten. Aber leider hat sich die Lage in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert. Dies liegt am zögerlichen Ausbau der Bahninfrastruktur, und dafür tragen gerade auch die Bundesregierungen eine maßgebliche Schuld. Es werden jedoch nicht einmal relativ einfache Verkehre gemeistert, was unser überschaubares Vorhaben gezeigt hat. 2021 kamen nur 75,2 % der Fernzüge der Deutschen Bahn pünktlich ins Ziel. Im November 2022 waren es nach Angaben der DB nur noch 61,1 %.
Es ist mir rätselhaft, wie es mit der jetzigen Organisations- und Infrastruktur gelingen soll, deutlich mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, sowohl beim Personen- wie beim Güterverkehr. Wettbewerb belebt das Geschäft, so heißt es, aber dies trifft nur zu, wenn technologisch und wirtschaftlich leistungsfähige Unternehmen einsteigen. So mancher auch von der Politik gepuschte Konkurrent hat schnell wieder aufgegeben. Daher bleibt im Grunde nur ein Wandel der Kultur und Organisation bei der Deutschen Bahn. Ob der jetzige Vorstand und der Aufsichtsrat richtig besetzt sind, das wage ich nach der kürzlichen Performance zu bezweifeln. Die politischen Mandatsträger und Gewerkschaftsvertreter (einschließlich der Betriebsräte) dominieren den Aufsichtsrat, dem es nicht gelungen ist, den Vorstand so zu besetzen, dass vollmundige Strategien auch in praktisches Handeln umgesetzt werden. Wenn es bei einem Unternehmen partout nicht gelingt, den Kunden planmäßig ans Ziel zu bringen, dann müssen Strukturen und Personal verändert werden! Die Deutsche Bahn – genauso wie die Bundeswehr – brauchen mehr Geld für die Infrastruktur, dies verbindet beide Organisationen, und was beiden fehlt, sind zukunftsfähige Entscheidungsstrukturen. Die Inkompetenz auf Schienen muss entschlossenem Handeln, der Bereitschaft zur Innovation und mehr Kundenfreundlichkeit weichen. Ansonsten enden die Chaos-Tage bei der Deutschen Bahn nie!
Eine Antwort auf „DB: Inkompetenz auf Schienen“